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Internationale Strafgerichtsbarkeit
„Pionierleistungen der deutschen Justiz mit einer weltweiten Ausstrahlungswirkung“

Die neue Bundesregierung müsse wieder die Führungsrolle beim Aufbau der internationalen Strafgerichtsbarkeit übernehmen, fordert der Völkerrechtler Claus Kreß. Die deutsche Justiz hat sich mit zwei Urteilen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit internationale Anerkennung erworben.

10.12.2021
Völkerrechtler Claus Kreß als "amicus curiae" vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag
Professor Claus Kreß war im September 2018 als „amicus curiae“ vor dem Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court)
Die deutsche Justiz hat mit zwei Fällen international für Aufmerksamkeit gesorgt. Im Februar hatte das Oberlandesgericht Koblenz einen ehemaligen Mitarbeiter des Assad-Regimes in Syrien zu viereinhalb Jahren Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Eyad A. war Mitglied einer Abteilung des syrischen Geheimdienstes. Diese Abteilung betrieb ein Gefängnis, in dem systematisch gefoltert wurde. Der Verurteilte hatte dafür gesorgt, dass im Herbst 2011 mindestens 30 Demonstranten in das Foltergefängnis gebracht wurden.

Urteile wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Ende November hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main einen aus dem Irak stammenden 29 Jahre alten Anhänger der Terrororganisation IS unter anderem wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Angeklagte hatte 2015 zusammen mit seiner aus Deutschland stammenden früheren Ehefrau ein fünf Jahre altes jesidisches Mädchen verdursten lassen.

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Die Urteile hält der Völkerrechtler Claus Kreß für "Pionierleistungen der deutschen Justiz". Kreß lehrt deutsches und internationales Strafrecht an der Universität Köln, ist einer der führenden Völkerrechtler in Deutschland und Special Advisor, Berater des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.

Geburtsstunde für ein universelles Völkerstrafrecht

Mit den Nürnberger Prozessen gegen führende Nazis, die 1945 begannen, wurde der Grundstein für eine neue Rechtsordnung gelegt. Der Völkerrechtler Claus Kreß sagte im Deutschlandfunk, dass dementsprechend Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord die internationale Gemeinschaft als ganze betreffen und darum jeder einzelne Staat die Strafverfolgung betreiben kann. Die klassische Immunität von Amtsträgern sei zudem dort nicht anwendbar, wo es um Völkerrechtsstraftaten geht. In diesem Punkt habe sich die alte Bundesregierung nicht stark genug gemacht, kritisierte Kreß.
Im Koalitionsvertrag findet sich auf Seite 147 der Satz: „In Deutschland wollen wir die Kapazitäten bei Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch ausbauen.“ Diesen Worten müssten nun Taten folgen.

Den Worten im Koalitionsvertrag Taten folgen lassen

Kreß forderte zudem, dass Deutschland den Internationalen Strafgerichtshof wieder uneingeschränkt unterstützen müsse, auch bei politischem Gegenwind. Kreß machte zudem "machtvolle Renationalisierungstendenzen" der letzten Jahre mitverantwortlich für die Untergrabung des Völkerstrafrechts, etwa, wenn es um die Nichtaufhebung von Immunität für Amtsträger geht. Hier müsse die Bundesregierung deutlich dagegen halten, fordert Kreß.
Auf nationaler Ebene brauche es zudem eine bessere Finanzierung - die Expertise sei in hohem Maß vorhanden. Derzeit fehle es offenbar sogar an Mitteln, um die Urteile ins Englische übersetzen zu lassen. Das müsse sich dringend ändern.

Das Interview in voller Länge:

Christoph Heinemann: Professor Kreß, welches Signal geht von diesen beiden Verfahren aus?
Claus Kreß: Sie haben den Gegenstand der beiden Urteile schon präzise umrissen. Das OLG Koblenz hat festgestellt, dass das Assad-Regime einen Teil seiner Zivilbevölkerung mit einem Angriff in Gestalt systematischer Morde, willkürlicher Verhaftungen und Folter überzogen hat, und das OLG Frankfurt hat festgestellt, dass der Angriff des sogenannten Islamischen Staats gegen die religiöse Minderheit der Jesiden darüber hinaus sogar einen Völkermord darstellt.
Bedeutsam ist, dass es sich in beiden Fällen um gerichtliche Feststellungen handelt, die aus einer umfassenden Beweisaufnahme hervorgegangen sind, und das sind Pionierleistungen der deutschen Justiz mit einer weltweiten Ausstrahlungswirkung.

