Der wissenschaftliche Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Christian Karagiannidis, hat den Vorstoß von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" auslaufen zu lassen, als zu früh kritisiert. Noch seien zu viele Menschen ungeimpft, sagte der in Köln tätige Arzt im Deutschlandfunk. "Das Deltavirus ist so infektiös, dass die Ungeimpften sehr schnell infiziert werden und das insbesondere jetzt natürlich durch den saisonalen Effekt, wenn alle wieder in die Innenräume gehen."
Die Hospitalisierungsrate, laut RKI aktuell (23.10.2021) auf dem Stand von 2,68, bezeichnete Karagiannidis als schwierigen Wert. Er habe eine hohe zeitliche Verzögerung und "reflektiert nicht unbedingt das, was wir immer auf den Intensivstationen sehen". Das Durchschnittsalter der Corona-Patienten habe sich verschoben; im Schnitt lägen die Patienten beispielsweise in Köln etwa 50 bis 60 Tage. Dadurch gebe es immer weniger freie Intensivbetten. Gleichzeitig fehle es an Pflegepersonal.
Karagiannidis rechnet zudem mit einem stetigen Ansteigen der Corona-Neuinfektionen "und einer Plateaubildung, die sich weit ins nächste Frühjahr hineinziehen wird". Dadurch werde es noch weniger Platz auf den Intensivstationen geben. Daher sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, die Corona-Notlage auslaufen zu lassen, wie es Gesundheitsminister Spahn im Deutschlandfunk bekräftigt hatte. Auch halte er es nicht für realistisch, dass Deutschland im nächsten Frühjahr in einen Normalzustand zurückkehren könne.
Das Interview in voller Länge
Stephanie Rohde: Über 30-mal sind die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten in der Corona-Pandemie schon zusammengekommen, aber so einig waren sie sich selten wie gestern: Einen Flickenteppich in der Pandemiebekämpfung soll es nicht geben, nachdem die epidemische Lage von nationaler Tragweite ausläuft Ende November. Die Inzidenz liegt inzwischen wieder bei 100, auch mehr geimpfte Menschen infizieren sich mit Corona.
Wie besorgniserregend ist die Lage gerade? Darüber kann ich sprechen mit Christian Karagiannidis, er ist leitender Oberarzt an der Lungenklinik Köln-Merheim und wissenschaftlicher Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin – dieses Register erfasst die freien und die belegten Betten in der Intensivmedizin. Einen schönen guten Morgen!
Christian Karagiannidis: Guten Morgen!
Rohde: Viele Erwachsene sind ja geimpft, kann man also gelassen auf diese 100er-Inzidenz schauen?
Karagiannidis: Nein, das können wir im Moment leider nicht. Wir sehen zum einen ja einen wirklich deutlichen Anstieg seit ungefähr zehn Tagen mit erheblichen Wachstumsraten in den Inzidenzen. Wir hatten ja Stand gestern (22. Oktober Anm. d. Red.) zum Beispiel plus 45 Prozent zur Vorwoche, und die Inzidenzen sind weiterhin extrem eng gekoppelt an die Aufnahmen auf die Intensivstationen, und das bereitet uns doch erhebliche Sorgen.
"Wir haben in Deutschland noch zu viele ungeimpfte Menschen"
Rohde: Aber es hieß doch lange, die Inzidenz ist inzwischen weniger aussagekräftig, weil so viele Menschen geimpft sind, oder?
Karagiannidis: Ja, das ist sicherlich auch richtig, dass die Inzidenzen weniger aussagekräftig sind, wenn man sie eins zu eins übertragen würde auf das, was wir in den letzten drei Wellen haben. Aber Herr Spahn sagte irgendwann mal, 200 ist das neue 50. Ich würde sagen, von den Zahlen, die wir im Moment sehen, ist es eher so, dass 125 das neue 50 ist. Wir haben einfach in der Menge in Deutschland noch zu viele ungeimpfte Menschen, und das Deltavirus ist so infektiös, dass die Ungeimpften sehr schnell infiziert werden und das insbesondere jetzt natürlich durch den saisonalen Effekt, wenn alle wieder in die Innenräume gehen.
Rohde: Machen wir das mal konkret: Eine 125er-Inzidenz, sagen Sie, ist die neue 50er-Inzidenz – was bedeutet eine 125er-Inzidenz für Sie auf den Intensivstationen?
