Archiv


Raus aus der EU

In Großbritannien war die Europaskepsis schon immer besonders groß. Dass nun Abgeordnete der Tories aber offen ein Referendum über den britischen Verbleib in der EU fordern - das ist neu. Chancen auf Erfolg hat der Vorstoß kaum.

Von Martin Alioth |
    Es geht um nichts und es geht um alles. Der Antrag, über den heute debattiert wird, fordert eine britische Volksabstimmung. Entweder über den weiteren Verbleib in der Europäischen Union oder über eine grundsätzliche Neuordnung der Kompetenzen zwischen Brüssel und London, also um eine Verwässerung der Mitgliedschaft. Der Antrag hat kaum Chancen auf eine Mehrheit, da alle drei großen Fraktionen ihren Mitgliedern zwingend die Ablehnung vorschreiben. Und selbst wenn das Parlament ein Referendum wünschte, bliebe dieser Wunsch unverbindlich. Warum also die ganze trotzige Übung? Der konservative Abgeordnete Douglas Carswell ist einer der Initianten.

    Nicht er habe das ausgelöst, sondern die Bürger, jene Zehntausende, die eine entsprechende Petition im Internet unterschrieben. Die Konservativen haben also die schlummernde Basis entdeckt, obwohl die parlamentarische Monarchie das Volk eigentlich nur in Ausnahmefällen befragt. Das letzte Europa-Referendum fand vor 36 Jahren statt. Doch die Berufung auf demokratische Erfordernisse ist beim Thema Europa häufig. Steward Jackson, ein anderer konservativer Abgeordneter, will sogar sein subalternes Regierungsamt aufgeben, um dem Fraktionszwang zu trotzen.

    Seine Wähler erlegten ihm einen anderen Fraktionszwang auf: Volkes Stimme solle erhört werden. Spannend wird heute Abend also nicht so sehr das Endresultat der Abstimmung, sondern das Ausmaß der konservativen Rebellion. Jackson trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: Die Europapolitik sei für zahlreiche Konservative wie ein Totem, eine philosophische, ja existenzielle Frage nach Selbstständigkeit.

    Das Bild des Totempfahls mit seinen mystischen und schamanischen Untertönen ist treffend. Man könnte auch sagen: Die Tories können es nicht lassen, am Schorf einer nie verheilten Wunde zu kratzen. Vor 20 Jahren zerfleischte sich die Partei über Europa, vor zehn Jahren führte William Hague, der heutige Außenminister, einen katastrophalen Wahlkampf unter dem Motto "Rettet das Pfund".

    Die heutige Führungsriege um Premierminister David Cameron hat die toxischen Qualitäten dieses Themas begriffen und es bisher weiträumig umfahren. Nicht weil sie pro-europäisch gesinnt wäre, sondern weil sie sich der normativen Kraft des Faktischen beugt. Cameron drückte dies letzte Woche im Unterhaus aus. Er teile ja die weit verbreitete Verärgerung über die EU, ihre Kosten, ihre Bürokratie. Seine Partei wolle gewisse Kompetenzen von Brüssel nach London repatriieren und habe bei jedem neuen Vertrag ein Referendum versprochen, aber eine Volksabstimmung aus heiterem Himmel sei nicht angebracht, daher werde er gegen den Antrag stimmen.

    Mitnichten also ein europäisches Glaubensbekenntnis, eher ein taktisch motivierter, zeitweiliger Verzicht. Selbst Camerons liberaldemokratische Koalitionspartner, die letzten überzeugten Europäer Englands, argumentieren taktisch. Hier der Vize-Premier, Nick Clegg: Jetzt sei nicht der Zeitpunkt für eine esoterische Debatte über die Zukunft der EU; jetzt gelte es, einen wirtschaftlichen Feuersturm zu bekämpfen.

    Die kleinlauten Argumente der Europäer sind bloß das Spiegelbild der Mehrheitsverhältnisse in England - Schottland und Wales denken anders. Nicht nur die Konservative Partei sondern auch die Bevölkerung schlechthin haben sich zunehmend von Europa abgewandt. Niemand kann vorhersagen, ob ein Austritt aus der EU eine Mehrheit an der Urne fände, aber ausgeschlossen ist es keineswegs. Die heutige Debatte mag ein Papiertiger sein, aber sie illustriert, wohin England treibt.