
Diese Reform ist überfällig. Gut also, dass Frankreichs Präsident und die Regierung sie nun endlich angehen. Das bisherige französische Rentensystem gehört zu einem der großzügigsten in Europa. Es ist seit Langem bekannt, dass es in dieser Form in Zukunft nicht mehr finanzierbar ist. Und trotzdem ist der Widerstand gegen das Gesetzesvorhaben groß.
Protest auf den Straßen zu erwarten
Die Regierung kann in der Nationalversammlung nur auf eine knappe Mehrheit hoffen. Die Gewerkschaften und linken Parteien trommeln den Protest auf der Straße zusammen. Und in Umfragen ist eine Mehrheit der Menschen im Land gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Aber die Maßnahmen als unzumutbare Härte anzusehen, geht an der Realität vorbei. Um drei Monate jedes Jahr soll der Renteneintritt verschoben werden bis man im Jahr 2030 beim Rentenalter von 64 statt nun 62 Jahren angelangt ist. In den Nachbarländern Frankreichs ist dieser Schritt längst vollzogen. Man kann ihn gesunden, arbeitenden Menschen durchaus zumuten.
Er geschieht vor dem Hintergrund, dass die Französinnen und Franzosen seit 1950 an die 15 Jahre Lebenserwartung hinzugewonnen haben. Das ist schön. Auf der anderen Seite müssen immer weniger Berufstätige immer mehr Rentnerinnen und Rentner finanzieren. Länger in die Rentenkasse einzubezahlen ist also nötig.
Hinzu kommt, dass man in Frankreich auch schon jetzt im Durchschnitt mit über 62 Jahren in Rente geht. Bei Freiberuflern liegt der Renteneintritt sogar deutlich über diesem Alter. Frauen müssen meist länger arbeiten als Männer, um eine abschlagsfreie Rente zu bekommen. Dieser Unterschied ist ungerecht.
Zeitpunkt der Reform fragwürdig
Die Aufregung um zwei Jahre länger arbeiten ist dagegen überzogen. Ohnehin werden auch mit den neuen Regeln etliche schon vor 64 Jahren das Berufsleben verlassen: vier von zehn werden es jedes Jahr laut Regierung sein. Denn es gibt weiterhin Ausnahmen für diejenigen, die früh angefangen haben zu arbeiten oder besonders beschwerliche Berufe haben, für Kranke oder Menschen mit Behinderung.
Natürlich kann man den Zeitpunkt der Reform in Frage stellen. Ist es wirklich angebracht, auf die Belastungen der Pandemie und zusätzlich zu hohen Energie-, und Lebensmittelpreisen nun auch noch diese Reform zu setzen? Aber das Rentensystem wollte Emmanuel Macron schon in seiner ersten Amtszeit erneuern. Doch massive Proteste und schließlich die Pandemie stoppten das Vorhaben. Auch jetzt wird es – wie so oft in Frankreich – schwer werden, verkrustete Strukturen aufzubrechen und an sozialen Besitzständen zu rütteln.
Immerhin wird nun immer wieder die Frage gestellt, warum viele ihre Arbeit als etwas empfinden, das man lieber früher als später loswerden möchte. Dafür gibt es Gründe: prekäre Arbeitsverhältnisse oder schlechte Arbeitsbedingungen. Dagegen anzugehen sollte die nächste Aufgabe für die französische Regierung sein.


Christiane Kaess ist Deutschlandradio-Korrespondentin in Frankreich. Sie hat in Berlin Politikwissenschaft studiert und in Amsterdam ein Graduierten-Programm Internationale Beziehungen und European Social Studies absolviert. Sie war vor ihrem Volontariat im Deutschlandradio als freie Autorin tätig und berichtete als Reporterin u.a. aus Zentral- und Ostafrika. Außerdem hat sie als Redakteurin und Moderatorin in der Hauptabteilung Kultur des Deutschlandfunk gearbeitet. In der Abteilung Aktuelles war sie Redakteurin und Moderatorin, u.a. moderierte sie die Sendung „Informationen am Morgen“. Sie war in dieser Zeit regelmäßig als Urlaubsvertreterin und Verstärkung immer wieder auf dem Korrespondentenplatz Paris im Einsatz.