Kinder- und Jugendärzte warnen in einem offenen Brief vor einem Mangel an Medikamenten für Kinder. Verbandspräsident Thomas Fischbach sagte Ende April 2023 der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, es fehle etwa an Fieber- und Schmerzmedikamenten in kindgerechter Darreichungsform. Auch Penicillin gebe es derzeit nicht.
Fischbach zählt zu den Mitunterzeichnern eines offenen Briefs der Kinderärzte von Deutschland, Frankreich, Südtirol, Österreich und der Schweiz an die Gesundheitsminister der jeweiligen Länder. In dem Brief heißt es, die Gesundheit der Kinder sei durch den Medikamentenmangel europaweit gefährdet. Die Politik stehe in der Verantwortung, eine ausreichende Produktion und Bevorratung wichtiger Arzneimittel in Europa sicherzustellen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft warnte am 5. 5. 2023 davor, dass der Mangel an Medikamenten für Kinder immer häufiger auch Kliniken treffen könnte.
- Wie viele und welche Medikamente sind von Lieferengpässen betroffen?
- Warum gibt es aktuell Lieferengpässe bei Arzneien?
- Welche kurzfristigen Lösungen gibt es für die Kunden?
- Welche Maßnahmen plant Gesundheitsminister Lauterbach gegen den Medikamentenmangel?
- Wie lautet die Kritik der Verbände?
- Geht Medikamentenherstellung in Europa?
Wie viele und welche Medikamente sind von Lieferengpässen betroffen?
Engpässe gibt es in Apotheken, Arztpraxen und Kliniken demnach vor allem bei Fiebersäften für Kinder, Hustenmitteln, Blutdrucksenkern und Brustkrebsmedikamenten. Auch Antidepressiva, Schmerzmittel, Antibiotika, Fieberzäpfchen und eine ganze Reihe von weiteren Medikamenten für Kinder, die in diesen Tagen besonders stark nachgefragt werden, waren Mangelware.
Arzneimittel-Engpässe hat es allerdings schon immer gegeben, vor allem in der Zeit von Infektionswellen. Die Arzneimittel-Versorgung war so angespannt wie zuletzt 2020.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArm) führt eine Online-Datenbank zu aktuellen Lieferengpässen über Arzneimittel (ohne Impfstoffe) in Deutschland. Diese beruht auf den freiwilligen Meldungen der Pharmazeutischen Unternehmer, also zum Beispiel der Arzneimittelhersteller und listet für 2022 über 560 Erstmeldungen von Medikamenten-Lieferengpässen. Bei 60.000 verschiedenen Arzneimitteln, die über das Jahr hinweg über die Apotheken abgegeben werden, ist das allerdings keine besorgniserregende Zahl.
Das Wissenschaftliche Instituts der AOK (WIDO) überblickt die Lage bei den Arzneimitteln, die auf Rezept abgegeben werden und betont, dass es sich um Lieferengpässe handelt und nicht um einen umfassenden Versorgungsengpass. Meistens sind die Medikamente nach wenigen Wochen wieder verfügbar.
Warum gibt es aktuell Lieferengpässe bei Arzneien?
Die Lieferengpässe halten schon seit langem an und haben sich wegen der fragilen Lieferketten während der Corona-Pandemie deutlich verschärft. Denn nur noch ein Teil der Medikamente wird noch in Deutschland oder der EU gefertigt. So können überall Engpässe entstehen: beispielsweise bei den Vorprodukten, die aus China kommen, bei der Produktion, die in Indien stattfindet, bei den Blistern für die Tabletten, die aus Osteuropa stammen oder wegen Papiermangels in Bayern, wo alles nochmal umgepackt und mit einem deutschen Beipackzettel versehen wird.
Als wichtige Ursache für die Versorgungsprobleme gilt daher die Globalisierung: "Die hohe Abhängigkeit Europas von asiatischen Wirkstoffherstellern ist problematisch. Es liegen 68 Prozent der Produktionsorte von bestimmten Wirkstoffen für Europa in Asien", heißt es in einer Studie des Pharmaverbands VFA.