„Pionierleistungen der deutschen Justiz“

Heinemann: Sie waren, Professor Kreß, als Berichterstatter des UN-Sicherheitsrates geladen. Wie sind diese Urteile in New York aufgenommen worden?
Kreß: Ich konnte in New York nur über das Koblenzer Urteil berichten. Das Frankfurter Urteil erging einen Tag später. Zum Koblenzer Urteil kann ich sagen: Mit großem Respekt. Mit großem Respekt zum einen für die Professionalität der deutschen Justiz, und ich möchte hier ausdrücklich die Arbeit des Bundeskriminalamtes und der Generalbundesanwaltschaft mit einschließen. Aber auch mit großem Respekt dafür, dass die deutsche Justiz hier ja nicht primär im nationalen Interesse gehandelt hat, sondern dass sich die deutsche Justiz und damit Deutschland eingesetzt hat für die Verwirklichung eines Interesses der internationalen Gemeinschaft insgesamt daran, dass Völkerstraftaten wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord nicht ungesühnt bleiben.
Die Angeklagte wird von einer Justizwachtmeisterin in den Verhandlungssaal am Oberlandesgericht in Frankfurt geführt.
Oberlandesgericht in Frankfurt: Zusammen mit ihrem Mann hat die deutsche Angeklagte 2015 ein fünf Jahre altes jesidisches Mädchen verdursten lassen (dpa)
Heinemann: Wenn wir noch mal auf Koblenz schauen. Wer hat bisher verhindert, dass Völkerstraftaten zum Beispiel des Assad-Regimes in Syrien international auf die Tagesordnung kommen?
Kreß: Allen anderen voran Russland. Es war immer wieder Herr Putin, der verhindert hat, dass die Situation Syrien durch den Sicherheitsrat, der hierzu befugt gewesen wäre, dem Internationalen Strafgerichtshof zur Bearbeitung, zur Ermittlung überwiesen worden wäre. Immer wieder hat sich Herr Putin vor seinen Schützling Assad gestellt.

Die internationale Gemeinschaft als Treuhänder

Heinemann: Wie ist überhaupt Strafverfolgung möglich, wenn diese im jeweiligen Land – bleiben wir beim Beispiel Syrien – einfach nicht möglich ist und auch kein internationales Tribunal zum Zuge kommen kann?
Kreß: Dann muss ein auswärtiger Staat die Strafverfolgung übernehmen, und zwar nach dem sogenannten Weltrechtspflegeprinzip, so wie es in Deutschland nach seinem Völkerstrafgesetzbuch möglich ist. Das Weltrechtspflegeprinzip beruht auf der Grundidee, dass die Völkerstraftaten wie etwa Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit die internationale Gemeinschaft als ganze betreffen und dass in der Konsequenz jeder einzelne Staat, der dann gewissermaßen als Treuhänder dieser internationalen Gemeinschaft handelt, die Strafverfolgung betreiben kann.
Damit dann in der Praxis ein Strafverfahren wie das in Koblenz, wie das in Frankfurt stattfinden kann, bedarf es natürlich günstiger praktischer Rahmenbedingungen, die nicht allzu häufig gegeben sind. Ich will es kurz am Koblenzer Fall verdeutlichen. Wir hatten hier einen einigermaßen kooperativen Angeklagten auf deutschem Boden. Wir hatten eine beträchtliche Zahl von syrischen Flüchtlingen, die als Zeugen, auch als Opferzeugen aussagen konnten. Und wir hatten die berühmt gewordene sogenannte Cäsar-Bilddatei, schreckliche Bilder von zu Tode gefolterten Menschen in Syrien, die der unter dem Decknamen Cäsar bekannte ehemalige syrische Militärfotograf ins Ausland gespielt hat. Diese Datei ist von der Gerichtsmedizin der Universität zu Köln für die Zwecke des Koblenzer Verfahrens in einer ganz beeindruckend akribischen Arbeit ausgewertet worden und all dies zusammengenommen hat dazu geführt, dass in Koblenz der Beweis, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden sind, geführt werden konnte.
Ein Mann im Gericht hält sich eine Akte vors Gesicht, während ihm ein Beamter die Handschellen abnimmt.
Das OLG Koblenz spricht im Februar 2021 ein Urteil gegen mutmaßliche Agenten des syrischen Geheimdienstes, Eyad A. (picture alliance/dpa Pool/Thomas Frey)
Elan der alten Bundesregierung fehlte
Heinemann: Spätestens bei dem Weltrechtspflegeprinzip, das Sie angesprochen haben, kommt ja die Politik ins Spiel. Welchen Eindruck hatten Sie von der Haltung der alten Bundesregierung zu Völkerstrafrecht und internationaler Strafgerichtsbarkeit?
Kreß: Lassen Sie es mich vielleicht so sagen: Der Elan der alten Bundesregierung, jedenfalls in der letzten Zeit, hat nach meinem Eindruck nicht ganz dem beeindruckenden Einsatz der deutschen Justiz entsprochen. Und das ist deshalb aufgefallen, weil die deutsche Bundesregierung (die Bundesregierungen, sollte ich sagen) über Jahre hinweg, gemeinsam mit anderen, eine Führungsrolle übernommen haben beim Aufbau der internationalen Strafgerichtsbarkeit seit Mitte der 1990er-Jahre und sich hier sehr große Anerkennung international erworben hat. Ich würde mir sehr wünschen, dass die neue Bundesregierung genau an diesem Punkt jetzt wieder anknüpft.

