
Fred Sommer ist der Chef des kleinen mittelständischen Familienbetriebs an der Schnittstelle zwischen Handwerk und Industrie. Sein Vater hat das Unternehmen 1977 aufgebaut, Sohn Fred ist 1989 miteingestiegen, Mitte der Neunziger hat er die Firma dann übernommen. Inzwischen ist Fred Sommer 59 Jahre alt und muss so langsam an die Betriebsnachfolge denken. Schon jetzt ist klar: Ein Familienunternehmen wird es nicht bleiben, seine Kinder haben sich nicht fürs Schleifer-Handwerk, sondern für ein Studium entschieden. „Dadurch ist natürlich die Sache, wie es hier mit der Firma weitergeht, erstmal eine andere Sache wie in anderen Firmen, wo die Kinder mit eingestiegen sind.“
Die Nachfolgesuche gestaltet sich schwierig. Fachkräfte sind nicht in Sicht - den letzten Azubi hat Fred Sommer vor zehn Jahren ausgebildet. Der einzige, der für Fred Sommer als Betriebsnachfolger in Frage kommen würde, kommt aus seiner fünfköpfigen Mitarbeiterschaft. „Es ist einer dabei, der ist aber mittlerweile auch schon in so einem Alter, wo das fast zu spät ist. Der ist jetzt 52, wird der jetzt so.“
"Babyboomer" verlassen in den nächsten Jahren den Arbeitsmarkt
„Ich bin immer wieder überrascht, dass das Thema, dass jeden, der die Verwaltung oder auch Unternehmen berät - seit 20 Jahren reden wir vom demografischen Wandel - dass immer noch viele erstaunt sind, wenn man sie mal mit den Zahlen konfrontiert. Diese starke Diskrepanz zwischen ausscheidenden und neueintretenden Personen ins Arbeitsleben. Ich glaube, das wird einfach unterschätzt. Wahrscheinlich weil es verdrängt wird.“

„Das Auffällige bei dieser Generation ist, dass es nach 1990 keine Fortsetzung gab davon, weil die Ostdeutschen quasi ihre demografischen Tätigkeiten eingestellt haben, um es mal überspitzt zu formulieren. Die sind weniger gestorben, sind weniger krank geworden. Haben weniger geheiratet und weniger Kinder gekriegt. Das war die letzte große Generation. Halbwegs große.“
Sachsen-Anhalt hat im Durchschnitt die älteste Bevölkerung
Die aktuell sichtbarste Form des demografischen Wandels ist der Fachkräftemangel. Er betrifft ganz besonders den Osten, aber auch ganz Deutschland. Schon jetzt können Unternehmen in Deutschland aktuell mehr als 500.000 Stellen nicht besetzen. So die Zahlen vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft.
GEW: "Uns fehlt im Prinzip eine komplette Generation"
„Direkt nach der Wende gab es zu viel Lehrkräfte, und man hat sie großzügig in Altersteilzeit, vorzeitige Ruhestände verabschiedet. Sogar noch gelockt, diese Modelle auch anzunehmen und hat nicht für ausreichenden Nachwuchs gesorgt. Uns fehlt im Prinzip eine komplette Generation. Also, entweder Sie sind 30, 35 oder 55, 60.“
Forscher: Lehrermangel wegen "Politik der knappen Kassen"
Der Arbeitsmarktforscher Per Kropp: „Das war eine Politik der knappen Kassen. Und eben der Druck in der öffentlichen Verwaltung, Stellen abzubauen. Das hat letztendlich gegenüber einer langfristigen Planung den Ausschlag gegeben. Das einzige, was man sonst hätte machen können, wäre, deutlich bevor es den Lehrermangel gab, schon über dem Bedarf einzustellen, und die Fachkräfte quasi zu binden, das trifft ja auch für viele andere Fachbereiche zu, aber das kostet ja einfach Geld.“
Mittlerweile ist die Not so groß, dass das Bildungsministerium in Magdeburg mit Headhunter-Agenturen neue Lehrer suchen lässt. Benötigten angehende Lehrerinnen und Lehrer noch vor zehn Jahren ein Einser-Staatsexamen, um an Schulen in Sachsen-Anhalt zu unterrichten, braucht es dort inzwischen nur noch einen akademischen Abschluss und einen zusätzlichen Didaktik-Kurs.
Bitte an die Babyboomer: Ruhestand verschieben
„Wir haben auch einige Lehrkräfte, die vorzeitig den Schuldienst verlassen. Das ist für uns hochproblematisch. Aber auch die, die mit regulärem Rentenalter in Rente gehen, sind wir bestrebt noch länger zu halten. Die haben wir vor Weihnachten alle angeschrieben, und auch nochmal drum gebeten - und wenn es auch nur ein paar Stunden sind - um uns über dieses Tal des Lehrermangels hinwegzuhelfen.“
Wernigerode setzt auf Projekt mit Vietnam
Azubi Kim Hoang Nguyen arbeitet seit 8 Monaten in Wernigerode. Die 27-Jährige ist über das Wirtschafts- und Sozialpartnerprojekt „Hoi An“ hierhergekommen. Hoi An, so heißt die vietnamesische Partnerstadt von Wernigerode. Das Prinzip: schon in Vietnam lernen die jungen Leute deutsch, werden von einem Bildungsträger betreut, im Harz machen die 24 vietnamesischen Azubis derzeit ihre Ausbildung im Hotel- und Gastronomiebereich, aber auch in der Pflege. Nach der dreijährigen Ausbildung zur Restaurantfachfrau in Wernigerode steht für Kim Hoang Nguyen fest: „Ja, ich möchte hierbleiben“.
