Gain of function
Nutzen und Risiken einer umstrittenen Forschungsmethode

Lassen sich Pandemien verhindern, indem der Mensch die Evolution des Virus vorwegnimmt – im Biosicherheitslabor? Seit Corona wird verstärkt diskutiert, ob diese Forschung uns schützen kann – oder ob sie nicht eher die Gefahr einer Pandemie erhöht.

    Mitarbeiter des Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie IZI forschen in einem S3-Sicherheitslabor an hochansteckenden Viren wie dem Sars Cov 2-Virus oder dem des Westnilfiebers.
    Auch in Sicherheitslaboren können Fehler passieren - mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen. (picture alliance / dpa / Jan Woitas)
    Im Labor lassen sich Viren genetisch so manipulieren, dass sie gefährlicher werden. So erkennen Forscher, welche Mutationen eine Gefahr darstellen: Die natürliche Entwicklung von Krankheitserregern soll vorweggenommen werden, um sie zu stoppen. Im Fall des Vogelgrippe-Virus H5N1 etwa wird gezielt nach Mutationen gesucht, die es dem Virus erlauben würden, sich auch unter Menschen ähnlich rasch auszubreiten wie unter Vögeln.
    Doch wie nützlich ist diese sogenannte Gain-of-function-Forschung wirklich, wenn es darum geht, eine Pandemie zu verhindern? Was würde geschehen, wenn ein gefährliches Virus aus dem Labor entkommt? Sollte man die Experimente verbieten? Oder sie strenger regulieren? Welche Alternativen gibt es?

    Inhaltsverzeichnis

    Wie funktioniert Gain-of-function-Forschung?

    Die englische Bezeichnung gain of function bezieht sich auf das Ergebnis der Forschung: Das Virus kann hinterher mehr als vorher. Je gefährlicher die Pathogene, desto höher die Ansprüche an die Laborsicherheit. In einem S2-Labor (Schutzstufe 2) dürfen die Mitarbeiter verhältnismäßig harmlose Erreger untersuchen, etwa die Grippeviren, die jeden Winter in Deutschland für Halsweh, Schnupfen und Fieber sorgen.
    Für gefährlichere Keime wird eine höhere biologische Schutzstufe benötigt: S3 ist die zweithöchste. Die höchste Sicherheitsstufe erfüllen vier Biolabore in Deutschland: Das sind die sogenannten BSL-4-Labore. Hier werden vor allem Versuche mit Filoviren durchgeführt: mit Ebola- und Marburg-Viren also, die schwere, oft tödliche Fiebererkrankungen mit inneren Blutungen verursachen. BSL-4-Labore gibt es weltweit nur in 27 Ländern.
    Martin Schwemmle vom Institut für Virologie am Universitätsklinikum Freiburg beschäftigt sich vor allem mit Viren, die aus dem Tierreich stammen. Etwa Influenza-Viren, die vor allem Fledermäuse oder Vögel infizieren, aber manchmal eben auch auf Menschen überspringen – mit fatalen Folgen. „Wir haben H5N1-Viren aus Indonesien", berichtet der Forscher: "Die wurden aus einem Kind isoliert, das daran gestorben ist. Und sind natürlich hochpathogen. Wenn man sich damit infiziert, kann es sein, dass man wirklich so schwerwiegend krank wird, dass man die Person nicht mehr retten kann.“
    In den Sicherheitslaboren ist es möglich, Krankheitserreger gezielt zu verändern, ihnen neue Eigenschaften zu verleihen. Influenzaviren zum Beispiel lassen sich in Zellkulturen geradezu maßschneidern – nach einem Baukastenprinzip. Diese Viren besitzen dann neue Eigenschaften, die sie vorher nicht hatten. „Eigentlich jedes dieser Experimente ist ein Gain-of-function-Experiment - je nachdem, wie man Gain of function definiert", sagt Schwemmle.

    Welchen Nutzen bringt diese Forschung?