Den Internationalen Strafgerichtshof uneingeschränkt unterstützen

Heinemann: Schauen wir zu diesem Zweck noch mal in den Koalitionsvertrag. Da steht: „Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen muss weltweit beendet werden. Deshalb engagieren wir uns für die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs und der ad hoc Tribunale der Vereinten Nationen und wir werden uns für die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts einsetzen.“ Am Schluss des Abschnitts dieses Paragraphen steht dann der eben zitierte Satz: „In Deutschland wollen wir die Kapazitäten bei Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch ausbauen.“ – Frage an den Völkerrechtler: ist das viel oder wenig?
Kreß: Das ist zumindest nicht wenig. Entscheidend ist aber, dass diesen Worten jetzt auch Taten folgen. Das betrifft zunächst einmal die internationale Ebene. Auf der internationalen Ebene muss Deutschland den Internationalen Strafgerichtshof wieder uneingeschränkt unterstützen, und mit uneingeschränkt meine ich auch die Situation und gerade die Situationen, wenn es zu Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofs harten politischen Gegenwind gibt, egal ob ein solcher Gegenwind aus Russland kommt oder aus den USA.
Und was die nationale Ebene anbetrifft, da haben wir gesehen: Die Expertise ist in hohem Maße vorhanden, aber es bedarf auch ausreichender Finanzierung. Verfahren wie die in Koblenz und in Frankfurt sind ausgesprochen aufwendig und das betrifft bereits das Bundeskriminalamt und die Generalbundesanwaltschaft. Jetzt ist es so: Die deutsche Justiz ist insgesamt nach meinem Eindruck nicht blendend ausgestattet. Man kann das Problem nicht einfach durch interne Umschichtungen lösen. Es bedarf wirklich der kräftigen Unterstützung der Bundesregierung, wie im Koalitionsvertrag angekündigt.
Und eine wichtige Bemerkung: Es geht auch um Mittel für die Verbreitung der Arbeit der deutschen Justiz in diesem Bereich, das sogenannte Outreach. Es ist ja wichtig, dass von solchen Verfahren wie in Koblenz und in Frankfurt dann auch ein gewünschtes internationales Signal ausgeht gegen Völkermord und Menschlichkeitsverbrechen. Das heißt, die Welt muss auch von solchen Urteilen erfahren. Gegenwärtig fehlt es aber offenbar sogar an Mitteln dafür, die entsprechenden Urteile ins Englische zu übersetzen. Das sollte sich unbedingt ändern.

Renationalisierungstendenzen untergraben das Völkerstrafrecht

Heinemann: Professor Kreß, Sie haben in einem Interview gesagt, Sie hätten sich mehr Mut der Koalitionäre in der Frage der Immunität ausländischer Staatsorgane gewünscht. Was bedeutet das?
Kreß: Nehmen Sie den Koblenzer Fall. Der Angeklagte war zum Tatzeitpunkt ein Mitarbeiter einer der syrischen Geheimdienste. Er war also Amtsträger und Amtsträger genießen nach dem klassischen Völkerrecht vor ausländischen Gerichten sogenannte funktionale Immunität. Funktionale Immunität bedeutet ein Strafverfolgungshindernis. Dann kann ein Strafverfahren überhaupt nicht stattfinden.
Es dürfte offenkundig sein, dass dies der Grundidee des Völkerstrafrechts widerspricht, denn dort geht es ja gerade darum, Staatsorgane persönlich zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie Völkerstraftaten begangen haben. Deshalb hat bereits das Nürnberger Militärtribunal nach dem Zweiten Weltkrieg in der Geburtsstunde des Völkerstrafrechts klargemacht, dass die klassische funktionale Immunität dort nicht anwendbar ist, wo es um Völkerstraftaten geht, und der Bundesgerichtshof hat dies in einem hoch überzeugenden Grundsatzurteil gerade einen Monat vor dem Urteil des OLG Koblenz in einer minutiösen Beweisführung bestätigt.
An dieser Stelle allerdings ist es auf der internationalen Ebene in den letzten Jahren zu ganz erheblichem Gegenwind gekommen, einem Gegenwind, der sich einfügt in machtvolle Renationalisierungstendenzen, die wir an vielen Stellen der Völkerrechtsordnung feststellen, und an diesem Punkt hat die alte Bundesregierung nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit dagegengehalten, sich für die Nichtanwendbarkeit funktionaler Immunität starkgemacht, in Übereinstimmung mit den Nürnberger Prinzipien. An der Stelle hätte ich mir deshalb ein deutliches Wort der Klarheit im Koalitionsvertrag gewünscht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(Red: Wir haben ein Bild ausgetauscht, das zu einem anderen Prozess wegen Kriegsverbrechen in Syrien gehörte)