Ostdeutsche Bundesländer profitieren von EU-Fördermitteln
„Uns wurde dann im Januar mitgeteilt, dass das nicht mehr der Fall ist. Dass die Prioritäten zumindest seitens des Wirtschaftsministeriums, aber auch des Arbeits- und Sozialministeriums auf anderen Arbeitsschwerpunkten liegen. Und damit waren wir natürlich erstmal enttäuscht. Zumal wir wissen, dass 25 Leute in Vietnam warten, die haben sich also schon beim Volkskomitee vorgestellt und wollen gerne nach Deutschland kommen, die wir aber jetzt leider über das Projekt nicht mehr fördern können.“
Der Deutschlandfunk hat beim Arbeitsministerium von Sachsen-Anhalt nachgefragt und bekam folgendes zur Antwort: das Modell der Anwerbung sei erfolgreich erprobt worden, könne aber nicht weiterfinanziert werden, weil die EU-Fördermittelperiode vorbei sei. Der Hintergrund: Das Projekt „Hoi An“ wird zwar über das Land Sachsen-Anhalt finanziert, aber das Geld kommt überwiegend aus dem Europäischen Sozialfond. Die ostdeutschen Bundesländer profitieren am meisten von diesen EU-Geldern.
Unternehmen müssen präsent sein - auch durch Marketing
Katy Löwe hat vor vier Jahren selbst ein Fachkräfte-Projekt gestartet, dabei bewusst darauf verzichtet, sich um öffentliche Fördermittel zu bewerben. Dafür beteiligen sich 20 Harzer Unternehmen finanziell an der Kampagne. „Heimvorteil Harz“ richtet sich an Pendler, Rückkehrer, an Schülerinnen und Schüler. „In den Schulen denke ich, haben wir inzwischen einen sehr guten Bekanntheitsgrad. Das hat etwa zwei Jahre gedauert, bis alle mit uns in Berührung gekommen sind. Aber in der breiten Masse ist es immer noch nicht komplett durchgedrungen. Da sind wir immer noch dabei. Und wir sind eben im vierten Jahr.“
Jobmessen organisieren oder auf Pendlerparkplätzen „Coffee to stay“ verteilen: Katy Löwes Aufgabe besteht darin, Unternehmen in der Region bekannter zu machen und auf potenzielle Auszubildende zuzugehen. Genau daran hapere es speziell bei kleineren ostdeutschen Betrieben, die sich jahrelang keine Gedanken um Nachwuchs machen mussten. Der müsse jedoch heute direkt angesprochen werden:
„Ich muss denen die Möglichkeit bieten, mal sich auszuprobieren in einem Praktikum zum Beispiel. Ich muss draußen als Unternehmen präsent sein. Und sagen: hier bin ich. Seht mich doch mal! Weil draußen natürlich viele andere Unternehmen sehr präsent sind und sich auch dementsprechend in den Vordergrund spielen. Das heißt, es ist für kleinere Betriebe wirklich schwer, dort mitzuhalten, weil sie durch den Personalmangel das Problem haben, gar nicht die Kraft zu haben, sich permanent ums Marketing zu kümmern.“
Sachsen-Anhalt schrumpft stärker als alle anderen Bundesländer
„Jetzt ändert sich der Arbeitsmarkt. Das ist durchaus auch ein Vorteil des demografischen Wandels, dass es auch ein arbeitnehmerfreundlicherer Arbeitsmarkt wird, der einige von den schlimmsten Diskrepanzen, die hier nach der Wende entstanden sind, auch wieder ausbügelt. Aber das Umdenken auch in der Verwaltung und Unternehmen, dass man halt mehr bieten muss als befristete Jobs und schlecht bezahlte Jobs, das ist etwas, was nicht von heute auf morgen passiert.“
Katy Löwe, die in Halberstadt das Projekt „Heimvorteil Harz“ leitet, sieht bereits Fortschritte in ihrer Region. Schlecht bezahlt seien die Jobs im Harz inzwischen nicht mehr. Der Arbeitsmarkt habe sich verbessert.
Insgesamt lässt sich für Sachsen-Anhalt heute sagen: zumindest die Abwanderung ist gestoppt. Seit 2019 ziehen mehr Menschen aus anderen Bundesländern nach Sachsen-Anhalt, als dass Menschen umgekehrt abwandern. Dennoch schrumpft Sachsen-Anhalt stärker als jedes andere Bundesland.
„In so einer Region die Infrastruktur selbst, die Krankenhausdichte, die Schuldichte und so weiter und so fort aufrechtzuerhalten, das ist natürlich ein Problem. Und wenn man sagt, das gehört zum Wohlstand einer Region dazu, dann sehe ich das schon gefährdet, im Gegensatz zu den individuellen Einkommen beispielsweise.“
Der langsame Abbau der Infrastruktur wirke eher abschreckend auf potenzielle Neu-Genthiner. Damit werde auch die Suche nach Fachkräften nicht leichter - und auch nicht die nach einem eigenen Nachfolger. Von der Handwerkskammer Magdeburg hat der 59-Jährige sein Firmenportfolio bewerten lassen, will sich helfen lassen. Jetzt muss nur noch ein passender Kandidat her.
„Und für mich ist wichtig, dass die Mitarbeiter, die ich hier hab, auch eine Zukunft haben. Wenn ich keinen finde, dann muss ich irgendwann mal leider einen Weg gehen, dass ich die Firma schließen werde. Weil irgendwo möchte man ja seinen Lebensabend verbringen mit dem, was man sich erarbeitet hat.“