Als teilnehmende Beobachtung bezeichnet Seth M. Holmes seine Forschungen über mexikanische Migranten, die in den USA als Erntehelfer arbeiten. Eine klassische Forschungsmethode, bei der der Beobachtende eintaucht in „die alltäglichen Leben und Praktiken von Menschen“, wie es heißt. Für seine Wanderfeldforschung lebte und arbeitete der Arzt und Anthropologe unter elenden Bedingungen auf kalifornischen Farmen, pflückte Beeren, interviewte Angestellte, Grenzbeamte, Mitglieder von Bürgerwehren und natürlich vor allem die auf endlosen Agrarflächen ausgebeuteten Migranten, die bereits bei ihrer illegalen Einreise etlichen Strapazen und Gefahren ausgesetzt sind.
„Im ersten Jahr meiner Feldforschung sind allein im Grenzgebiet um Tucson mehr als 500 Menschen gestorben. Die meisten starben an Hitzeschlägen und Dehydrierung, einige durch direkte Gewalteinwirkung. Den Migrant·innen begegnen in den Grenzgebieten viele tödliche Gefahren. Es gibt mexikanische und US-amerikanische Angreifer und Entführer, die auf ihr Geld aus sind. Hitze, Sonne, Schlangen und Kakteen greifen ihre Körper an; bewaffnete US-amerikanische Bürgerwehren ihre Freiheit und Grenzbeamt·innen ihre Akten.“
Mit dem Schlepper nach Arizona
2004 begleitete Holmes eine Gruppe junger Männer bei der Überquerung der US-mexikanischen Grenze. Die Wanderarbeiter gehörten der indigenen, mexikanischen Bevölkerungsgruppe der Triqui an, die aus den Bergen von Oaxaca stammt. Ein als „Kojote“ bezeichneter Personenschmuggler führte die Gruppe durch die Wüste nach Arizona. In so genannten „Feldnotizen“ schildert Seth M. Holmes den Grenzübertritt.
„Nachdem wir für eine weitere Stunde gelaufen und gerannt sind, hören wir einen Helikopter. [...] Macario versteckt sich unter einem Kaktus, wo eine Klapperschlange ihn anklappert, aber er bewegt sich nicht, um nicht entdeckt zu werden. Der Helikopter fliegt davon – in die Ferne, bis wir ihn kaum noch hören. [...] Plötzlich kommt unser ‚Kojote‘ angerannt und spricht in schnellem Triqui. Zwei Grenzbeamte – einer schwarz, einer weiß – tauchen hinter ihm auf, rennen durch die Bäume, springen in unser Flussbett und richten ihre Schusswaffen auf uns.“
Die reportagehaften Aufzeichnungen werden ergänzt durch reflektierende und analysierende Passagen, Interviews und zahlreiche Fotos. In seinem facettenreichen Text dokumentiert Holmes als teilnehmender Beobachter nicht nur, was er spürt, erlebt und sieht, er ergreift von der ersten Seite an Partei für seine „Triqui-Freunde“, die auf US-amerikanischen Plantagen Rassismus, Ausbeutung und Gewalt ausgesetzt sind. Erklärtermaßen will er am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, durchnässt, mit wunden Knien und schmerzendem Rücken im Akkord Erdbeeren zu pflücken, in engen Baracken mit unzureichenden Sanitäreinrichtungen zu hausen und in einer streng hierarchisch organisierten Arbeitswelt struktureller Gewalt ausgesetzt zu sein.
Ein Leben ständig auf der Hut
Bald wird ihm jedoch bewusst, dass er als hellhäutiger, studentisch aussehender Amerikaner bestimmte existentielle Erfahrungen nicht mit den Migranten teilen kann: Diskriminierung und Illegalität.
„Jedes winzigste Problem mit ihrem Auto oder ihrem Fahrstil könnte zum Anlass werden, sie aus dem Verkehr zu ziehen, und in der Folge zu ihrer Abschiebung führen. Obwohl der Lokalpolizei in Washington State gesetzlich nicht erlaubt war, anhand von rassistischen Kriterien Kontrollen durchzuführen, kontaktierten Polizeibeamt·innen manchmal Grenzschutzbeamt·innen zum Übersetzen. Wenn eine Person vom Grenzschutz dann einmal vor Ort war, konnte sie auch den Aufenthaltsstatus prüfen und diejenigen abschieben, die keinen hatten.“
Schätzungen zufolge stammten etwa 95 Prozent der Landarbeiter und -arbeiterinnen in den USA aus Mexiko, schreibt Holmes. 52 Prozent von ihnen hätten keinen Aufenthaltsstatus, lebten also stets und ständig in der Angst, das Land wieder verlassen zu müssen. 4.000 Menschen würden in den USA wöchentlich abgeschoben, die meisten davon nach Mexiko. Menschen ohne Aufenthaltsstatus wird ein Zugang zum Bildungs- und zum Gesundheitssystem verwehrt.
Dabei sind sie keineswegs aus freien Stücken in den USA, sondern weil sie in ihrer Heimat nicht mehr von der Landarbeit leben können. Ein Grund für diese Arbeitsmigration sei das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, wie der Autor ausführt.
Schlechtester Gesundheitszustand unter allen Berufsgruppen
„Die mexikanische Regierung hat aufgezeigt, dass seit der ursprünglichen Einführung von NAFTA im Jahr 1994 die USA ihre Agrarsubventionen um 300 Prozent erhöht haben. Die mexikanische Regierung mit weniger Finanzmitteln hat in den letzten zwei Jahrzehnten hingegen die finanzielle Unterstützung für Maiserzeuger·innen reduziert, was dazu geführt hat, dass immer mehr Menschen migrieren müssen, um zu überleben.“
Als Mediziner richtet Seth M. Holmes auch den Fokus auf die Gesundheitsversorgung der immigrierten Saisonarbeiter, deren Sterberate fünf Mal höher ist als in der übrigen Bevölkerung. In der US-amerikanischen Landwirtschaft haben sie von allen Berufs- und Bevölkerungsgruppen den schlechtesten Gesundheitszustand.
Das Buch ist in den USA bereits 2013 erschienen, doch es ist nicht davon auszugehen, dass sich die Arbeits- und Lebensbedingungen der mexikanischen Wanderarbeiter seitdem verbessert haben. Die Einwanderungs- und Grenzpolitik der USA in den letzten Jahren lässt eher das Gegenteil vermuten. Ein aktuelles Vor- oder Nachwort hätte dieser ersten deutschen Ausgabe sicherlich gutgetan. Doch mit seinen anteilnehmenden Schilderungen und aufrüttelnden Analysen bietet das Buch einen fesselnden Einblick in die Welt derjenigen, die unter ausbeuterischen Verhältnissen nicht nur frische Früchte für die globalisierten Märkte, sondern auch Ressentiments und Diskriminierung ernten.
Seth M. Holmes: „Frische Früchte, kaputte Körper: Migration, Rassismus und die Landwirtschaft in den USA“, Übersetzung aus dem Englischen: Jennifer Sophia Theodor, Transcript Verlag, 268 Seiten, 30 Euro.