Kommt es also zum Beispiel in China zu Produktions- und Lieferengpässen wegen Fertigungsproblemen, Verunreinigungen oder Produktionsstopps, fehlen hierzulande dringend benötigte Wirkstoffe.
Warum es erst jetzt zu Engpässen kommt und nicht schon während der ersten zwei Pandemiejahre, bleibt allerdings unklar: Wann welche Arzneimittel knapp werden, liegt weitgehend im Dunkeln. Krankenkassen schließen Rabattverträge mit den Arzneimittelherstellern. Damit sparen die Kassen Milliardenbeträge. Im Gegenzug dafür bekommen die Hersteller eine Abnahmegarantie und müssen Lieferzusagen einhalten.
Dazu kommt die Kostenfrage: Seit Jahren werden in Deutschland patentfreie Medikamente wie zum Beispiel Fiebersäfte mit einem unveränderten Festbetrag abgerechnet, ohne dass es zu einer Anpassung gekommen ist. So ist der Preis für Paracetamol laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte innerhalb eines Jahres um 70 Prozent gestiegen, aber der Festpreis, den Hersteller von den Krankenkassen pro Flasche Fiebersaft erhalten, ist gleich geblieben.
Der Markt hat darauf reagiert: Von ehemals elf Herstellern sind nur noch zwei übrig. Bei anderen Medikamenten haben Hersteller die Produktion ganz eingestellt.
Welche kurzfristigen Lösungen gibt es für die Kunden?
Oft gelingt es den Apothekern, die Kundinnen und Kunden mit Medikamenten anderer Hersteller mit ähnlicher Wirkung, oft sogar mit demselben Wirkstoff, zu versorgen. Oder es gibt in anderen Apotheken noch Restbestände.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte empfiehlt in Abstimmung mit den medizinischen Spitzenverbänden außerdem als Kompensationsmaßnahme die Fertigung von individuellen Rezepturen, also Mischungen auf ärztliche Verschreibung in den Apotheken. Aber auch hier fehlen oft die Vorprodukte, also die Zutaten, um medizinisch wirksame Mischungen herzustellen.
Die Krankenkassen versuchen ebenfalls gegenzusteuern, indem sie beispielsweise Mehrkosten für importierte Medikamente, aber auch die Kosten für in Apotheken eigens angerührte Säfte verstärkt übernehmen.
Welche Maßnahmen plant Gesundheitsminister Lauterbach gegen den Medikamentenmangel?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hatte schon am 20. Dezember 2022 einen Fünf-Punkte-Plan zur besseren Arzneimittelversorgung angekündigt. Demnach soll es eine deutlich bessere Bezahlung für bestimmte Generika geben, also für Nachahmermedikamente von Arzneimitteln, deren Patentschutz bereits ausgelaufen ist, die aber eine wichtige Rolle in der medizinischen Grundversorgung spielen, etwa Paracetamol oder Ibuprofen.
"Ich werde heute schon reagieren, dass die Krankenkassen angewiesen werden, 50 Prozent mehr zu zahlen als diesen Festbetrag. Dann werden die Medikamente, die jetzt in Holland verkauft werden, wieder in Deutschland verkauft. Denn oft ist es so, dass die gleichen Medikamente im Ausland besser bezahlt werden. Dann wandern sie, wenn es knapp sind, ins Ausland", erklärte Lauterbach im ARD-Morgenmagazin.
Daneben soll das BfArM eine Liste der bereits zugelassenen Medikamente erstellen, die für die Sicherstellung der Versorgung von Kindern erforderlich sind. Für diese Arzneimittel dürfen zukünftig keine Rabattverträge mehr abgeschlossen sowie keine Festbeträge mehr verlangt werden. Aber auch hier sollen die Preisobergrenzen maximal auf das 1,5-Fache des bisherigen Preises erhöht werden.