Karagiannidis: Ja, wir haben Stand heute ungefähr 1.500 COVID-Patienten auf den Intensivstationen, und ich hab das mal rausgesucht: Vor einem Jahr war es so, dass wir 360 COVID-Patienten auf der Intensivstation hatten und ungefähr 20.000 belegte Intensivbetten. Stand heute haben wir auch ungefähr 20.000 Intensivbetten, die belegt sind. Das Problem ist, das wir im Moment haben, dass wir im Oktober letzten Jahres fast 8.000 freie Betten hatten und Stand heute haben wir noch ungefähr 2.500 freie Betten.
Das heißt, uns ist ein ganz erheblicher Teil der Intensivkapazität verloren gegangen in den letzten zwölf Monaten, weil uns schlichtweg das Pflegepersonal fehlt. Das bedeutet, dass wir jetzt mit 3.000 COVID-Patienten ganz anders umgehen müssen als im letzten Jahr noch mal, wenn die auf uns zurollen, und das werden sie.
Rohde: Ab wann, würden Sie sagen, sind Sie überlastet?
Karagiannidis: Die Frage ist extrem schwierig, weil die Intensivmedizin ein relativ dynamisches System ist. Wenn wir sagen, wir haben heute noch ungefähr 2.500 freie Intensivbetten, bedeutet das nicht, dass ich die alle belegen kann, weil man immer noch ein bisschen was übrig behalten muss für den nächsten Notfall. Und wenn wir noch mal 1.500 Patienten dazu kriegen, also ungefähr bei 3.000 sind, dann wird es dieses Jahr wirklich schwierig werden, das aus dem Regelbetrieb heraus zu stemmen.
Die erste Maßnahme, um die wir wahrscheinlich nicht herumkommen werden, ist wieder eine Einschränkung in der Versorgung in den Kliniken, eine Konzentration auf die Beatmungsfälle und wieder das Gleiche, was wir eigentlich vermeiden wollten, was wir jetzt in den letzten drei Wellen gemacht haben.
"Patienten liegen 50, 60 Tage auf der Intensivstation"
Rohde: Es gibt ja auch diesen anderen Indikator, nämlich die Hospitalisierung. Das ist die Zahl der in Kliniken aufgenommenen Corona-Patienten je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Das Robert Koch-Institut hat das gerade angegeben mit 2,68. Der bisherige Höchstwert, der lag ja um die Weihnachtszeit bei rund 15,5, da sind wir ja weit von entfernt. Was sagen Sie denn Menschen, die jetzt sagen, na ja, wir haben diesen neuen Indikator, und der scheint doch sehr in Ordnung zu sein, warum jetzt der Alarmismus.
Karagiannidis: Ja, ich glaube, Alarmismus für den jetzigen Zeitpunkt würde ich nicht sagen. Ich glaube, wir müssen sehr wachsam sein, aber die Hospitalisierungsinzidenz ist ein schwieriger Wert. Er wird gemeldet an die Gesundheitsämter, hat eine hohe zeitliche Verzögerung – das haben wir in den letzten Wochen gesehen – und reflektiert nicht unbedingt das, was wir immer auf den Intensivstationen sehen.
Wir haben ja doch nun deutliche Verschiebungen des Durchschnittsalters bei den Intensivpatienten und sehen, dass die erheblich länger liegen. Und es ist auch keine Seltenheit, bei uns in Köln zum Beispiel, dass die Patienten 50, 60 Tage auf der Intensivstation liegen und das dann auch wirklich gut überleben. Das bedeutet, dass wir in allererster Linie auf Inzidenzen und die Kapazitäten auf den Intensivstationen schauen müssen und weniger auf den Hospitalisierungsindex.
Rohde: Aber man muss ja auch sagen, Sie haben jetzt mehr jüngere Patienten, Patientinnen auf der Intensivstation, die sterben aber nur seltener, und Infektion bedeutet ja nicht gleich Krankheit, vor allem bei den geimpften Menschen. Also ist es doch grundsätzlich weniger dramatisch, oder?
Karagiannidis: Nein. Erstens ist natürlich diese Schwere der Erkrankung enorm hoch und die Last auch für die Intensivstationen durch die Beatmungsfälle enorm hoch. Das ist auch einer der Gründe, warum uns so viele Pflegekräfte im Laufe der Pandemie verlassen haben. Aber es ist auch so, dass dadurch, dass die jungen Menschen so gut überleben, einfach auch die Belegung auf den Stationen sehr lange hochgehalten wird. Wir haben jetzt nicht wie in den letzten drei Wellen die Aussicht, dass es irgendwann mal wieder ein Abflachen gibt durch irgendeine Maßnahme, sondern in unseren Prognosen gehen wir jetzt davon aus, dass wir ein relatives stetiges Steigen bekommen und eine Plateaubildung, die sich weit ins nächste Frühjahr hineinziehen wird. Das ist ein enormes Problem bei den viel weniger freien Betten, die wir im Moment zur Verfügung haben.
