Archiv

Einwanderungsdebatte
Musa Deli über die Herausforderungen der Integration

1961 kamen die ersten türkischen „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Wie es um ihre Integration heute bestellt ist, beschreibt Musa Deli. Und er zeigt, was sich ändern muss, damit das „Zusammenwachsen“ gelingt.

Von Christina Janssen |
Musa Deli und sein Buch „Zusammenwachsen"
Der Sozialpsychologe Musa Deli schreibt über die Hürden der Integration - auch aus eigener Erfahrung (Foto: © Steffi Atze, Buchcover: Hoffmann und Campe Verlag)
Der Begriff „Kofferkind“ ist wenig geläufig. Nicht Märchenfigur oder Reise-Podcast sind gemeint, sondern die Kinder türkischer Arbeitsmigranten, die in den 1960er- und 70er-Jahren ohne Eltern in der Heimat zurückblieben. Das „Abenteuer Deutschland“ sollte nur wenige Jahre währen. Also brachte man die Kinder bei Verwandten unter, bei denen sie mal mehr, mal weniger willkommen waren. Viele Kinder, die in Deutschland zur Welt kamen, wurden zur Einschulung, die Mädchen zur besseren „Erziehung“ in die Türkei gebracht – manchmal ohne Vorbereitung oder ein Wort des Abschieds.
„Eine Klientin berichtete, dass die Eltern nach einem gemeinsam verbrachten Sommer in das mit Koffern gepackte Auto gestiegen seien, um – nach eigenen Angaben – Einkäufe in der nahe gelegenen Stadt zu erledigen. Das Kind lief dem wegfahrenden Auto durch das ganze Dorf hinterher, in der dunklen Ahnung, dass es die Eltern so schnell nicht mehr wiedersehen würde. Diese hatten tatsächlich die Abreise nach Deutschland angetreten, ohne ihrer Tochter zu sagen, dass sie in der Türkei bleiben solle und sie ohne sie abreisen würden.“

Auch die dritte Generation ist von Migration geprägt

700.000 ehemalige Kofferkinder leben Schätzungen zufolge in Deutschland. Es ist die Generation der heute circa 45- bis 60-Jährigen. Viele von ihnen leiden an psychischen Problemen und landen in Musa Delis Sprechstunde: Der Sozialpsychologe, selbst Sohn türkischer Einwanderer, leitet das Gesundheitszentrum für Migranten in Köln. Dort erlebt er Tag für Tag aufs Neue, wie das Leben vieler Deutschtürken die bis in die dritte Generation hinein von der Migrationsgeschichte der Familie bestimmt ist – von Trennungstraumata, Fremdenfeindlichkeit oder schulischen Schwierigkeiten. Das beginnt schon bei kompliziert verfassten Elternbriefen. Deli berichtet von der Kindheitserinnerung einer türkischen Frau:
„In dem ersten Brief handelte es sich um die Ankündigung der anstehenden Karnevalsfeier in der Schule mit der Bitte, die Kinder im Kostüm in die Schule zu schicken. Ein weiterer Brief kündigte eine Übernachtung in der Schule an, die bald auf die Karnevalszeit folgen sollte. Die Eltern bemühten sich sehr, das Geschriebene zu verstehen, und die ganze Familie beteiligte sich an der Entzifferung. Schließlich schickte man das Kind zum Karneval im Schlafanzug in die Schule, und die Klientin versank angesichts ihrer kostümierten Klassenkameraden vor Scham im Boden.“
Wer nun eine große Anklageschrift erwartet, liegt falsch. Deli analysiert Versäumnisse auf beiden Seiten gleichermaßen sachlich und schonungslos. Integration ist für ihn nicht nur ein Angebot, sondern eine Pflicht. „Wer es bewusst ablehnt, die Sprache des Landes, in dem man lebt, zu lernen, darf sich nicht wundern, wenn die Integration nicht funktioniert und die Menschen um einen herum darauf mit Unverständnis reagieren.“

Kompensation durch Konsum

Mit Bravour gelingt Musa Deli der Brückenschlag. Er macht nicht den Fehler, irritierende Verhaltensweisen in der migrantischen Community zu leugnen: das alte Rentnerpärchen, das nach Jahrzehnten im Land kaum Deutsch spricht; Schüler, die sich in ihrer Rolle als rebellierende Opfer eingerichtet haben; junge Männer, die in Protzlimousinen die Partymeilen der Innenstädte unsicher machen. Deli erklärt feinfühlig und fundiert, was hinter solchen Phänomenen steckt. Der durch Autos, Handys und Markenklamotten zur Schau gestellte Wohlstand etwa – allzu oft verbirgt sich dahinter der verzweifelte Wunsch zu zeigen, dass man es zu etwas gebracht hat.
„Wenn man sich in einer westdeutschen Großstadt einen Nachmittag vor eine Grundschule in einem Stadtteil mit einem hohen Migrationsanteil stellt, so wird man verblüfft sein, wie viele der Kinder mit großen Limousinen abgeholt werden. Meist sind eben diese Stadtteile gleichzeitig auch die mit dem höchsten Anteil an Empfängern von Transferleistungen. Wie geht das zusammen? Die Antwort ist (leider) banal: Oft ist keines der Konsumgüter tatsächlicher Besitz. Die Menschen nutzen – viel häufiger als die Mehrheitsgesellschaft – die Möglichkeit, alles mit Hilfe eines Konsumkredits zu finanzieren. Große Autos werden nicht gekauft, sondern geleast. Für die monatliche Rate wird im Zweifelsfall das letzte Geld zusammengekratzt.“

Autor fordert angepasste Lehrpläne

Im Vordergrund steht für Deli nicht, aus seinen Beobachtungen politische Forderungen abzuleiten. Trotzdem wird er in einigen Punkten konkret und plädiert beispielsweise für eine uneingeschränkte doppelte Staatsbürgerschaft, für ein Ende der Heiratsmigration und mehr Multikulturalität in den Lehrplänen:
„Ich bin ein großer Fan deutscher Gedichte und möchte auf keinen Fall die Meinung vertreten, dass diese Inhalte aus dem Curriculum gestrichen werden sollten. Jedoch möchte ich zu bedenken geben, dass kulturgebundenes Vorwissen nicht mehr vorausgesetzt werden kann und dass dieser Aspekt bei der Aufbereitung des Lernstoffes Beachtung finden muss. […] Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn auch das Kulturgut anderer Kulturen Eingang ins Curriculum deutscher Schulen nähme. So ist zum Beispiel annähernd jedes Kind mit türkischen oder arabischen Wurzeln mit den lehrreichen Geschichten und Anekdoten von Nasreddin Hodscha groß geworden.“
Ein weiteres Tabu packt der Autor an, indem er sich für eine zweijährige Kindergartenpflicht ausspricht. In der Tat wäre dies ein Weg, der deutschen Bildungsmisere zu begegnen. Musa Delis Buch ist ein fein gewobener Text. Behutsam reiht er biographische Sequenzen aneinander, bettet sie in den historischen und aktuellen Kontext ein. So entsteht ein Strom an Bildern von überraschender Sogwirkung. Das Buch ist in der aktuellen Debatte über Fachkräftemangel und Migration ein Augenöffner für beide Seiten.            
Musa Deli: „Zusammenwachsen. Die Herausforderungen der Integration“, Verlag Hoffmann und Campe, 288 Seiten, 24 Euro.