Dienstag, 19. März 2024

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Corona-Impfung für Kinder und Jugendliche
Lauterbach: Ablehnende STIKO-Haltung nicht länger nachvollziehbar

Karl Lauterbach sieht die Ständige Impfkommission (STIKO) mit ihrer Position zur Corona-Schutzimpfungen von Kindern in einer "Außenseiterposition". Studien hätten ergeben, dass eine Durchseuchung mit der Delta-Variante gefährlicher sei als die Impfung von Kindern, sagte der SPD-Gesundheitsexperte im Dlf.

Karl Lauterbach im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 02.08.2021
Karl Lauterbach im Deutschen Bundestag.
SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach plädiert im Dlf für eine Corona-Schutzimpfung von Kindern ab 12 Jahren. (dpa / picture alliance / Jens Krick)
Medienberichten zufolge wollen die Gesundheitsminister von Bund und Ländern am Montag (2.8.2021) beschließen, Kindern und Jugendlichen von 12 bis 17 Jahren generell eine Impfung anzubieten. Dazu gibt es bislang keine Empfehlung der Stiko. Das Expertengremium hat nur eine Impfempfehlung für Kinder aus Risikogruppen ausgesprochen.
SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hat die Ständige Impfkommission (Stiko) am Robert Koch-Institut im Grundsatz verteidigt. Sie habe in der Vergangenheit "ganz hervorragende Arbeit geleistet", sagte er im Dlf. Möglicherweise habe sie sich in der Frage der Corona-Impfungen für Kinder aber "ein bisschen verrannt". Die derzeitigen Argumente der Ständige Impfkommission zu den Corona-Impfungen von Kindern teile er nicht. Politischer Druck auf die Stiko helfe aber nicht weiter.

"Es ist auf jeden Fall eine Außenseiterposition, das muss man sagen. International nimmt die Zahl der beratenden wissenschaftlichen Gremien zu, die die Impfung empfehlen", sagte Lauterbach über die ablehnende Haltung der Stiko. Am Anfang habe er nachvollziehen können, dass die Stiko habe abwarten wollen bis mehr Kinder geimpft worden seien. Mittlerweile sei dieser Punkt aber längst erreicht.
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Die Durchseuchung mit der Delta-Variante sei viel gefährlicher als die Impfung, so Lauterbach. "Ich komme wissenschaftlich zu dem Ergebnis, dass die Studien klar dafür sprechen, dass die Impfung klar den Kindern helfen würde. Die Durchseuchung der Kinder mit der Delta-Variante würde sonst über das nächste Jahr unweigerlich stattfinden."

Die Stiko widerum werfe der Politik vor, man wolle die Kinder impfen lassen, weil man bei den Erwachsenen nicht weiterkäme, so Lauterbach. Das sei falsch. Man wolle Schulausfall und Krankheit verhindern. Deshalb sei es richtig, dass die Politik jetzt Fakten schaffen wolle.

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Das vollständige Interview zum Nachlesen
Tobias Armbrüster: Herr Lauterbach, ist die Ständige Impfkommission überflüssig?
Karl Lauterbach: Nein, auf keinen Fall. Sie hat immer eine gute Arbeit gemacht. Sie trägt jetzt ihre Argumente vor, die ich nicht teile, schon lange nicht. Ich hatte ja schon sehr früh mich für die Impfung von Kindern ausgesprochen. Aber trotzdem: Die Stiko macht ihre Arbeit. Politischer Druck auf die Stiko hilft nicht weiter. Trotzdem ist die Entscheidung, die jetzt ansteht, dass die Politik Fakten schafft, richtig.
Armbrüster: Aber wenn Sie jetzt ganz offen sagen, dass Sie die Einschätzung der Stiko nicht teilen – viele andere Politiker sagen das ja auch so oder verhalten sich zumindest so, dass man das ablesen kann -, warum braucht man diese Kommission, dieses Expertengremium dann überhaupt noch?
Lauterbach: Ich teile die Position nicht als Wissenschaftler. Das ist für mich ein großer Unterschied. Die wesentlichen Studien, die zur Impfung von Kindern gemacht worden sind, laufen darauf hinaus, dass die Durchseuchung mit der Delta-Variante viel gefährlicher wäre als die Impfung, dass die Impfung mittlerweile gut untersucht ist.
Allein in den Vereinigten Staaten hat man bei Kindern mehr als sechs Millionen Impfungen bisher durchgeführt. Die CDC empfiehlt mit dem wahrscheinlich weltweit besten Expertengremium für Kinderimpfungen die Impfung ganz klar. Somit komme ich wissenschaftlich zu dem Ergebnis, dass die Studien klar dafür sprechen, dass die Impfung den Kindern helfen würde.
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Armbrüster: Moment, Herr Lauterbach! Das heißt, die Stiko-Mitglieder sind da Ihrer Meinung nach wissenschaftlich nicht auf dem aktuellen Stand?
Lauterbach: Das ist auf jeden Fall eine Außenseiterposition. Das muss man sagen. International nimmt die Zahl der beratenden wissenschaftlichen Gremien zu, die die Impfung empfehlen. Wir haben mittlerweile viel Erfahrung.
Am Anfang habe ich das noch einigermaßen nachvollziehen können, dass die Stiko gesagt hat, wir warten ab, bis mehr Kinder geimpft worden sind. Mittlerweile ist der Punkt längst erreicht und wissenschaftlich ist aus meiner Sicht jetzt die Argumentation der Stiko nicht wirklich gut nachvollziehbar. Die Stiko sagt, ihr fehlen die Daten. Sie sagen aber nicht genau, welche Daten, worauf wartet man. Mit dieser Haltung kommen wir, glaube ich, nicht weiter. Von daher ist es richtig, dass die Politik jetzt Fakten schafft, aber man muss auf jeden Fall der Stiko auch ihren Freiraum lassen, das wissenschaftlich so zu bewerten, wie sie es für richtig hält.
Schön wäre, wenn sie es besser begründen würde. Die Äußerungen von gestern von Herrn Mertens sind nicht zielführend. Das stellt uns Politiker - jetzt spreche ich mal als Politiker und nicht als Wissenschaftler - ja so hin, dass wir die Kinder impfen, weil wir bei den Erwachsenen nicht weiterkämen. Das ist falsch. Die Empfehlung, die Kinder zu impfen, ist nur für die Kinder selbst. Wir wollen bei den Kindern verhindern, dass Schulausfall und Krankheit kommen. Die Durchseuchung der Kinder mit der Delta-Variante würde sonst über das nächste Jahr unweigerlich stattfinden.

