Dienstag, 19. März 2024

Rede zur Lage der Europäischen Union
Von der Leyen dringt auf Beschleunigung der weltweiten Corona-Impfkampagne

In ihrer Rede zur Lage der Union hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, die EU werde weitere 200 Millionen Impfdosen für ärmere Länder spenden. Von der Leyen will zudem die EU militärisch stärken und Digitalisierung, Halbleitertechnologie sowie Natur- und Klimaschutz voranbringen.

15.09.2021
    Porträtbild von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen neben einer EU-Flagge
    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer zweiten Rede zur Lage der Europäischen Union im Europäischen Parlament in Straßburg (AFP/ Julien Warnand)
    Seit einigen Jahren halten die Spitzen der EU-Kommission nach der Sommerpause eine Rede im Europaparlament. Den Anfang machte 2010 José Manuel Barroso, damals ging es vor allem um die Nachwehen der globalen Finanzkrise. 2015 sprach Jean-Claude Juncker zum ersten Mal, zu der Zeit bewegte vor allem das Migrations-und Flüchtlingsthema Europa. Am Mittwoch (15.09.2021) hielt Ursula von der Leyen im EU-Parlament in Straßburg ihre zweite Rede zur Lage der Union.
    Welchen Inhalt hatte von der Leyens zweite Rede zur Lage der Union?
    Zu Beginn ihrer Rede betonte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die EU habe die Coronakrise bislang gut bewältigt. Die Mitgliedsstaaten hätten sich in der größten globalen Gesundheitskrise seit Jahrzehnten für einen gemeinsamen Weg entschieden und inzwischen hätten alle in der EU Zugang zu Impfstoffen gegen das Coronavirus. Mehr als 70 Prozent der Erwachsenen in der EU seien vollständig geimpft. Darauf könne man stolz sein.
    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
    Von der Leyens Sinn fürs Machbare 
    Die EU habe in der Pandemie ihre Seele gezeigt, sagte von der Leyen in ihrer Rede. Man müsse ihr Pathos nicht mögen, aber sie habe mit dieser Festellung recht, kommentiert Dlf-Korrespondent Peter Kapern.
    Die CDU-Politikerin fügte aber hinzu, man dürfe angesichts des Erfolgs nicht selbstgefällig werden. Es gehe nun darum, die weltweite Impfkampagne zu beschleunigen. Die EU werde 200 Millionen weitere Impfdosen für ärmere Länder spenden - zusätzlich zu den bereits zugesagten 250 Millionen Impfdosen. Dies sei eine "Investition in die Solidarität und die weltweite Gesundheit". Von der Leyen unterstrich, Europa sei die einzige Region, die 50 Prozent ihrer Impfstoff-Produktion mit der Welt geteilt habe. Als Lehre aus der Corona-Pandemie sollen in den kommenden sechs Jahren außerdem 50 Milliarden Euro in die Gesundheitsvorsorge der gesamten EU investiert werden. Die geplante EU-Behörde HERA zur Vorsorge von Gesundheitskrisen solle bald einsatzfähig sein.
    Außenpolitisch betonte von der Leyen, sie wolle Europa in enger Zusammenarbeit mit der NATO militärisch stärken. Dazu bereite die EU-Kommission eine gemeinsame Erklärung mit dem transatlantischen Bündnis vor. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan plädierte die Kommissionspräsidentin für den Ausbau der Europäischen Verteidigungsunion. Sie warb für die Idee eines gemeinsames Lage- und Analysezentrums und schlug eine Mehrwertsteuerbefreiung beim Kauf von Rüstungsgütern vor, die in Europa entwickelt und hergestellt wurden.
    Von der Leyen sagte zudem zusätzliche 100 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für Afghanistan zu. "Wir müssen alles tun, um die reale Gefahr einer großen Hungersnot und humanitären Katastrophe abzuwenden", sagte sie in Straßburg. Die Mittel seien Teil eines umfassenden EU-Hilfspakets, das in den kommenden Wochen vorgestellt werden soll. Von der Leyen hatte Ende August bereits bekannt gegeben, dass der Beitrag aus dem EU-Haushalt für humanitäre Hilfe für Afghanen von rund 50 Millionen Euro auf mehr als 200 Millionen Euro aufgestockt wird.
