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Bürger und ihr Verhältnis zum Staat
Politikwissenschaftler: "Wir schulden der Demokratie noch was"

Ein demokratischer Rechtsstaat könne nur erfolgreich sein, wenn die Bürger mitmachten, sagte der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich im Dlf. Er plädiert deshalb für eine Abkehr von der Haltung, dass Politik ständig liefern müsse. Damit sei man schnell in einem ökonomischen Denkmodell.

Felix Heidenreich im Gespräch mit Michael Köhler |
Ein Demonstrant hält ein Banner mit der Aufschrift "Make Earth Cool Again" bei einer Demonstration am 6. November in London.
"Wenn demokratische Staaten immer nur bemüht sind, ihre Bürger vor den Herausforderungen der Zukunft zu schützen, dann haben wir ein ganz großes Problem“, sagte der Politologe Felix Heidenreich im Dlf. (imago images / Vuk Valcic )
Heidenreich sagte im Deutschlandfunk, die Erwartung vieler Bürger gemäß dem Motto 'die Politik muss liefern', beruhe auf einem ökonomischen Denkmodell. Demnach seien die Bürger Konsumenten, „die eine Bestellung aufgeben und dann herumnörgeln, wenn die Politik nicht genau das liefert, was bestellt wurde.“ Diese Haltung habe auch damit zu tun, wie der Staat die Bürger anspreche, sagte Heidenreich. Wenn die Politik die Bürger stets als Konsumenten adressiere, sei es folgerichtig, dass diese so antworteten.
Dem hält Heidenreich die Vorstellung entgegen, dass der Staat sich trauen müsse, die Bürgerinnen stärker im Sinne einer emphatischen politischen Partizipation, als „citoyen und citoyenne“ anzusprechen. Es bestünden gute Chancen, so Heidenreich, damit eine Resonanz bei den Bürgern zu finden.

Belgiens Wahlpflicht als Vorbild

Heidenreich erklärte, der liberale Zeitgeist bestärke die Sicht, dass es „auch ein Recht gibt, sich überhaupt nicht für Politik zu interessieren“. Seiner Ansicht nach bedeutet Demokratie aber nicht, wer Lust dazu habe, könne mitmachen, wer nicht, könne zuhause bleiben. Heidenreich führte demgegenüber an, dass es in Belgien etwa eine Wahlpflicht gebe. Diese kommuniziere klar, „dass der Wahlakt nicht bloß eine Option ist, die man wahrnehmen kann oder nicht. Sondern dass es zumindest eine moralische Pflicht gibt, sich zu beteiligen.“ Diese werde in Belgien juristisch ausgedrückt, auch wenn sie nicht sehr sanktionsbewehrt sei.

„Sollten uns vor Obrigkeitsstaat hüten“

Heidenreich plädierte im Dlf auch dafür, sich stärker der Idee zu öffnen, mehr Dienste am Gemeinwesen einzuführen. Hier brauche man eine „offene und ehrliche Diskussion“. Man könne von einem Modell wie etwa der Pflichtfeuerwehr in der Schweiz sehr viel lernen. Es gebe Freiheitsgrade im Blick darauf, wie „wir Demokratie organisieren, wie unsere Institutionen gebaut sind“. Hier gebe es "Kontingenzspielräume", die zeigten, „dass wir manche Dinge anders machen können“. Dabei gelte es immer genau abzuwägen: „Wir dürfen nicht in einen Militarismus verfallen und sollten uns vor jedem Obrigkeitsstaat hüten.“

Bürger scheuten sich, „ihr“ Bundespräsident zu sagen

Es gehe jedoch darum, zu überprüfen, ob es Mechanismen gebe, durch die der Staat dazu beitragen könne, dass die Bürgerinnen und Bürger diesen tatsächlich als „ihren Staat“ empfänden. Viele Menschen hätten heute ein gewisses Problem damit, von ‚ihrem‘ Staat oder ‚ihrem‘ Bundespräsidenten zu sprechen. Dies sei kein gutes Zeichen.
Heidenreich sieht sich mit seinen Vorstellungen in der Tradition des Republikanismus, wie er im Dlf sagte. Er halte es für wichtig, „dass man die Gegenargumente gegen eine liberale Verkürzung der Demokratie formuliert“. Dabei dürfe man nicht Gefahr laufen, in eine „illiberale Demokratie nach Orbáns Vorbild zu verfallen“. Damit spielte der Politikwissenschaftler auf den ungarischen Regierungschef Victor Orbán an. Orbán wird immer wieder vorgeworfen, die Menschenrechte in Ungarn systematisch einzuschränken.[