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Toxische Zerfallsprodukte
Stadtluft enthält Bestandteile von Flammschutzmitteln

Die Luft von Großstädten enthält mehr Abbauprodukte von Industriechemikalien als bisher bekannt. Wie giftig diese beim Einatmen sind, ist vielfach noch unklar. Solche Abbauprodukte sollten aber künftig bei der Bewertung und Zulassung neuer Chemikalien miteinbezogen werden, fordern Wissenschaftler.

Von Volker Mrasek |
Dezember 2019: Smog über der chinesischen Hauptstadt Peking
Dezember 2019: Smog über der chinesischen Hauptstadt Peking (dpa/Qing Chun)
In der Luft von Großstädten wimmelt es offenbar von unbekannten Abbauprodukten gängiger Industriechemikalien. Das demonstriert die neue kanadische Studie am Beispiel von Organophosphaten. Diese Stoffgruppe wird weltweit als Flammschutzmittel eingesetzt, zum Beispiel in Möbeln, Haushalts- und Elektronikgeräten. Darin sind die Substanzen aber nicht fest gebunden und entweichen zum Teil. Durch Reaktionen in der Atmosphäre entstehen aus den Organophosphaten etliche andere, bisher unentdeckte Chemikalien, wie die Forscher jetzt mit ihrer Veröffentlichung im Fachmagazin „Nature“ zeigen. John Liggio von der staatlichen kanadischen Umweltfachbehörde in Toronto ist einer der Studienleiter:
“Wir haben neun Organophosphate ausgewählt und zunächst einmal im Labor simuliert, was aus ihnen unter Bedingungen wie in der Stadtluft entsteht. Das waren fast 200 verschiedene Abbauprodukte! Die haben wir chemisch und physikalisch charakterisiert und dann geschaut, ob wir sie auch draußen in der realen Atmosphäre finden.“

Luftproben aus New York, Tokio und Istanbul                                                  

Den Forschern standen dafür Luftproben aus 18 Millionenstädten auf der ganzen Welt zur Verfügung, darunter New York, Tokio, Peking, Sydney und Istanbul. Auch London, Warschau und Madrid waren vertreten, deutsche Städte dagegen nicht. Tatsächlich stießen die Analytiker in den Proben auf 19 Abbauprodukte der Organophosphate. Zehn von ihnen kommen demnach in jeder Megastadt vor:
“Das sind aber nur Mindestzahlen! Unsere Geräte zur Analyse der Luftproben erfassen nämlich nur bestimmte chemische Abbauprodukte und nicht alle, die man erwarten könnte.“

Chemicals of emerging concern

Organophosphate sind Verbindungen, die sich von Phosphorsäure herleiten. Wie giftig sie sind, ist in vielen Fällen noch nicht hinreichend untersucht. Sie gelten aber als chemicals of emerging concern, also als Chemikalien die wachsenden Grund zur Sorge bereiten, wie John Liggio sagt. So weiß man von verschiedenen technischen Organophosphaten, dass sie Körperenzyme in ihrer Wirkung beeinträchtigen und das Nervensystem schädigen können. Doch was ist mit den neuentdeckten Abbauprodukten in der Stadtluft?
“Wir können das Risiko der Abbauprodukte im Vergleich zur Ausgangssubstanz abschätzen, und das haben wir auch getan. Bei manchen Organophosphaten sind 80 Prozent der Abbauprodukte giftiger als die Ausgangssubstanz. Und wenn sie Chlor enthalten, dann sind die Abkömmlinge auch persistenter, verbleiben also länger in der Umwelt.“                 

Gesundheitsgefährdung noch unklar

Ob die Menschen in Megastädten gesundheitlich gefährdet sind, wenn sie die umgewandelten Flammschutzmittel-Wirkstoffe einatmen, das vermag der Chemiker aber nicht zu sagen:
“Niemand bricht deswegen auf der Straße zusammen, das kann ich Ihnen versichern! Möglich sind aber Langzeiteffekte. Ob es sie gibt, können wir derzeit noch nicht sagen.“       

"Man sollte auch die Abbauprodukte der Substanz miteinbeziehen"

Am höchsten waren die Konzentrationen der Chemikalien in New York und London. Der Spitzenwert betrug 15 Nanogramm pro Kubikmeter Luft. Das ist zwar nicht sonderlich viel. Doch Schadstoffe lägen fast immer nur in Spurenkonzentrationen in der Umwelt vor, so Liggio. Von seiner Studie erhofft sich der Chemiker eine Signalwirkung für die Zulassung neuer Stoffe:
“Sagen wir, die Industrie kommt morgen mit einer neuen Chemikalie, die sie einsetzen möchte. Dann genügt es nicht, nur sie zu bewerten. Man sollte auch die Abbauprodukte der Substanz miteinbeziehen. Jede Industriechemikalie, die in die Atmosphäre gelangt, bildet wahrscheinlich Dutzende oder Hunderte anderer Verbindungen.“