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Soziale Ungleichheit
Markus Marterbauer und Martin Schürz wollen eine neue Wirtschaftspolitik

Westliche Gesellschaften tolerieren Armut, während einige wenige enorm viel besitzen. Zwei österreichische Experten für Vermögensverteilung fordern eine Obergrenze für Vermögen zu Gunsten einer Null-Armuts-Politik.

Von Katja Scherer | 12.12.2022
Markus Marterbauer, Martin Schürz: "Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht"
Markus Marterbauer und Martin Schürz entwerfen eine neue Art der Wirtschaftspolitik, denn die Dinge sehen aus Sicht der Arbeitnehmer oft anders aus als aus Sicht der Unternehmen. (Foto links (Markus Marterbauer): ©Arbeiterkammer, Foto rechts (Martin Schürz): © Luiza Puiu, Buchcover: Paul Zsolnay Verlag)
Markus Marterbauer und Martin Schürz kommen aus Österreich: Marterbauer ist Chefökonom der Arbeiterkammer Wien, der gesetzlichen Interessenvertretung österreichischer Arbeitnehmer. Martin Schürz arbeitet in Wien als Psychotherapeut und forscht zur Vermögensverteilung in Europa. In ihrem Buch fordern sie eine Wirtschaftspolitik, die alle Armut abschafft und so den Menschen existentielle Ängste nimmt. Politisch vertreten sie damit eine sehr linke Position, schreiben sie selbst einleitend:
„Wir legen in diesem Buch vorab unsere gesellschaftspolitischen Ziele offen: soziale Gerechtigkeit, Unantastbarkeit der menschlichen Würde, hohe Lebensqualität und mehr Freiheit für alle. Wir stehen in den sozialen Auseinandersetzungen auf der Seite der sozial Benachteiligten und der von Ängsten gequälten Menschen.“

Angst als politisches Instrument

Marterbauer und Schürz kritisieren, dass die aktuelle, neoliberale Wirtschaftspolitik Ängste der Menschen gezielt nutze, um so bestimmte Verhaltensanreize zu setzen. Ein Beispiel: Viele Staaten, darunter auch Deutschland, zahlen Arbeitslosengeld nur für einen begrenzten Zeitraum. Finden Arbeitslose nicht binnen dieser Zeit eine neue Stelle, bekommen sie nur noch ein Minimum an Sozialleistungen; in Deutschland Hartz IV beziehungsweise ab Januar Bürgergeld. Das soll die Betroffenen motivieren, schnell eine neue Arbeit zu suchen. In der Praxis aber zwinge es Menschen dazu, Zitat: „miese Jobs“ anzunehmen und führe zu Armut bei denen, die gar keinen Job finden, schreiben Marterbauer und Schürz:
„Die Menschenverachtung dieser Ideen ist offensichtlich. Sie stammt aus dem Laboratorium ökonomisch bessergestellter Eliten, die sich weder mit den Lebensrealitäten der Armen noch jenen der Beschäftigten auseinandergesetzt haben. Das fundamentale Recht auf politische Gleichheit würde bedeuten, dass die Benachteiligten an politischen Entscheidungen tatsächlich teilhaben. Sie hätten dann etwa auch die Chance, Verhaltensanreize für die Reichen zu formulieren.“

Der Übermacht der Reichen Grenzen setzen

Aus Sicht der Autoren sollte die Wirtschaftspolitik auf Angst als Anreiz verzichten. Menschen sollten durch höhere Sozialleistungen, bessere Gesundheitsversorgung und bessere Bildungschancen grundsätzlich angstfrei leben können. Den sogenannten „Überreichtum“ der Vermögenden wollen die Autoren dagegen begrenzen:
„Die Angst der vielen um das wenige und die Angst der wenigen um ihr Großes können nicht von gleicher Wichtigkeit für die Wirtschaftspolitik sein. […] Die Ängste der Armen und der Erwerbstätigen und nicht jene der Reichen sollen prioritär für die Wirtschaftspolitik sein. Auch mögliche Verlustängste von Eigentümer:innen bei rechtlichen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen müssen ernst genommen werden, sie dürfen aber die Wirtschaftspolitik nicht zu Lasten der vielen dominieren.“
Marterbauer und Schürz gehen Schritt für Schritt durch, wie man die Wirtschaftspolitik neu aufstellen sollte. Ein Kapitel dreht sich um bessere Pflege und Gesundheitsversorgung, in einem Kapitel geht es um angemessene Mindestlöhne, in einem um bezahlbaren und gesicherten Wohnraum. Darüber hinaus sollte man das Vermögen der Reichen einschränken, schreiben sie. Durch eine Vermögensteuer, eine weitreichende Erbschaftsteuer und eine Reichtumsobergrenze:
„Ein demokratisch vereinbartes Maximalvermögen würde eine Obergrenze setzen, die befreit und die Demokratie der vielen vor dem Überreichtum der wenigen schützt. Seine Ausgestaltung und Höhe muss demokratisch ausgehandelt werden. Wir argumentieren für ein Maximalvermögen von einer Milliarde Euro.“

Eine Welt ohne extremen Reichtum – und ohne Armut

Mehr dürfte also kein Mensch haben. Diese Steuern und Obergrenzen könnte man nutzen, um bessere Bedingungen für Geringverdiener zu finanzieren:
„Wir rechnen für die unmittelbar notwendigen Geldleistungen einer Null-Armut-Strategie mit Kosten von etwa zwei Milliarden Euro pro Jahr. Weitere zwei Milliarden Euro wären notwendig, um Kindergärten und Schulen zu verbessern. Diese Kosten entsprechen gerade einem Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Das wäre etwa das Aufkommen einer Vermögenssteuer mit einem Steuersatz in der bescheidenden Höhe von einem Prozent auf das Vermögen der Millionärshaushalte.“
Diese Rechnung bezieht sich auf Österreich, wie viele Details im Buch. Das schmälert den Mehrwert für deutsche Leserinnen und Leser. Interessant ist, dass die Autoren für jedes Kapital Interviews mit externen Expertinnen und Experten geführt haben. Zum Beispiel mit der Millionenerbin Marlene Engelhorn, die sich für eine Vermögensteuer einsetzt oder mit der Psychologin Gertraud Bogyi, die erklärt, was das Aufwachsen in Armut für Kinder bedeutet. Schade ist, dass zwar Bildungsaufsteiger, aber keine bedürftige Familie zu Wort kommt. Dadurch bleibt der Begriff der Armut im Buch etwas abstrakt. Politisch sind die Forderungen der Autoren kontrovers. Ganz sicher ist das Buch aber gut für einen Perspektivwechsel. Zum Beispiel beim Fachkräftemangel, den derzeit viele Unternehmen als Problem sehen. Marterbauer und Schürz schreiben:
„Heute gilt Arbeitskräfteknappheit fälschlich als Hemmnis der wirtschaftlichen Entwicklung. In den 1970er Jahren nannte man sie Vollbeschäftigung, und sie war das wichtigste Ziel der Wirtschaftspolitik.“
Eine Erinnerung, dass Dinge aus Sicht der Arbeitnehmer oft anders aussehen als aus Sicht der Unternehmen. Das ist einer der interessanten Gedanken, die das Buch lesenswert machen.
Markus Marterbauer, Martin Schürz: "Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht", Paul Zsolnay Verlag, 383 Seiten, 26 Euro.