Ende August findet die Biathlon-Sommer-WM 2022 in Ruhpolding statt. Ausgeschlossen sind alle russischen Sportler. Mit am Start ist aber die ukrainische Biathletin Olena Bilosiuk. Eigentlich hatte sie ihre Karriere im Frühjahr nach Peking 2022 bereits beenden wollen, doch dann kam der russische Angriff auf die Ukraine.
Im Interview mit dem Deutschlandfunk berichtet sie, wie es ihr nach der russichen Invasion ergangen ist, wie schwer ihr 2014 ihr Olympiasieg im russichen Sotschi gefallen ist und warum sie nicht alle Russen über einen Kamm scheren will.
Das Interview in voller Länge:
Matthias Friebe: Was bedeutet es für Sie an den Weltmeisterschaften in Deutschland teilnehmen zu können?
Olena Bilosiuk: Ich bin natürlich sehr froh, dass ich diese Möglichkeit habe. Wie man bei uns hier sagt: Ich danke der ukrainischen Armee dafür. Ich danke ihr, dass ich heute mit dem Team hier sein und unser Land bei einem internationalen Wettbewerb vertreten kann.
Friebe: Lernt man in diesen Zeiten für sich, dass der Sport, egal wie erfolgreich er betrieben wird, am Ende nur eine Nebensache ist?
Bilosiuk: Ihre Frage enthält eigentlich schon die Antwort. Der Krieg dauert jetzt schon ein halbes Jahr. Und wir können immer noch nicht ruhig schlafen, ruhig die Nachrichten anschauen. Das ist ein ständiger Schmerz. Dank der jungen Männer, die unser Land verteidigen, haben wir die Möglichkeit, weiter zu trainieren. Ich bin ihnen sehr dankbar und bin sehr froh über diese Möglichkeit.
Der Krieg zeigt die Schwächen und Stärken jedes Menschen auf. Ein schwacher Mensch verliert an Kraft, ein starker Mensch wird stärker. Die emotionalen Höhen und Tiefen, die man jetzt erlebt, haben großen Einfluss auf dich. Dein Umfeld ändert sich, das Verhältnis zu den Freunden, zur Familie, alles ändert sich. Mein Leben hat sich komplett verändert, von A bis Z.
"Ich wollte nie alle Menschen einer Gruppe über einen Kamm scheren"
Friebe: Sie sind ja seit vielen Jahren erfolgreiche Sportlerin. Konnten Sie sich jetzt überhaupt vorbereiten?
Bilosiuk: Es hat sich für uns Biathleten so ergeben, dass gerade die Saison zu Ende ging, als der Krieg begann. Die Olympischen Spiele waren zu Ende gegangen, da begann der Krieg. In der Pause zwischen den Saisons hat sich die Möglichkeit aufgetan, ins Ausland zu gehen und dort zu trainieren. Deshalb können wir uns jetzt seit zwei, drei Monaten in vollem Umfang vorbereiten.
Ich wollte meine Karriere eigentlich im Frühling beenden. Aber wegen der Umstände mache ich doch weiter. Biathlon in der Ukraine erlebt eine sehr schwere Zeit. Ich habe viel Erfahrung und kann sie an die Jüngeren weitergeben. Deshalb bleibe ich noch, um das ukrainische Biathlon zu unterstützen. Ich will hinzufügen, dass ich der IBU sehr dankbar bin, die uns zwei oder sogar drei Trainingslager bezahlt. Sie hilft uns, ins Ausland auszuweichen.
Friebe: Die IBU, der Weltbiathlon-Verband, will Russland und Belarus weiter ausschließen. Ich vermute, das halten Sie für die einzig mögliche Entscheidung…
Bilosiuk: Wir sind der IBU dankbar für ihre entschlossene Haltung. Sie war eine der ersten Sportorganisationen, die sich dafür ausgesprochen hat, Sportler aus Russland auszuschließen. Wir sind dafür dankbar, denn nicht wir haben ihr Land überfallen. Ihr Land hat uns überfallen.
Friebe: Was würde es mit Ihnen machen, wenn Sie gegen Athletinnen aus Russland antreten müssen?
Bilosiuk: Das würde negative Emotionen auslösen. Ich wollte nie alle Menschen einer Gruppe über einen Kamm scheren. Aber das, was die Ukraine jetzt durch den Überfall Russlands durchmacht, das lässt sich gar nicht beschreiben. Und das kann man auch nicht akzeptieren. Jeder mit einem russischen Pass muss heute als Feind der Ukraine gelten, auch wenn wir Verwandte und nahestehende Menschen in Russland haben. Selbst sie kennen die Wirklichkeit nicht, wissen nicht, was wirklich in der Ukraine vor sich geht. Sie werden vom russischen Fernsehen in die Irre geführt. Sie verstehen nicht, dass ihre Armee unser Land erobern - und nicht irgendjemanden vor uns retten will.