    Diakonie-Präsident Ulrich Lilie besucht am 14.08.2017 die Familiennotunterkunft "Die Teupe" in Berlin. Im Rahmen seiner Sommertour "Sozial-O-Meet" informierte er sich über Hilfsangebote für wohnungslose Familien. Foto: Sophia Kembowski/dpa ++
    UNO-Geberkonferenz für Afghanistan
    Die UNO plant Millionenhilfen für Afghanistans Bevölkerung. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie forderte Garantien, dass das Geld nicht in Korruption oder Terrorfinanzierung landet. Zudem müssten humanitäre Einreisevisa vergeben werden.
    Als weitere Schwerpunkte der künftigen Politik nannte die EU-Kommissionspräsidentin unter anderem verstärkte Anstrengungen bei der Digitalisierung und beim Ausbau der Halbleitertechnologie zur Chip-Herstellung sowie beim Natur- und Klimaschutz. Die Herstellung von Hochleistungschips ein Europa müsse gestärkt werden, um die Abhängigkeit von asiatischen Produzenten zu beseitigen.
    Die EU werde ihren Beitrag zum globalen Natur- und Klimaschutz verdoppeln, um den Niedergang der Biodiversität zu bekämpfen. Empfänger der Hilfen seien die schwächsten Länder der Erde, so von der Leyen. Für die Jahre bis 2027 nannte sie eine Summe von zusätzlich vier Milliarden Euro.
    Weitere Vorhaben der EU-Kommission für die kommenden Jahre sind:
    • Neues EU-Austauschprogramm "Alma" für junge Arbeitslose
    • Jahr der Europäischen Jugend 2022
    • EU-weites Verbot für Produkte aus Zwangsarbeit
    • Gesetz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
    • Medienfreiheitsgesetz
    • Neue europäische Pflegestrategie
    • Europäisches Migrationsmanagement
    Welche Rolle spielt die Rede zur Lage der Union?
    Mit der Rede legt die Kommission Rechenschaft ab über das, was sie in den vergangenen zwölf Monaten bearbeitet hat. Und sie gibt einen Ausblick auf die Themen des kommenden Jahres. Die Europaabgeordneten nutzen diese Gelegenheit, um die Bilanz und die Pläne zu bewerten, zu kritisieren oder auch zu unterstützen.
    Die Rede hat aber noch eine andere Funktion. Die europäischen Institutionen beklagen immer wieder, dass sie in der europäischen Öffentlichkeit, in den Mitgliedstaaten nicht so wahrgenommen werden wie beispielsweise die nationalen Parlamente. Die Rede ist gewissermaßen der Kampf um die Aufmerksamkeit der Europäer, der Kampf für ihre europäischen Institutionen.
    Emmanuel Macron (M, En Marche), Staatspräsident von Frankreich, spricht während der Eröffnungsveranstaltung der Konferenz zur Zukunft Europas im Gebäude des Europäischen Parlaments während Ursula von der Leyen (l, CDU, Fraktion EVP), Präsidentin der Europäischen Kommission, und David Sassoli (r, PD, Fraktion S&D), Präsident des Europäischen Parlaments, im Vordergrund sitzen. 
    Konferenz zur Zukunft Europas - Experiment Bürgerbeteiligung
    Die EU will näher an ihre Bürgerinnen und Bürger heran. Die "Konferenz zur Zukunft Europas" soll das leisten. Das könnte ein Meilenstein in der Geschichte der EU sein - doch das Experiment könnte auch scheitern.
    Welchen Themen haben die Kommission 2020 beschäftigt?
    2020 stand ganz im Zeichen Pandemiebekämpfung, aber der Start war für die EU-Kommission holprig. Die nationalen Grenzen wurden schnell dicht gemacht, die Lkw-Staus waren lang. Und auch die Impfstoffversorgung war nicht so, wie die EU-Kommission und die europäischen Mitgliedstaaten sich das erhofft hatten. Das lag vor allem daran, dass die Impfstoffhersteller Schwierigkeiten hatten, die bestellten Dosen zu liefern. Auch die Mitgliedsstaaten konnten sich lange nicht einigen, wie viel sie von welchem Impfstoff kaufen wollten.
    Das eigentliche Verdienst der EU-Kommission liegt aber im Bereich der Bekämpfung der ökonomischen Folgen dieser Pandemie. 2020 wurde ein Hunderte Milliarden schweres Finanzpaket, der EU-Wiederaufbaufonds, aufgelegt, dessen Gelder jetzt zu fließen beginnen. Das ist das Kernstück der Pandemiebewältigung der EU-Kommission, das Ursula von der Leyen vor allem mit Angela Merkel und Emmanuel Macron auf die Beine gestellt hat.

