In China hält die Wut über die strikte Null-Covid-Politik an. Erneut gingen landesweit Hunderte Menschen unter anderem in Peking, Shanghai und anderen Städten wie Nanjing im Osten des Landes und Urumqi, der Hauptstadt des chinesischen Landesteils Xinjiang, auf die Straße. Sie forderten ein Ende der Lockdowns und Freiheit. Dabei wurden auch Rufe nach einem Rücktritt von Präsident Xi Jinping laut. Die Regierung reagiert mit Festnahmen und Zensur.
Die Proteste in China gegen die strikten Corona-Maßnahmen waren durch einen Wohnungsbrand in Urumqi ausgelöst worden, bei dem nach offiziellen Angaben mindestens zehn Menschen ums Lebens kamen. In den sozialen Netzwerken ist von mehr Todesopfern die Rede, das lässt sich aber nicht verifizieren. Die Feuerwehr soll durch corona-bedingte Straßensperrungen nicht rechtzeitig an den Unglücksort gekommen sein, beklagen Anwohner.
Protestbewegung in China aus Not entstanden
Ein Lockdown in China könne lebensbedrohlich sein, sagte Eberhard Sandschneider, Partner des Politikberatungsunternehmens Berlin Global Advisors, im Dlf. Der Zugang zu Lebensmitteln und auch Medikamenten sei dann nicht mehr gewährleistet. Aus solchen Nöten heraus sei die Protestbewegung entstanden. Die Kommunistische Partei Chinas und ihr Parteichef hätten sich als unfähig erwiesen, ihre Corona-Politik zu verändern, "die vielleicht in den ersten Wochen und Monaten durchaus erfolgreich war, aber jetzt jede Form des Erfolges vermissen lässt".
Sandschneider befürchtet, dass Peking massiv gegen die Proteste vorgehen wird. "Das wird die Partei in den nächsten Tagen mit aller Macht tun, und sie wird sich an der Stelle sicherlich aller Machtmittel bedienen, die sie zur Verfügung hat, insbesondere der polizeilichen Machtmittel." Das sei eine wenig erfreuliche Perspektive.
Lesen Sie hier das Interview im Wortlaut:
Dirk Müller: Herr Sandschneider, ist Protestieren in China Hochverrat?
Eberhard Sandschneider: Aus der Sicht der Kommunistischen Partei muss man diese Frage schlicht mit einem Ja beantworten. Man sieht aber auch, dass man in China oder nicht nur in China Menschen sehr viel zumuten kann, aber irgendwann kommt der Punkt, wo sie genug haben von der Politik, wo sie genug haben davon, diese Lockdowns ertragen zu müssen. Und man muss sich immer wieder klarmachen: Auch wir haben ja den Begriff bei uns kennengelernt, aber was für einen Unterschied.
Das was in China ein Lockdown ist, kann lebensbedrohlich sein, weil sie keinen Zugang mehr zu Lebensmitteln haben, weil Sie keinen Zugang mehr zu wichtigen Arzneimitteln haben, und dann muss man sagen, ob das Hochverrat ist oder nicht, spielt eigentlich fast keine Rolle. Die Kommunistische Partei Chinas und ihr Parteichef haben sich an dieser Stelle ein Stückchen verrannt. Sie haben sich als unfähig erwiesen, eine Politik zu verändern, die vielleicht in den ersten Wochen und Monaten durchaus erfolgreich war, aber jetzt jede Form des Erfolges vermissen lässt, wie die steigenden Zahlen, die täglich gemeldet werden, dokumentieren.
"Auch die chinesische Internetpolizei ist ein Stück weit überfordert"
Müller: Sie sagen, ein Stückchen verrannt. Ist das ein großes Stück?
Sandschneider: Das ist ein ziemlich großes Stück, ja. Ich meine, Experten sagen seit Wochen und Monaten, es wird dauerhaft nicht gelingen, in einem Land dieser Größe, in all seiner Diversität mit einer Null-Covid-Politik Erfolg zu haben. Die chinesischen Impfstoffe sind offensichtlich längst nicht so leistungsfähig wie die Impfstoffe, die im Westen eingesetzt werden. Bei dem Besuch des Bundeskanzlers hat der deutsche Impfstoff BioNTech eine Rolle gespielt für Ausländer. Das registrieren die Menschen in China mittlerweile und wie man sieht sind sie auch in der Lage, soziale Medien entsprechend zu ihrem „Vorteil“ einzusetzen, sich zu koordinieren, sich abzustimmen, sich zu verabreden, wo man sich trifft und Ähnliches mehr. Offensichtlich ist auch die chinesische Internetpolizei an dieser Stelle ein Stück weit überfordert.