Zudem sollen künftige Rabattverträge nicht mehr allein mit dem günstigsten Anbieter geschlossen werden, wodurch Lieferverträge meist mit einem außereuropäischen Hersteller zustande kamen, sondern zugleich auch ein europäischer Produzent als Zweitlieferant einbezogen werden, um die Lieferketten zu verbreitern. Diese Regelung soll zunächst nur für Antibiotika und Krebsmedikamente geltend. Man müsse dafür sorgen, dass auch in Europa produziert werde, so Lauterbach, der auch eine monatelange Lagerhaltung vorschreiben will. Die eilends eingeleitete Reform geht mit absehbaren Mehrkosten im dreistelligen Millionenbereich einher.
Wie lautet die Kritik der Verbände?
Eine Dauerlösung ist die Maßnahme indes wohl nicht. Der Pharmaindustrie kurzfristig höhere Preise zu ermöglichen, sei nicht nachhaltig, heißt es von der GKV. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung fordert mehr Klarheit und Verbindlichkeit bei der Aufhebung der Preisschranken, die sich bislang nur auf die Arzneimittel, nicht aber auf die Behandlungskosten der Kinderärzte beziehen, geschweige denn die der Hausärzte. Das sei schon im Koalitionsvertrag angekündigt worden.
Von einer verwunderlichen und eigenartigen Regelung spricht Florian Lanz, der Sprecher des Gesamtverbandes der gesetzlichen Krankenkassen. "Da haben wir Pharmaunternehmen, die ihre Lieferverträge nicht einhalten, obwohl sie vorher zu diesen Preisen ihre Produkte angeboten haben. Und zur Belohnung - quasi als Weihnachtsgeschenk - sollen sie jetzt mehr Geld dafür bekommt und die Beitragszahler sonst bezahlen", sagte Lanz im Dlf. "Da läuft aus unserer Sicht etwas gewaltig schief." Denn sofern es sich dabei um Standortpolitik handele, sei der Bund gefordert und nicht die Krankenkassen.
Geht Medikamentenherstellung in Europa?
In einem Forschungsprojekt der Universität Würzburg wirft Richard Pibernik zusammen mit seinem Team einen analytischen Blick auf Lieferketten. Der Logistikforscher ist skeptisch, dass sich die Produktion von Arzneien trotz großer Ankündigung mancher Pharmaunternehmen ohne weiteres nach Europa verlagern lassen: Oft verschleierten solche Ankündigungen, dass lediglich die letzte Produktionsstufe vor Ort stattfinde – das Problem störanfälliger Lieferketten bleibe aber weiter bestehen.
Auch hält er es für einen Irrweg, sich völlig unabhängig von internationalen Handelspartnern machen zu wollen. Dass jedes Land für seinen eigenen Bedarf arbeitet, passe nicht in die moderne Welt. Sinnvoll sei es jedoch, sich nicht auf einen einzelnen Lieferanten zu verlassen, der etwa in China sitzt. „Es gibt auch Möglichkeiten, in Asien aus anderen Ländern Wirkstoffe zu beziehen. Auch etwa in Südamerika, in Brasilien beispielsweise gibt es da Möglichkeiten. Es wurde aber bisher nicht verfolgt, weil es tendenziell zu höheren Kosten geführt hätte.“
Pibernik ist dagegen, mit zusätzlichem Geld Anreize dafür zu schaffen, in Europa neue Fabriken zu bauen. Zusätzliches Geld ist in seinen Augen vor allem nötig, um mit mehr als nur einem Lieferanten Verträge zu schließen, um Vorräte anzulegen oder ein Frühwarnsystem für Engpässe zu etablieren. Hierfür seien langfristige und gründliche Politikstrategien gefragt. Denn: Wenn etwa der Konflikt mit China über den Status von Taiwan eskaliert, drohen nach Ansicht des Logistik-Experten noch ganz andere Probleme. „Was passiert denn, wenn da jetzt auf einmal nichts mehr kommt? Wie lange hätten wir denn dann noch Wirkstoffe?“
Quellen: Birgid Becker, Volker Finthammer, Jan Zimmermann, Ann-Kathrin Jeske, Nikolaus Nützel, BfArM, Statista, og