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    Ein zweites zentrales Thema für die EU-Kommission war die Rechtsstaatlichkeit und der Konflikt mit Ungarn und Polen.
    Der Konflikt ist vielschichtig: Es gibt die Artikel-7-Verfahren gegen Polen, die aber bisher nicht ihre volle Wirksamkeit entfaltet haben. Es gibt den Rechtsstaatsmechanismus, den die EU-Kommission zur Verfügung hat, den sie aber bislang zum Verdruss vieler Europaabgeordneter nicht einsetzt. Und es gibt rechtsstaatliche Fragen bei der Auszahlung der Gelder aus dem Wiederaufbaufonds. Diese Stränge könnten in den nächsten Wochen und Monaten zu einem Großkonflikt werden.
    Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bei einer Pressekonferenz der EU-Kommission
    Worum es beim Streit um Polens Justizreform geht
    Die EU-Kommission will Zwangsgelder gegen Polen verhängen, weil die nationalkonservative Regierung weiter an ihrer umstrittenen Disziplinarkammer, einer Richteraufsichtsbehörde, festhält.
    Die Frage ist nun, ob es Konzessionen von polnischer Seite geben wird, insbesondere was die umstrittenen polnischen Justizreformen angeht. Und ob der ungarische Regierungschef Viktor Orbán der Europäischen Union entgegenkommt, wenn es um die Verwendung der Gelder aus dem Wiederaufbaufonds geht.
    Katarina Barley (SPD): "Orbán macht sich mit EU-Geldern die Taschen voll"
    Die Europaparlamentarierin Katarina Barley (SPD) hat die EU-Kommission aufgefordert, konsequenter und schneller gegen die Rechtsstaatsverstöße in Polen und Ungarn vorzugehen.
    In ihrer Rede zur Lage der EU verwies von der Leyen darauf, dass die EU-Kommmission finanzielle Sanktionen gegen Polen beim Europäischen Gerichtshof beantragt hat. Hintergrund war insbesondere die fortgesetzte Tätigkeit der polnischen Disziplinarkammer zur Bestrafung von Richtern. Der EuGH hatte in einer einstweiligen Anordnung den Stopp der Tätigkeit dieser Kammer angeordnet, woran sich Warschau aber nicht hält. Von der Leyen betonte, EuGH-Urteile seien bindend.
    Welche Themen stehen zukünftig an?
    Im kommenden Jahr wird wohl vor allem das Thema Klimaschutz eine große Rolle spielen. Von der Leyen will, dass Europa bis 2050 klimaneutral wird, dass also nur noch so viel Treibhausgas ausgestoßen wird, wie von der Natur wieder aufgenommen werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde vor ein paar das Paket "Fit for 55" vorgestellt, mit dem die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent reduziert werden sollen im Vergleich zu 1990.
    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Vorstellung des Gesetzespakets "Fit for 55" für mehr Klimaschutz in der EU
    Wie die EU ihre Klimaziele erreichen und dafür die Wirtschaft umbauen will
    Bis zum Jahr 2030 will die EU ihren CO2-Ausstoß um 55 Prozent senken. Dieses Klimaschutzziel hat sie schon vor einigen Monaten ausgerufen – Im Juli 2021 hat die EU-Kommission konkrete Gesetzesvorhaben dazu vorgelegt. Ein Überblick.
    Aber einige der Einzelmaßnahmen sind sehr umstritten, wie etwa die Integration des Autoverkehrs und der Wohnungsheizungen in den Emissionshandel. Das würde zu Preissteigerungen führen und einige Länder, angeführt von Frankreich - dort finden 2022 Präsidentenwahlen statt - wehren sich dagegen.
    Frankreich befüchtet neue Proteste wie von der Gelbwesten-Bewegung. Darin liegt auch der Widerstand der Franzosen begründet. Zwischen den Befürwortern dieses Klimapakets und einigen Ländern, die aus bestimmten Gründen auf der Bremse stehen, wird es in den kommenden Monaten wohl zu heftigen Machtkämpfen kommen.
    Quelle: Peter Kapern, Nina Voigt, mit Agenturmaterial