Müller: Es ist immer wieder zu lesen, Herr Sandschneider, dass es äußerst schwierig ist, die Impfsituation, die Impfquote in China tatsächlich zu bestimmen. Haben Sie dort Informationen, mit welchen Zahlen, mit welchen Prozenten dort zu rechnen ist?
Sandschneider: Es schwirren wilde Zahlen durch die Gegend, von denen wir nicht wissen, wie belastbar sie sind. Aber wenn man sagt, die riskanten Altersgruppen sind nur zu 40 Prozent durchgeimpft, dann ist völlig klar, dass das Ansteckungsrisiko entsprechend hoch ist, und das ist genau das, was man in China derzeit erlebt.
Die Null-Covid-Politik ist die Politik des chinesischen Präsidenten
Müller: Der Präsident beobachtet das. Es ist immer die Frage der potemkinschen Dörfer um ihn herum. Weiß er oder könnte er wissen, dass die Lage sich allmählich zuspitzt?
Sandschneider: Das weiß ich nicht. Wir wissen nicht genau, was er weiß, was ihm zugetragen wird. Wir diskutieren auch nach dem 20. Parteitag schon das Risiko, dass er umgeben ist von Leuten, die ihm nur das sagen, was er hören will. Tatsache ist: Mit dieser Null-Covid-Politik hat er sich selbst verbunden. Das ist seine Politik. Und wenn sie geändert werden müsste, würde das bedeuten, der große Parteichef, der gerade seinen 20. Parteitag zelebriert hat, hat Fehler gemacht, muss sich korrigieren. Das ist eine Form von Image-Verlust, die er sicherlich nicht möchte. Was da im inneren Zirkel im Augenblick diskutiert wird, entzieht sich unserer Kenntnis, aber die Befürchtung, dass die Partei einen Gesichtsverlust dieser Form, wenn man es so ausdrücken darf, unbeschadet hinnimmt, diese Befürchtung muss man, glaube ich, teilen. Das wird sie nicht tun. Sie wird schon versuchen klarzustellen, wer das Sagen in China hat, und das ist keine sehr erfreuliche Perspektive.
Müller: Bleiben wir noch mal ganz kurz bei Xi Jinping. Nach dem Parteitag vor wenigen Wochen haben viele Beobachter, aber auch viele Interessierte gedacht, dieser Mann ist allmächtig. Ist er das?
Sandschneider: Nein, ist er nicht. Das war eine Fehleinschätzung auch nach dem Parteitag. Ja, er hat es geschafft, sich im ständigen Ausschuss mit Leuten seines Vertrauens zu umgeben. Aber wer ein bisschen die chinesische Innenpolitik kennt weiß, es gibt in dieser Kommunistischen Partei seit jeher Fraktionen, Meinungsgruppen und Seilschaften. Die haben machtpolitisch immer im Konflikt miteinander gestanden. Dieses Mal hat sich Xi Jinping durchgesetzt mit einer doppelten Konsequenz: Die anderen sind noch nicht verschwunden und er kann niemanden dafür verantwortlich machen, außer die Leute in seiner eigenen Seilschaft, für das, was jetzt in China passiert.
Das heißt, das Risiko liegt an dieser Stelle ganz bei ihm. Noch deutlicher muss man sagen: Dieser Parteitag hat uns ein Bild einer geschlossenen Partei, einer geschlossenen Fassade gezeigt. Solche Bilder waren in China nie richtig. Diese Fassade hat Risse und an diesem Wochenende ist noch mal deutlich geworden, dass die Risse innerparteilich, aber auch gegenüber der Bevölkerung aufbrechen.
Das heißt, das Risiko liegt an dieser Stelle ganz bei ihm. Noch deutlicher muss man sagen: Dieser Parteitag hat uns ein Bild einer geschlossenen Partei, einer geschlossenen Fassade gezeigt. Solche Bilder waren in China nie richtig. Diese Fassade hat Risse und an diesem Wochenende ist noch mal deutlich geworden, dass die Risse innerparteilich, aber auch gegenüber der Bevölkerung aufbrechen.
"China ist nicht das stabile, in sich gefestigte politische Regime"
Müller: Das heißt, die Bilder, die wir gesehen haben, viele gesehen haben in den Fernsehnachrichten, das Abführen von Ex-Präsident Hu Jintao, wo viele gesagt haben, das kann eigentlich nicht wahr sein, vor der Weltöffentlichkeit ist das im Grunde passiert, das zeigt nicht die substanzielle Macht des Präsidenten.