    Gain of function-Forschung hat vor allem den Zweck, besser auf eine potenzielle Pandemie vorbereitet zu sein, sagt der Influenzaforscher Martin Schwemmle. Die Viren in der Natur mutieren ständig. Mit Blick auf die Vogelgrippe H5N1 ist Schwemmle deswegen in Sorge - denn H5N1 frisst sich gerade als Pandemie durch die weltweiten Vogelbestände.
    „Man muss unbedingt wissen, wie diese Viren sich verändern können", sagt der Wissenschaftler. "Diese zirkulierenden Influenzaviren auf H5N1: Wenn die mal ein Säugetier infiziert haben und unglücklicherweise wieder in die Vogelwelt kommen und sich da wieder vermehren, könnte es sein, dass Säugetiersignaturen in dem Virus sind, die es erleichtern, dann den Menschen zu infizieren.“
    Das Ziel von Gain-of-function-Versuchen ist nicht nur, gefährliche Veränderungen eines Krankheitserregers frühzeitig zu erkennen. Es geht auch darum, das Pathogen an sich zu verstehen - wie es funktioniert, wie es sich vermehrt. Mit diesem Wissen können Impfstoffe oder auch wirksame antivirale Medikamente entwickelt werden.

    Welche Risiken sind damit verbunden?

    Ein Szenario ist, dass das Virus den Sprung nicht zufällig in der Natur, sondern im Labor durch die Gain-of-function-Forschung schafft: also genau durch die Maßnahme, die eine Pandemie eigentlich verhindern sollte. "Lab Leak" heißt dieses Szenario: die Katastrophe aus dem Labor.
    Ein Grippevirus, das mindestens 500.000 Menschen das Leben gekostet hat, könnte möglicherweise aus einem Impfstofflabor entwichen sein. Die ersten Fälle wurden 1977 in Russland gemeldet. Das Erbgut des Erregers zeigte auffällig viele Übereinstimmungen mit einem Influenzavirus, das zwanzig Jahre zuvor noch vorgeherrscht hatte. Es scheint daher wahrscheinlich, dass es all die Jahre in einem Labor überdauerte.
    Doch wohlgemerkt: Keines der Grippeviren ist durch Gain-of-function-Forschung entstanden. Dieser Verdacht wurde nur in Verbindung mit SARS-CoV-2 geäußert.
    Die Corona-Pandemie hat die Debatte um die Gain-of-function-Forschung wieder neu beflügelt. Einige Kritiker fordern eine Ächtung. Zu ihnen gehört auch Günter Theißen, Genetiker an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Das Risiko sei zu groß, argumentiert er, dass ein scharfgestelltes Virus aus dem Labor entkommt.
    Theißen weist darauf hin, „wie gefährlich es eigentlich ist, wenn man Viren, die ohnehin schon pathogen für den Menschen sind, aus Forschungszwecken noch gefährlicher macht“. Ein weiterer Kritikpunkt Theißens: Es sei „unklar, ob man mit diesen Experimenten überhaupt die Dinge erwischen würde, die in der Natur irgendwann einmal auftreten“.
    Kritiker sehen auch die Gefahr, dass die Ergebnisse der Forschung missbraucht werden. So könnten sich zum Beispiel Bioterroristen die Resultate und Methoden zu Nutze machen, die von Forschern in Fachmagazinen veröffentlicht werden.
    Am Bernhard-Nocht-Institut kam es im Jahr 2009 zu einem Zwischenfall in einem deutschen BSL-4-Labor: Eine Mitarbeiterin hatte sich durch drei Paar Handschuhe hindurch mit einer Nadel minimal verletzt. Die Kanüle war leer, aber zuvor hatte sie Ebola-Viren enthalten. Die Frau infizierte sich aber nicht.

    Wie reagieren Forscher auf Kritik an Gain of function?

