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Libertärer Autoritarismus
Das Ich regiert auf Kosten der Gemeinschaft

Querdenkerinnen und AfD-Anhänger wollen ihre Freiheit ausleben – auf Kosten demokratischer Stabilität. Die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey nennen das ein Merkmal für libertären Autoritarismus.

Von Anne-Kathrin Weber | 21.11.2022
Das Buchcover von Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“ vor der Kullise einer AfD-Kundgebung und Gegendemos in Stuttgart am 12.11.22
Carolin Amlinger und der Oliver Nachtwey beschäftigen sich in ihrem Buch mit Aspekten des libertären Autoritarismus (Buchcover Suhrkamp Verlag / Hintergrund picture alliance/dpa / Andreas Rosar)
Herr Rudolph hat früher viele Teile der Welt bereist und, für das Interview mit den Forschenden, extra Kuchenteilchen und Kaffee bereitgestellt; Frau Weber, die für den Weltfrieden meditiert, versucht im Gespräch, geschlechtergerechte Sprache zu verwenden, auch wenn es ihr nicht immer gelingt – die Interviewpartner und partnerinnen von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey sind, so scheint es, Vorzeigebeispiele für gesellschaftliche Solidarität und demokratische Stabilität. Doch dieser erste Eindruck täuscht.
„Die von uns untersuchten Personen lehnen sich trotzig gegen soziale Konventionen auf, sind beseelt von dem anarchischen Impuls, ihr Anliegen gegen alle äußeren Widerstände durchzusetzen. Dabei entwickeln sie bisweilen eine unermüdliche destruktive Aktivität, die als heroischer Mut, zu sich selbst zu stehen, gewendet wird.“
Seit 2020 versuchen die Literatursoziologin und der Soziologe der Universität Basel die Gedanken- und Gefühlswelt derjenigen zu ergründen, die sich in den letzten Jahren immer stärker von den tradierten Grundwerten abgewendet haben – also das Innenleben der selbsternannten Querdenkerinnen und der Anhängern der AfD. Ihre Studie zeigt: Viele der Befragten wie Herr Rudolph oder Frau Weber haben den Grünen beziehungsweise der Sozialdemokratie den Rücken gekehrt. Ursache sind laut den Forschenden oft Brüche in der eigenen Biografie, die als Kränkungen wahrgenommen werden. Und die Folge: Die Betroffenen wenden sich einem, Zitat, „libertären Autoritarismus“ zu.

Aggression, Destruktivität und Aberglaube

Damit reihen die Autor:innen ihre Gesellschaftsdiagnose in die Denkschule der frühen Kritischen Theorie ein. Deren Vertreter:innen – wie der Psychoanalytiker Erich Fromm oder der Philosoph Theodor W. Adorno – erforschten Mitte des 20. Jahrhunderts autoritäre Charaktermerkmale. Amlinger und Nachtwey machen bei ihren Interviewpartner:innen zunächst viele Parallelen zu den Autoritären von damals aus, wie Aggression, Destruktivität und Aberglaube.
Allerdings folgten Querdenker und AfD-Anhängerinnen nicht mehr einer externen Führerfigur, sondern nur noch sich selbst. Menschen wie Herr Rudolph oder Frau Weber betrachten laut Amlinger und Nachtwey die eigene Autonomie - also nur das zu tun, was sie wollen – als einzig geltendes Recht und wehren sich heftig gegen vermeintliche oder tatsächliche Einschränkungen ihrer Freiheiten. Deshalb seien sie „libertäre“ Autoritäre, die einer stark vereinfachten Idee des politischen Freiheitsbegriffs anhingen:
„Freiheit wird nun nicht mehr in erster Linie als Abgrenzung zum staatlichen Gewaltmonopol verstanden, sondern zu gesellschaftlichen Normen insgesamt. Staatliche Regulierungen des Alltagsverhaltens, etwa die Gurt- oder Helmpflicht, stellen aus dieser Perspektive ebenso eine Einschränkung der persönlichen Freiheit dar wie Gebote der Nichtdiskriminierung.“

Gewandelter Freiheitsbegriff

Diese spezifische Interpretation des politischen Freiheitsideals ist laut den Autor:innen auch mit den konkreten Anforderungen verbunden, die der Kapitalismus seit den 1980er Jahren immer stärker an das Individuum stelle – nämlich, sich immer mehr von anderen abzuheben und dabei gesellschaftliche Abhängigkeiten aufzugeben. Freiheit sei nach dieser Vorstellung kein geteilter gesellschaftlicher Zustand mehr, sondern nur mehr ein persönlicher Besitzstand.
Amlinger und Nachtwey zufolge ist der Protest gegen die Coronapolitik deswegen auch als Versuch zu verstehen, sich in Zeiten der Krise wieder sichtbar und handlungsfähig zu fühlen: „In der Pandemie konnte niemand mehr seine Tattoos zeigen, den Körper im Fitnessstudio stählen, Bilder aus der hippen Cocktailbar auf Instagram posten, aber die Erwachten hoben sich von den Schlafschafen ab – ein Mittel also, sich wieder zu besondern.“
Viele der Befragten machten regelmäßig Yoga oder meditierten. Diese Praktiken definieren die Forschenden vielleicht etwas überspitzt als, Zitat, „Kernbestandteile“ des libertären Autoritarismus. Auch wenn sich einige Interviewpartner:innen für Geflüchtete einsetzten, offenbarten viele im Gespräch mit den Forschenden fremdenfeindliches und vor allem antisemitisches Gedankengut. Nicht verwunderlich ist daher, dass auch Verschwörungstheorien innerhalb der Studienkohorte weit verbreitet waren. Amlinger und Nachtwey prognostizieren, dass weitere gesellschaftspolitische Krisen, immer wieder – Zitat -, „Neogemeinschaften des Misstrauens“ hervorbringen werden, innerhalb derer demokratisch sozialisierte Bürger und Bürgerinnen keine Berührungsängste mit Rechtsextremisten hätten.

Freiheitsfetisch kontra Solidarität

Auch wenn die Analyse an einigen Textstellen ins Polemische zu kippen droht, verfallen Autorin und Autor nicht in Alarmismus. Gekonnt kontrastieren sie den zuweilen fehlgeleiteten und emotional aufgeladenen Freiheitsfetisch ihrer Interviewpartner:innen mit dem Gebot gesellschaftlicher Solidarität, die in Krisenzeiten wichtiger denn je sei. Und doch gestehen Amlinger und Nachtwey gegen Ende des Buches durchaus zu, dass der libertär-autoritäre Protest insofern ernst zu nehmen sei, als er auf durchaus existierende politische Widersprüche und Versäumnisse hindeute:
„Natürlich muss die Politik am Ende kollektiv bindende Entscheidungen treffen, sie kann aber erstens stärker die Alternativen offenlegen und so den Bürger:innen die jeweiligen Konsequenzen erläutern, statt sich auf Sachzwänge zu berufen. Zweitens erscheint uns eine ausgeprägtere Form der Selbstreflexion und gegebenenfalls auch Selbstkritik angebracht.“
Berechtigte Kritik an politischen Missständen versus Haltungen und Praktiken, die Mensch und Demokratie gefährden – die lesenswerte Studie von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey hilft dabei, das eine sehr genau vom anderen zu unterscheiden.
Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“, Suhrkamp 480 Seiten, 28 Euro.