Donnerstag, 25. April 2024

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Jill Lepores Kulturgeschichte von Wonder Woman
Eine Comic-Heldin der Frauenbewegung

Die Comicfigur Wonder Woman ist keine seichte Unterhaltungsprotagonistin, sondern eine Superheldin der amerikanischen Frauenbewegung. Ihr Schöpfer war ein exzentrischer Psychologe, der mit mehreren Frauen zusammenlebte. Wie das zusammenpasst, hat die Harvard-Historikern Jill Lepore recherchiert.

Von Anne-Kathrin Weber | 23.05.2022
Ein Portrait der Autorin Jill Lepore und das Buchcover "Die geheime Geschichte von Wonder Woman
Mit ihren goldenen Armbändern wehrt sie Kugeln ab, mit ihrem Lasso der Wahrheit fängt sie Schurken ein: Seit 1941 kämpft die Comicfigur Wonder Woman für Gerechtigkeit, Frieden und die Rechte von Frauen.
Die Amazone ist die einzige weibliche Superheldin, die Mitglied der fiktiven „Justice Society of America“ war – also unter anderem mit Superman, Batman und The Flash zusammen gegen das Böse kämpfte. Sie hat nur eine verheerende Schwäche: Wonder Woman verliert all ihre Kräfte, sobald ein Mann sie in Ketten legt.

Eine Comic-Heldin kämpft für Frauenrechte

Die US-amerikanische Historikerin Jill Lepore hat die Geschichte dieser Comicfigur untersucht und schildert, wie Wonder-Woman-Erfinder William Moulton Marston seine Figur als „psychologische Propaganda“ für einen neuen Frauentyp erdachte. Die Autorin zeigt die Parallelen zwischen Wonder Woman und den Charakteristika der ersten Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: „Wonder Woman hat Bezüge zum fiktionalen feministischen Utopia und zum Kampf für Frauenrechte.“
Die „geheime Geschichte“ von Wonder Woman, die die Harvard-Professorin erzählt, ist auch eine Geschichte über den Comic-Künstler Marston. Lepore beschreibt ihn als Universalgenie, stark auf sich selbst bezogen, ein Mann, der mit zwei Frauen, Elizabeth Holloway und Olive Byrne, zusammenlebte. Es war ein geheimes Arrangement, das nicht nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Konventionen widersprach, seiner eigenen Ehefrau aber einen entscheidenden Vorteil bot:
„Elizabeth Holloway Marston, eine Neue Frau, die in einem Neuen Zeitalter lebte, traf mit ihrem Ehemann eine Vereinbarung. Marston konnte seine Geliebte haben. Holloway konnte berufstätig sein. Und die junge Olive Byrne, eine studierte Psychologin, würde die Kinder erziehen.“
Besagte Geliebte, Olive Byrne, war die Nichte von Margaret Sanger, die als eine der Ikonen der US-amerikanischen Frauenrechtsbewegung gilt und die Anfang der 1920er Jahre die Vorläuferorganisation von „Planned Parenthood“ und damit auch des deutschen Ablegers „pro familia“ gründete.

Der Comic-Schöpfer: ein exzentrisches Universalgenie

Damit kann Lepore die von ihr detailliert erschlossenen Biografien des Trios unmittelbar mit dem Kampf für Frauenrechte verbinden; sie bettet sie darüber hinaus auch in den Kontext der damaligen US-amerikanischen Pop- und Wissenschaftskultur ein. Denn Marston, Holloway und Byrne studierten Psychologie zu einer Zeit, als diese Disziplin noch sehr jung war und aus heutiger Sicht einige sinnfreie Experimente hervorbrachte – so berichtet Lepore, William Moulton Marston habe etwa publikumswirksam beweisen wollen, dass braunhaarige Frauen schneller erregbar seien als blonde.
Unter Mithilfe von Holloway hatte er zuvor eine frühe Version des Lügendetektors entwickelt. Marston habe sich unter anderem auch als Jurist und Drehbuchschreiber versucht, berichtet Lepore. Im Comic habe er schließlich das richtige Medium für seine zuweilen kuriosen Thesen über die menschliche, insbesondere aber die weibliche, Natur gefunden. Zentral war dabei seine Vision, dass Frauen die Welt beherrschen sollten.

Sittenwächter hatten etwas gegen Wonder Woman

Mit Wonder Woman, deren Abenteuer bei DC Comics verlegt werden, und deren Charakter und Erlebnisse immer wieder Referenzen zu Holloway und Byrne aufwiesen, traf er laut Lepore den Nerv der Zeit:
„Mit Ausnahme von Superman und Batman war kein anderer DC-Superheld auch nur annähernd so beliebt wie Wonder Woman. […] Im Juli 1942 wurde sie zur ersten Superheldin, der ein eigenes Comic-Heft gewidmet war.“
Diese Hefte enthielten auch einen vierseitigen Mittelteil mit Kurzbiografien über berühmte Frauen, schreibt Lepore:
„Die Biografien wiesen Wonder Woman einen Ort als aktuellste Vertreterin einer langen Reihe von Frauen zu, die für die Gleichberechtigung der Frau kämpften.“ 
Allerdings habe der Erfolg von Wonder Woman wenige Jahre nach der ersten Ausgabe stark nachgelassen, konstatiert die Autorin. Sittenwächter seien um die seelische Gesundheit der jugendlichen Leserinnen und Leser besorgt gewesen. Wonder Woman sei aber auch ein Opfer der konservativen Wende nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geworden, als Frauen aus der Öffentlichkeit und dem Beruf zurück ins häusliche Leben gedrängt wurden.

Feministische Utopie

Marston starb im Mai 1947. Die von ihm erfundene, einst so starke Superheldin war in den nachfolgenden Comicepisoden kaum noch wiederzuerkennen, schreibt Lepore:
„Wonder Woman wurde zur Babysitterin, zum Mannequin und zum Filmstar. […] Sie trat als Beraterin der Liebeskranken auf, als Autorin einer Ratgeber-Kolumne in einer Zeitung für einsame Herzen.“
Erst in den 1970er Jahren, zur Zeit der zweiten Frauenbewegung, sei Wonder Woman wiederbelebt worden. Leider reißt Lepore diese Verbindung nur kurz an und geht auch nicht auf die Rezeption ein, die Wonder Woman heute erfährt.
Die Lektüre von Jill Lepores Buch lohnt sich, nicht nur wegen der vielen Comicsequenzen, mit denen sie ihre Thesen illustriert. „Die geheime Geschichte von Wonder Woman“ ist eine faszinierende, unterhaltsam geschriebene und ausgezeichnet recherchierte Erzählung darüber, wie individuelle Biografien und frühe feministische Utopie und Praxis in einer der berühmtesten Comicfiguren zusammenkommen. Und sie weist in diesem Zuge zwei ungewöhnlichen Frauen, nämlich Elizabeth Holloway und Olive Byrne, die auch nach dem Tod Marstons bis an ihr Lebensende zusammenblieben, den ihnen gebührenden Platz in der Geschichtsschreibung zu.
Jill Lepore: „Die geheime Geschichte von Wonder Woman“,
aus dem Englischen von Werner Roller,
C.H.Beck, 552 S., 29,95 Euro.