"Ein bisschen zu früh festgelegt und verrannt"

Armbrüster: Darüber können wir vielleicht gleich noch sprechen. Ich wollte jetzt noch ganz kurz bei der Stiko bleiben. Dieses Gremium ist ja immer wieder im Gespräch, immer wieder in den Nachrichten. Wir sehen die Experten aus dieser Runde auch immer wieder, hören ihre Einschätzungen. Dann kriegen wir jetzt von Ihnen auch wieder heute Morgen hier live zu hören, das ist eine Außenseiterposition, was diese Kommission vertritt.
Noch einmal die Frage: Sollte man dann nicht ganz ehrlich sein und sagen, ein Expertengremium, das die Bundesregierung, das die Politik berät, das sollte keine Außenseiterpositionen vertreten, sondern das sollte handfeste politiknahe, auch politisch umsetzbare Rückschlüsse beziehungsweise Grundsätze vertreten? Muss man dann nicht sagen, dann müssen wir uns von der Stiko in dieser Form verabschieden und dann brauchen wir ein neues Gremium, oder vielleicht auch überhaupt kein solches Gremium mehr?
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Lauterbach: Die Stiko hat in der Vergangenheit ganz hervorragende Arbeit geleistet. Die Mitglieder der Stiko sind auch renommiert. Von daher ist das, was wir jetzt bei den Kindern sehen, nicht repräsentativ, sondern hier hat sich die Stiko möglicherweise – man muss vorsichtig sein – ein bisschen zu früh festgelegt und verrannt. Vielleicht ändert sich die Position ja noch. Das hat der Herr Mertens angedeutet.
Daher finde ich es nicht richtig, jetzt die Stiko grundsätzlich in Frage zu stellen. Sie hat wirklich vorzügliche Arbeit in der Vergangenheit geleistet, immer wieder bei der Grippe-Impfung, bei der Masern-Impfung. Man darf die Stiko jetzt nicht als Gremium in Frage stellen, nur weil diese eine Entscheidung schwierig ist.
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"Erkrankung an der Delta-Variante ist viel gefährlicher für die Kinder als die Impfung"

Armbrüster: Herr Lauterbach, was macht Sie denn eigentlich so sicher, dass die möglichen Risiken bei einer Impfung von Jugendlichen tatsächlich völlig geklärt sind?
Lauterbach: Dass die Risiken völlig geklärt sind, kann man nicht wirklich sagen. Allerdings führende Impfwissenschaftler, insbesondere in den Vereinigten Staaten, die dort besonders vorsichtig sind – Herr Armbrüster, Sie kennen ja auch die Haftungsrisiken, die in den Vereinigten Staaten mit einem Fehler einhergehen, gerade wenn man bei Kindern einen Fehler macht -, die Studien, die dort gemacht worden sind, die laufen darauf hinaus, dass Impfprobleme, die es geben könnte, dass man die früh sieht, relativ früh, nicht erst in Jahren.
Wir haben mit dem BioNTech-Impfstoff und auch mit dem Moderna-Impfstoff mittlerweile so viel Erfahrung, wie wir mit keinem anderen Impfstoff weltweit jemals gehabt haben, und da sehen wir auch bei den Kindern keine schweren Nebenwirkungen, die jetzt dazugekommen sind. Wir sehen die Nebenwirkungen der Myokarditis und der Perikarditis. Das ist klar. Das kommt über den Daumen gepeilt bei einem von 20.000 Kindern vor. Das ist aber in mehr als 95 Prozent der Fälle sehr wenig, wie die Myokarditis dort verläuft.
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Lauterbach: Das sieht man auch bei anderen Impfungen. Da gibt es eine leichte Entzündung des Herzmuskels und der Herzmuskelhaut, die um das Herz herumliegt, und diese Entzündung geht aber nach kurzer Zeit zurück und ist in der Regel nicht behandlungsbedürftig. Das ist ein seltenes Risiko, geht fast immer von alleine weg.
Was steht dem gegenüber? Wenn jetzt, sage ich einmal, die Kinder sich im Herbst, wenn sie wieder zusammenkommen in Innenräumen und sich mit der Delta-Variante infizieren, dann kommt es ebenfalls bei einem Teil dieser Kinder, nicht bei mehr Kindern zu einer solchen Herzmuskelentzündung, aber auch noch zu sehr vielen anderen Erkrankungen, und auch bei ungefähr zwei bis vier Prozent auf der Grundlage dessen, was wir jetzt wissen, zu Long Covid Verläufen, wo die Kinder dann längere Zeit nicht wirklich gut lernen können, weil sie eine länger anhaltende Erkrankung an Covid haben. Es kommt auch noch zu anderen Komplikationen. Somit ist die Erkrankung an der Delta-Variante viel gefährlicher für die Kinder als die Impfung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.