"Dass ich Gold in Sotschi gewonnen habe, hat den Erfolg schon damals getrübt"
Friebe: 2014, ausgerechnet in Sotschi, haben Sie olympisches Gold gewonnen. Wie blicken Sie aus der Perspektive heute auf die Spiele in Russland zurück? Ist die Freude immer noch in dieser Form da?
Bilosiuk: Dass ich die Goldmedaille in Sotschi gewonnen habe, hat den Erfolg schon damals getrübt. Sportlerinnen und Sportler bringen normalerweise Souvenirs von Olympischen Spielen mit nach Hause. Aber ein, zwei Wochen nach den Spielen in Sotschi hat Russland mit der Annexion der Krim begonnen. Das war eine unmittelbare Aggression gegen die Ukraine. Ich hatte Kühlschrankmagneten mit der Aufschrift "Sotschi, Russische Föderation" mitgebracht, aber ich konnte sie niemandem schenken. Das war jetzt ein feindliches Land.
Außerdem habe ich die Medaille einen Tag nach Erschießungen auf dem Maidan in Kiew gewonnen. Das waren tragische Tage. Vor dem Hintergrund solch tragischer Ereignisse habe ich die Medaille gewonnen. Als wir nach Hause zurückkamen, gab es keinen Präsidenten mehr, im Land herrschte Chaos. Wir wussten nicht, ob uns jemand empfängt und ob sich noch jemand für die Medaille interessiert.
Aber als ich zu Hause mit den Leuten gesprochen habe, sagten sie, dass uns Millionen Menschen dankbar waren für die Medaille. Sie haben gesagt, das war ein Lichtblick für sie angesichts der tragischen Ereignisse, der vielen Opfer auf dem Maidan. Die Medaille war ein Symbol, dass wir uns nicht unterkriegen lassen. Wir stehen wieder auf, wir werden siegen. Sie ist für mich mit sehr gemischten Gefühlen verbunden.
"Ich hatte Sehnsucht nach dem Biathlon"
Friebe: Sport ist immer sehr politisch. Nach Ihrem Olympia-Gold waren Sie kurzzeitig auch stellvertretende Sportministerin der Ukraine. Hat das Ihre Sicht auf diese politische Seite des Sports verändert?
Bilosiuk: Bis dahin hatte ich mich gar nicht für Politik interessiert. Aber die Politik ist in mein Leben gekommen. Ich war für nicht-olympische Sportarten zuständig. Das war interessant, ich habe diese Arbeit gemocht. Aber ich bin zum Sport zurückgekehrt, denn ich hatte Sehnsucht nach dem Biathlon. Ich dachte auch, dass ich noch nicht alles gezeigt hatte, wozu ich im Biathlon fähig bin. Obwohl alle sagen: Sport ist unpolitisch - das sind eng miteinander verbundene Dinge, Sport und Politik.
Friebe: Im Februar, vor fast einem halben Jahr begann der Krieg. Wie ist es Ihnen in den letzten Monaten seit Kriegsbeginn ergangen? Sie haben ja auch eine Stiftung gegründet.
Bilosiuk: Die ersten Monate habe ich mich in der Ukraine aufgehalten und konnte kaum zu mir kommen, keine Ruhe finden. Ich wusste, dass ich etwas tun muss. Da hat sich ein Freund aus dem Ausland an mich gewendet. Er gebe der ukrainischen Armee Munition und Kleidung. Aber er habe sein ganzes Geld dafür ausgegeben. Deshalb fragte er, ob ich nicht Geld sammeln könne. Ich habe einen Aufruf auf Facebook veröffentlicht. Ich bin darin kein Profi, und wir haben nur eine kleine Summe sammeln können. Aber wir haben sie dem Freund überwiesen, er hat damit Schutzwesten, Helme und Schuhe besorgt und in die Ukraine geschickt.
Friebe: Wir haben mit vielen Sportlerinnen und Sportlern aus der Ukraine gesprochen in den letzten Monaten und sie immer gefragt: Was gibt Ihnen Hoffnung in dieser Zeit?
Bilosiuk: Der Glaube an die Ukrainerinnen und Ukrainer. Zu Beginn des Kriegs haben sich auch Obdachlose und Bauern an der Verteidigung beteiligt. Das klingt heute vielleicht lächerlich, aber im Grunde verteidigen alle Ukrainer unseren Staat. Jeder, wie er kann, als freiwilliger Helfer, als Geschäftsmann, der spendet, oder an der Front. Eine derart solidarische Nation muss man erst einmal finden. Jeder glaubt an jeden, und wir kämpfen bis zum Letzten, denn wir verteidigen unser Zuhause.