
Evgeny Kissin hatte einen sehr intuitiven Zugang zu Musik: „Ich habe angefangen, nach Gehör Klavier zu spielen. Die Musik um mich herum, die Musik meiner älteren Schwester, die mit dem Klavierspielen vorher angefangen hat. Dann die Musik im Radio und so weiter. Ich habe das nachgespielt und dann auch meine eigene Musik improvisiert. Nachdem ich in der Schule und im Musikstudium Notation gelernt hatte, habe ich meine Musik dann auch aufgeschrieben."
Autodidaktischer Zugang
Kissin hat selbstständig die Kompositionsstile von Komponisten analysiert und so autodidaktisch von ihnen gelernt. Später hat er sich auch in Bücher über Harmonielehre und Instrumentation vertieft. An frühe Eigenkompositionen kann oder will Evgeny Kissin sich nicht erinnern. Mit zwölf Jahren spielte er bei einem Konzert in Moskau zwei selbst komponierte Inventionen. Doch heute, mit Anfang 50, sind die Stückchen aus seiner Erinnerung verschwunden.
Evgeny Kissin hat eine Handvoll Werke beim Henle Verlag veröffentlicht, darunter seine Sonate für Violoncello und Klavier und vier Stücke für Klavier. Beide Werke präsentierte er im August 2021 bei den Salzburger Festspielen in einem Gesprächskonzert.
Pianistenkarriere stellt Kompositionstalent in den Schatten
„Komponiert zwischen 1986 und 2015 – Überarbeitet 2017“ steht unter dem Titel der frisch gedruckten „Toccata“ aus den vier Klavierstücken. Evgeny Kissin hat sich also über lange Zeit hinweg mit diesem kurzen Stück beschäftigt. Vielleicht ein Indiz für seine Vorsicht, mit so einem Musikstück auch an die Öffentlichkeit zu treten. Seit vielen Jahrzehnten ist er ein berühmter Pianist der klassischen Musikszene. Dass er auch komponiert, wusste kaum jemand all die Jahre. Kissin hat sich zunächst bewusst auf seine Pianistenkarriere fokussiert.
Zuspruch von Außen
Evgeny Kissin fehlte das Vertrauen in seine selbst geschriebenen Werke. Die Grundsatzentscheidung, ob er weiter komponieren würde, hat er vom Urteil eines einzigen Menschen abhängig gemacht: vom Komponisten Arvo Pärt.
„Wir haben uns in der neuen Pariser Philharmonie getroffen, die kurz zuvor gebaut worden ist. Das ist das erste Mal gewesen, dass ich sie besucht habe. Ich habe Pärt meine Stücke gezeigt und ihn gefragt: ‚Sagen Sie mir bitte ganz ehrlich, ob ich das weiter machen soll oder nicht!‘ Und er hat gesagt: ‚Das solltest du auf jeden Fall‘. Und das hat mich natürlich ermutigt."
In den Jahren nach dieser Begegnung spielte Kissin gelegentlich seinen "Dodekaphonischen Tango" als Konzertzugabe und auch seine Sonate für Cello und Klavier wurde 2016 und 2018 von namhaften Solisten und Solistennen gespielt.