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Tödliche Muskelerkrankung
Wirksamkeit von neuem Medikament gegen ALS bleibt umstritten

Die kanadische Arzneimittelbehörde hat ein Medikament gegen die Muskelerkrankung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) vorläufig zugelassen. Auch in den USA und Europa wird darüber diskutiert. Kann das neue Präparat den Verlauf der tödlichen Erkrankung beeinflussen?

Von Lukas Kohlenbach | 01.09.2022
Das Vorstandsmitglied des Vereins ALS-mobil, Oliver Juenke, schreibt am 04.04.2014 auf der Messe "Miteinander Leben" in Berlin über ein Eyegaze-System mit seinen Augen auf einem Computer "ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen".
Manche ALS-Patienten können nur mit HIlfe spezieller Schnittstellen kommunizieren. (picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert)
AMX0035 - hinter diesem kryptischen Namen verbirgt sich ein Wirkstoff, der momentan Hoffnungen bei ALS-Betroffenen schürt. Die US-amerikanische Firma Amylyx Pharmaceuticals hat das Medikament entwickelt. Die kanadischen Zulassungbehörden haben es im Juni vorläufig zugelassen - bis weitere Daten aus einer größeren Studie vorliegen. Das könnte noch bis 2024 dauern. Doch auch in den USA und Europa diskutieren die Behörden nun, ob sie das Medikament, das in Kanada unter dem Namen Albrioza verkauft wird, vorläufig zulassen.

Das wäre ein großer Schritt, denn die tödliche Muskelerkrankung schreitet schnell voran, und Therapieoptionen sind rar, erklärt Patrick Weydt, der eine Spezialambulanz für ALS-Betroffene an der Uniklinik Bonn leitet: "Es gibt ein Medikament, was da ein bisschen hilft. Das ist Riluzol. Das ist eine Tablette, die man zweimal am Tag einnehmen kann und die das Fortschreiten um ein paar Monate verzögert."

Auch hochkalorische Ernährung könne den Verlauf günstig beeinflussen, berichtet der Neurologe: "Aber keine dieser Maßnahmen, auch die, die das günstig beeinflussen, führen zu einer Heilung. Die Krankheit bleibt leider bislang unheilbar."

Patientenverbände machen Druck

Bis heute ist nicht komplett verstanden, was ALS auslöst. Wahrscheinlich ist es eine Vielzahl von Faktoren, die zusammenspielen. Es gibt Hinweise auf Entzündungsprozesse in den Nervenzellen und Schäden durch Stoffwechselprozesse. Auch die Ablagerung von Eiweißen soll eine Rolle spielen. Pharmafirmen testeten in den letzten Jahren in Studien eine Vielzahl von Substanzen, die in diese unterschiedlichen Prozesse eingreifen sollen. Ohne Erfolg.

Tatjana Reitzig kam 2002 das erste Mal mit der Erkrankung in Berührung, als ein Fall in ihrer Familie auftrat. Heute engagiert sie sich als Vorsitzende der Diagnosegruppe ALS innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke. Die Enttäuschungen der letzten Jahre machen etwas mit den Betroffenen, sagt sie: "Das macht auch ein bisschen müde, weil das Riluzol/Rilutec gab es schon 2002 und das ist immer noch das einzige Medikament im Grunde, was sich hartnäckig hält, sage ich immer. Also man muss schon dabei bleiben und muss auch Ausdauer haben, um da nicht den Mut zu verlieren."

Gerade in den USA machen Patientenverbände Druck, den Zugang zu neuen Medikamenten, die in Studien noch nicht endgültig eine Wirksamkeit zeigen konnten, schneller zu ermöglichen. Auch bei Albrioza, dem Präparat von Amylyx Pharmaceuticals, ist das so. In einer Studie mit 137 Patienten schritt die Erkrankung bei den mit Albrioza Behandelten ein wenig langsamer voran.

US-Zulassungsbehörde zögert Entscheidung hinaus

"Es scheint gegen die Stressreaktion von Nervenzellen zu wirken", erklärt Patrick Weydt aus Bonn, der am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen zu den Ursachen der ALS forscht. "Also Nervenzellen, die großen Belastungen ausgesetzt sind und deswegen zugrunde gehen, zeigen eine Stressreaktion. Und dieses Albrioza oder AMX 0035 ist eine Kombination aus zwei relativ einfachen und gut bekannten Chemikalien, die diesen Stress so ein bisschen abmildern."

Wie gut die Wirksamkeit tatsächlich ist, ist stark umstritten. Das Beratungsgremium der US-amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde FDA hatte sich im März dieses Jahres gegen eine beschleunigte Zulassung ausgesprochen. Doch die Abstimmung darüber war mit sechs zu vier Stimmen denkbar knapp. Statt wie ursprünglich geplant im Juni endgültig über eine Zulassung zu entscheiden, verschob die FDA die Entscheidung auf Ende September und lässt erneut Experten auf die schwer zu interpretierenden Daten schauen.

Zulassung auch in Europa?

Fest steht jedoch: Wenn überhaupt, würde auch Albrioza nur eine kleine, für die Betroffenen kaum merkliche Verbesserung des Krankheitsverlaufs bringen, so Patrick Weydt: "Man weiß ja selber nicht, wie schnell die Krankheit bei einem verläuft. Und darum merkt man auch nicht, wenn es besser verläuft. Man merkt auch nicht, wenn es schlechter verläuft. Man kennt den eigenen individuellen Verlauf nicht."

Auch bei der Europäischen Zulassungsbehörde ist ein Antrag gestellt für AMX0035. Die Herstellerfirma rechnet mit einer Entscheidung im ersten Halbjahr 2023. Doch auch wenn das Präparat nicht der Durchbruch in der Therapie der ALS sein wird - Patrick Weydt bleibt hoffnungsvoll:

"Es sind im Moment noch kleine Schritte, aber es sind viel sicherere Schritte, als die, die wir vor 20, 30 Jahren gemacht haben. Die Krankheit ist immer noch sehr schwerwiegend, aber sie ist besser handhabbar heutzutage für die Familien, für die Betroffenen und für das Gesundheitssystem. Und die kleinen Schritte werden relativ kurzfristig dann wahrscheinlich Durchbrüche ermöglichen."