    Zur Diskussion rund um Corona und die Gain-of-function-Forschung sagt Stephan Becker vom Institut für Virologie an der Philipps-Universität Marburg: „Nehmen wir mal an, dass dieser Sars-CoV-2-Erreger nicht aus dem Labor gekommen ist, sondern tatsächlich durch ein Tier auf den Menschen übertragen worden ist. Dann würde man sagen, es wäre unverantwortlich gewesen, mit dem SARS-CoV-1-Erreger im Labor nicht zu arbeiten und zu verstehen, wie dieses Virus übertragen wird, welche Proteine bei diesem Virus die Ziele sind für einen Impfstoff, welche Möglichkeiten es gibt, antivirale Medikamente zu entwickeln. Wenn wir alles das nicht gewusst hätten, wäre die Entwicklung von den Impfstoffen, die ja wirklich in sensationell schneller Zeit entstanden sind, in deutlich reduzierterer Art und Weise erfolgt. Wir hätten sicherlich deutlich länger gebraucht. Insofern denke ich, die Notwendigkeit, an solchen Viren zu arbeiten, liegt eigentlich auf der Hand.“
    Nicht zu forschen, hat also auch Risiken. Becker kommt zu dem Schluss, dass man etwa das „H5N1-Virus ganz engmaschig überwachen muss. Und was wir jetzt im Moment sehen, das ist ja die größte Ausbreitung von H5N1 weltweit.“
    Es ist das Dilemma der Gain-of-function-Forschung: Ohne sie sind wir blind für die Gefahr einer Pandemie. Mit ihr jedoch erhöhen wir das Risiko, dass sie ausbricht.

    Sollte diese Art der Forschung verboten oder stärker reguliert werden?

    In Deutschland gibt es jede Menge Gesetze und Vorschriften für Experimente mit Viren und Bakterien. Zusätzlich haben die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Leopoldina ein eigenes Gremium ins Leben gerufen: den Gemeinsamen Ausschuss zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung.
    Außerdem wurden sogenannte Kommissionen für Ethik in der Forschung (KEF) eingerichtet. Mittlerweile gibt es KEFs an fast jeder Universität in Deutschland. Sie dienen als Anlaufstelle für Forschende, die ein möglicherweise riskantes Projekt planen und sich nicht sicher sind, ob man es aus ethischen Gründen durchführen oder lieber lassen soll.
    In Europa wird ein Verbot der Gain-of-function-Forschung nur von einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern gefordert. In den USA schwankt die gesellschaftliche Haltung zu den scharfgestellten Viren seit jeher. Im Moment, nach der Pandemie, deuten die Zeichen wieder auf ein restriktives Vorgehen. So sind laut dem Global BioLabs Report zahlreiche Labore der höchsten Sicherheitsstufe in Planung.

    Was sind Alternativen zu Gain of function?

    Eine Möglichkeit wäre, unser eigenes Verhalten zu ändern, denn das größte Risiko sind wir selbst. Der Virologe Stephan Becker: „Ich glaube, das hat etwas damit zu tun, wie wir Menschen unsere Umwelt bespielen. Wir haben eine Art und Weise, unsere Umwelt auszunutzen - und auch Tiere auszunutzen durch Massentierhaltung, durch Pelztierfarmen - die insgesamt dazu beiträgt, dass die Gefahr von solchen pandemischen Ausbreitungen von Viren, die von dem Tier auf den Menschen überspringt, wirklich sehr groß geworden ist.“
    Gefährliche Virusvarianten können dann besonders gut entstehen, wenn verschiedene Spezies in einem Zuchtbetrieb für Tiere auf engem Raum zusammenkommen. Schweine oder Nerze können dann als Mischgefäß dienen, wenn sie zum Beispiel gleichzeitig mit menschlichen Grippeviren und Vogelgrippeviren infiziert sind. Die Virus-Stämme sind dann in der Lage, Gene auszutauschen und damit ihr Wirtsspektrum zu erweitern.
    Im Oktober 2022 kam es zu einem großen Ausbruch von H5N1 in einer Pelztierfarm in Spanien. Und seit Mitte Juli 2023 sind bereits unzählige Pelztierfarmen im Westen von Finnland betroffen. Eine Mutation wurde gefunden, die eine Ansteckung zwischen Nerzen erleichtert.
    Noch schafft die neue Mutante nicht den Übersprung auf Menschen, doch die Gefahr besteht, dass in den Nerzen Mixturen entstehen, die dann in der Bevölkerung so leicht übertragbar sind wie humane Influenzaviren - und so tödlich wie Vogelgrippeviren.

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