Sandschneider: Es zeigt zumindest, dass da etwas fürchterlich in der Dramaturgie schiefgegangen ist. Ich sage gelegentlich, es gibt nichts besser dramaturgisch vorbereitetes als einen Parteitag der Kommunistischen Partei. Wenn so ein Ereignis eintritt, dann ist das ein klares Signal dafür, dass hinter der Fassade, auf Deutsch gesagt, der Teufel los gewesen sein muss, und das ist sicherlich nicht vorbei, denn die Unzufriedenheit derjenigen, die auf diesem Parteitag nicht zum Zuge gekommen sind, die lässt sich jetzt wahrscheinlich ein Stückchen weit auch durch die Proteste auf den Straßen in Peking, Shanghai und in anderen Städten kanalisieren.Noch einmal: China ist nicht das stabile, in sich gefestigte politische Regime, als das es sich nach außen darstellt.
Müller: Reden wir über die Proteste, über die Protestierenden. Ist das tatsächlich eine Bewegung von unten?
Sandschneider: Das sind Menschen, die verzweifelt sind. Wer sich einmal anschaut, wie ein Lockdown in China aussieht, wenn Sie nicht mehr wagen können, in ein Kaufhaus zu gehen, weil Sie befürchten müssen, dass die Türen von außen verriegelt sind, wenn sie raus wollen, und sie dann 14 Tage da drinsitzen im Lockdown, dann kriegen sie ein Gespür dafür, das ist nichts, was jetzt eine große politische Debatte als Auslöser hat, sondern das sind Nöte von Menschen, die tagtäglich schwieriger werden, und aus diesen Nöten heraus entsteht diese Protestbewegung und das macht sie letztendlich auch für die Kommunistische Partei durchaus gefährlich.
Müller: Wenn wir auf das ganze Land blicken, ist das ganze Land davon betroffen, oder sind es tatsächlich nur einzelne Regionen, einzelne Städte, Stadtteile?
Sandschneider: Der Eindruck ist schon, dass es sehr unterschiedlich ist. Wenn Sie sagen, das ganze Land – das ist ein riesiges Land. Das ist ein Land, das ist so groß wie Europa, und jetzt müssen Sie sich den Flickenteppich der Infektionsbekämpfung in Europa vorstellen. Dann haben Sie ein ungefähres Bild davon, wie es in China aussieht. Es gibt dort, wo Menschen geballt zusammenwohnen, größere Ansteckungsgefahren. Das ist völlig klar. Im ländlichen China wird diese Gefahr nicht so groß sein. Aber natürlich wird das, was jetzt durch die Weltpresse geht, in den Städten produziert, in Peking, in Shanghai, in all diesen Ballungszentren, wo es dann auch zu solchen massiven Zwischenfällen kommt.
"Es wird sicherlich massive Bemühungen geben, die Proteste zu unterbinden"
Müller: Schauen wir auf die Perspektive, Herr Sandschneider. Sie haben das eben schon mal ganz kurz angedeutet. Ich kann mich nicht genau an das Wort erinnern, was Sie dort benutzt haben. Ist die Perspektive düster für die Protestanten, weil – und das ist meine Frage – Peking jetzt in irgendeiner Form sich wehren muss, zurückschlagen muss?
Sandschneider: Es wird sicherlich massive Bemühungen geben, diese Proteste zu unterbinden, nicht weiter ausufern zu lassen. Man kennt das Risiko – das hat man auch 1989 gesehen -, dass, wenn ein bestimmter Punkt überschritten ist, die Dinge nur noch sehr schwer unter Kontrolle zu bringen sind. Das wird die Partei in den nächsten Tagen mit aller Macht tun und sie wird sich an der Stelle sicherlich aller Machtmittel bedienen, die sie zur Verfügung hat, insbesondere der polizeilichen Machtmittel. Das alles ist eine wenig erfreuliche Perspektive.
Die spannendere Frage ist: Gelingt es der Partei an dieser Stelle, gelingt es der politischen Führung um Xi Jinping, sich anzupassen in der Bekämpfung der Pandemie an die neue Situation, mit anderen Worten die Politik zu verändern, stärker auch auf westliche Impfstoffe zu setzen, wie es, angedeutet beim Kanzlerbesuch, zumindest der Fall zu sein schien. Wenn das gelingt, dann kann die Situation sich auch wieder beruhigen. Gelingt es nicht, dann wird man auf sehr schwierige Zeiten in China gefasst sein müssen.
Müller: Wir haben nicht mehr viel Zeit, ich möchte Sie das fragen. Können Sie das schon beantworten? Halten Sie das für realistisch, dass es eine Änderung gibt?
Sandschneider: Sagen wir mal so: Die Kommunistische Partei war pragmatisch genug in den letzten 40 Jahren, aus Fehlern zu lernen und Fehler zu korrigieren. Jetzt hat sie sich sehr massiv positioniert und ob Xi Jinping diese Fähigkeit des pragmatischen Anpassens an neue Situationen hat, ist eine offene Frage. Ich vermag sie Ihnen nicht wirklich zu beantworten. Im Prinzip muss man sagen, man muss es sehr hoffen im Sinne der Menschen, die in China auf die Straße gehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.