Heidi und das Matterhorn, Schokolade und Präzisionsuhren – Schweizer Klischees. Dazu freiheitsliebende Menschen wie weiland Wilhelm Tell und honorige Politiker mit Westen, so rein wie die Bergluft.
Doch in den 1990er-Jahren wurde die Idylle brüchig. Damals kam ans Licht, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs tonnenweise geraubtes Gold von den Nazis gekauft hatte – gegen harte Devisen. Die brauchte das Dritte Reich, um an militärisch wichtige Rohstoffe aus dem Ausland zu gelangen. Die angeblich neutrale Alpenrepublik – eine Goldwaschanlage für Hitlerdeutschland. Und mehr, so der amerikanische Regierungsbeamte und Antisemitismusforscher Gregg Rickman:
Hat die Schweizer Hilfe den Krieg um ein Jahr verlängert?
„Sie waren die Bankiers der Nazis, was denen Kontakte zur restlichen Welt ermöglichte. Dadurch hatten die Nazis einen Ort, ihr geraubtes Vermögen anzulegen, Diamanten, Kunstgegenstände, Gold, Bankkonten und so weiter. Die Schweiz lieferte Munition, Autos, Waffen, alles Mögliche, was Deutschland brauchte, insbesondere zum Ende hin. Es kann sein, dass die Schweizer Hilfe den Krieg um ein Jahr verlängert hat.“
Viele hatten das vermutet, beweisen konnte es lange keiner. Dann veröffentlichte im September 1996 zunächst das britische Außenministerium bislang geheime Dokumente. Darin wurde der Wert des transferierten Goldes mit ungeheuerlichen 500 Millionen US-Dollar beziffert, was heute rund neun Milliarden Dollar entspricht. Und der Parlamentarier Greville Janner stellte klar:
Gold im Wert von heute rund neun Milliarden Dollar
„Wir reden hier über geklautes Vermögen. Ob es um Goldbarren geht, persönliches Eigentum, oder ob es Gold der Leichen von Auschwitz ist. Nicht nur zu klauen ist gegen das Gesetz eines jeden zivilisierten Landes, sondern auch geklaute Dinge weiterzugeben.“
Im Tausende Meilen entfernten Washington erfuhr Staatssekretär Stuart Eizenstat von den Anwürfen aus London. Er bat seinen Präsidenten, Bill Clinton, um die Einrichtung einer Untersuchungskommission. Neun Monate später, am 7. Mai 1997, trat Eizenstat mit einem 200-Seiten-Bericht vor die Presse.
„Die Schweizer Nationalbank muss gewusst haben, dass ein Teil des Goldes aus besetzten Ländern geraubt worden war. Es war allgemein bekannt, dass die Reichsbank kaum noch eigenes Gold besaß.“
Jüdischer Weltkongress: Größter Raub der Menschheitsgeschichte
Das Nazi-Gold stammte außerdem von Holocaust-Opfern. Schmuck, eingeschmolzenes Zahngold. Der jüdische Weltkongress sprach nach Erscheinen des Eizenstat-Berichts vom größten Raub der Menschheitsgeschichte. Die Weltöffentlichkeit reagierte entsetzt – und die Schweizer stellten ihr Selbstbild in Frage. Der Historiker Stefan Keller:
„Ich glaube, dass etwas sehr Wichtiges war in diesem Prozess: der Liebesentzug eines Teils der USA, also der US-Medien. Das hatten die Schweizer nie erwartet. Dass plötzlich sie nicht mehr so lieb Kind sind, die essen ja auch unsere Schokolade. Das war ein ungeheurer Schock.“
Der Schock war auch deshalb so groß, weil zeitgleich aufgedeckt wurde, dass Schweizer Banken unter Berufung auf ihr vielgerühmtes Bankgeheimnis den Nachkommen von etwa im KZ ermordeten Juden seit Jahrzehnten den Zugriff auf deren namenlose Nummernkonten verweigerten. Ohne Totenschein ginge das nicht, so die mehr als zynische Begründung.
Schweiz verweigerte Nachkommen Zugriff auf Nummernkonten
Lange hatte die Schweiz geglaubt, sich mit dem so genannten Washingtoner Abkommen von 1946 von historischer Schuld freigekauft zu haben. Damals hatten sich die alliierten Sieger mit Bern auf eine Einmalzahlung von 250 Millionen Franken für den europäischen Wiederaufbau geeinigt. Auch weil bereits Kalter Krieg herrschte. Gregg Rickman:
„Europa brauchte die Schweiz, es brauchte sie gegen die Sowjetunion. Deutschland musste aufgebaut werden als Pufferzone. Und aus den Dokumenten wissen wir, dass Großbritannien am Ende des Krieges versuchte, Kredite von der Schweiz zu bekommen, und deshalb war Großbritannien besonders nachgiebig.“
Längst noch nicht alle Konten ausfindig gemacht
Nach dem Eizenstat-Bericht von 1997 wuchs der Druck auf die Schweiz. Bern richtete eine Untersuchungskommission ein. Über 50.000 Konten mit Bezug zu Holocaust-Opfern wurden ausfindig gemacht. Schweizer Banken verpflichteten sich schließlich zu einer Zahlung von insgesamt 1,25 Milliarden Dollar an Nachfahren getöteter Kontobesitzer. Der Verbleib des Nazi-Raubgolds ist allerdings bis heute nicht vollständig aufgeklärt