Rohde: Und was bedeutet es, wenn dann die epidemische Lage Ende November ausläuft?
Karagiannidis: Ja, das ist das falsche Zeichen, und zwar ist es deswegen das falsche Zeichen, weil es vermittelt, dass es ja alles überhaupt kein Problem ist mit Corona. Ich glaube, gerade diese sprunghaft steigenden Zahlen in den letzten Tagen zeigen, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Und das zweite Problem, das sich damit verbindet, ist, dass wir natürlich ein Stück weit auch Kontrollmöglichkeiten aus der Hand geben. Es braucht schon sehr klare Vorgaben von politischer Seite und auch Hilfestellung für die Krankenhäuser – was sollen wir tun, wenn die Betten wirklich vollständig belegt sind.
Ich glaube, das System ist schon so dynamisch, dass es immer alles versucht auszunutzen, was möglich ist, aber wenn dann Kapazitätsgrenzen erreicht sind, dann brauchen wir auch wirklich Hilfestellungen. Deswegen ist die Diskussion um das Auslaufen der Maßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt, wie ich finde, schwierig, und wenn man es denn tut, dann braucht es zumindest Ersatzregelungen.
Karagiannidis: Arbeitgeber sollte freiwillig Homeoffice anbieten
Rohde: Genau, aber es geht ja jetzt erst mal um das Auslaufen dieser epidemischen Lage, aber die Vorsichtsmaßnahmen, die können ja beibehalten werden, das betonen ja auch alle. Die Bundesländer wollen jetzt ja auch eine einheitliche Grundlage. Das würde Ihnen nicht weiterhelfen?
Karagiannidis: Ich glaube, das würde natürlich schon helfen, wenn wir die gleichen Steuerungsmöglichkeiten haben, und das sind natürlich insbesondere weiter, dass wir das Maskentragen in den Innenräumen haben. Und worauf wir auch ein Stück weit setzen, ist eine gewisse Freiwilligkeit in der Bevölkerung und auch bei den Arbeitgebern. Wenn wir sehen werden, dass die Intensivstationen wieder wirklich voll sind in den Wintermonaten, und da muss man von ausgehen, dann wären wir extrem dankbar, wenn die Masken relativ lange getragen werden, insbesondere in den Innenräumen, wenn die Arbeitgeber freiwillig hergehen würden und sagen, guckt mal hier, die Intensivstationen sind voll, wir machen doch wieder mehr Homeoffice. Ich glaube, das würde uns ein Stück weit helfen auf den Stationen auch ohne diese Regelung.
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Rohde: Gesundheitsminister Jens Spahn sagt, wir müssen in die nächste Phase übergehen, auch wenn wir das tun müssen mit besonderer Vorsicht, um dann im Frühjahr zum Normalzustand zurückzukehren. Halten Sie das für realistisch?
Karagiannidis: Nein, ich halte das nicht für realistisch, und Sie sehen gerade in England, was passiert. Die Engländer haben eine deutlich höhere Dunkelziffer von Genesenen und sind da sicherlich auch ein Stück weiter, und Sie sehen trotzdem, dass die einen sprunghaften Anstieg haben, zum Teil auf 50.000 Neuinfektionen pro Tag, und jetzt schon wieder Schwierigkeiten haben mit über 1.000 Aufnahmen mit COVID-Patienten pro Tag in die Krankenhäuser. Das ist für uns, glaube ich, ein sehr wichtiges Warnsignal, dass unser Wunsch weiter ist als die Wirklichkeit. Wir müssen einfach noch ein bisschen Geduld haben.
Rohde: Welche Impfquote würde Ihnen denn helfen? Also wenn wir jetzt, sagen wir mal, über 70 Prozent lägen, würde das schon etwas ändern?
Karagiannidis: Nein, das hilft uns nicht so wahnsinnig, weil über 70 Prozent bedeutet, dass einfach 30 Prozent ungeimpft sind mit einem Virus, was eine extrem hohe Verbreitung hat. Es gab mal aus Amerika die Aussage, das ist so wie Windpocken, das stimmt nicht ganz von den Werten her, aber so kann man sich das vielleicht vorstellen mit der Deltavariante.
Selbst wenn wir 20 Prozent Ungeimpfte haben bei den 18- bis 60-Jährigen, dann bedeutet das immer noch, dass das acht Millionen Menschen sind. Wir hatten in den letzten Wintern die gleiche Zahl, die ungefähr dann am Ende betroffen war, sodass man sagen muss, die Absolutzahl der Menschen ist einfach noch zu groß, die ungeimpft sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.