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Altersbedingte Genmutation
Ohne Y-Chromosom werden Männer öfter krank

Männer über 70 verlieren oft das Ypsilon-Chromosom in ihren Blutzellen. Die altersbedingte Genmutation verkürzt die Lebenserwartung. Im Tierversuch konnten Wissenschaftler aus den USA und Schweden jetzt zeigen, was im Körper passiert, wenn das Geschlechtschromosom fehlt.

Michael Lange im Gespräch mit Michael Böddeker | 15.07.2022
Alter Mann, das Gesicht ist halb zu sehen
Alter Mann, Senior (picture alliance / Zoonar / Anna Derzhina)
Während die meisten Frauen zwei X-Chromosomen in ihren Zellen haben, ist bei Männern in aller Regel nur eines davon zu finden - und dafür zusätzlich ein Ypsilon-Chromosom. Allerdings kann dieses Y-Chromosom im Laufe des Lebens verloren gehen, infolge alterbedingter Genmutationen bei der Zellteilung. Die gesundheitlichen Folgen seien vielfältig, erklärte der Wissenschaftsjournalist Michael Lange im Gespräch mit dem Dlf: Herzkrankheiten treten dann häufiger auf, ebenso Krebs und Alzheimer. Möglicherweise sei das ein Grund dafür, dass Männer im Schnitt früher sterben als Frauen.
Warum verlieren viele Männer im Laufe des Lebens ihr Ypsilon-Chromosom?
Das männliche Ypsilon-Chromosom ist das mit Abstand kleinste menschliche Chromosom. Es befinden sich nur einige wenige Gene darauf, die dafür sorgen, dass ein Embryo männlich wird. Fehlt das Ypsilon-Chromosom, entwickelt sich ein weiblicher Embryo. Im späteren Leben eines Mannes geht das Ypsilon-Chromosom durch Kopierfehler bei der Zellteilung oft verloren. Es entsteht ein Mosaik aus Körperzellen mit Ypsilon-Chromosom und Zellen ohne Ypsilon-Chromosom.
Je kleiner ein Chromosom, umso größer das Risiko, dass nicht beide Tochterzellen nach der Zellteilung ein Ypsilon besitzen. Der Ypsilon-Verlust im Laufe des Lebens ist die häufigste Mutation im Menschen überhaupt. In weißen Blutzellen ist das gut untersucht. Wahrscheinlich sind auch andere Zellen betroffen. Besonders solche, die sich oft teilen, wie Hautzellen oder Zellen des Darmepithels.
Wie wirkt sich der Verlust des Ypsilon-Chromosoms auf die Gesundheit aus?
Der Verlust des Ypsilon-Chromosoms gilt schon lange als mögliche Hauptursache dafür, dass Männer im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre kürzer leben als Frauen. Diese neuen Untersuchungen jetzt, mit Daten aus der UK-Biobank in Großbritannien zeigen, dass viele weiße Blutzellen bei älteren Männern oft kein Ypsilon-Chromosom mehr besitzen. Bei 60jährigen Männern sind etwa 20 Prozent der Zellen betroffen, bei 70jährigen sogar 40 Prozent. Die nun vorliegenden Ergebnisse belegen einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Verlust des Ypsilon-Chromosoms und Herzkreislauf-Erkrankungen. Auch das Risiko für Tumorerkrankungen und die Alzheimer-Krankheit ist erhöht.
Was passiert in Blutzellen, wo das Ypsilon-Chromosom fehlt?
Um das zu untersuchen, haben Wissenschaftlerteams in den USA und Schweden Mäuse so verändert, dass ihren Blutzellen das Ypsilon-Chromosom fehlte. Das machten sie durch gezielte Erbgut-Veränderungen mithilfe der Genschere Crispr/Cas. Bei der Untersuchung der Mäuse entdeckten sie anschließend eine deutliche Schädigung des Herzens. Häufig kam es zur Fibrose. Das heißt: Es bildete sich schädliches Bindegewebe - eine Art Narbengewebe, das die Funktion des betroffenen Organs stört. Dadurch nimmt insbesondere die Zahl der Herzentzündungen zu.
Die Mäuseexperimente zeigen: Wenn das Ypsilon-Chromosom fehlt, aktivieren die Tiere einen bestimmten molekularen Signalweg. Eine Schlüsselrolle kommt dem Wachstumsfaktor TGF-Beta 1 zu. Der führt zu Fibrose und erhöht das Risiko für Herzkreislauf-Krankheiten.

Gibt es Therapieansätze, um solche Herzschäden zu verhindern?

Dazu müsste dann zunächst einmal untersucht werden, ob in den Blutzellen eines Mannes das Ypsilon-Chromosom fehlt. Das ist relativ einfach. Bei Männern, denen das Ypsilon fehlt, wäre dann eine krankheitsvorbeugende Behandlung denkbar. Zum Beispiel durch Medikamente, die die Fibrose bekämpfen. Der Wirkstoff Pirfenidon könnte hier nützlich sein. Er ist zugelassen und wird gegen Lungenfibrose verwendet. An Mäusen wurde außerdem ein monoklonaler Antikörper ausprobiert, der den schädlichen Signalweg gezielt blockiert. Aber bis zu einer Therapie beim Menschen wird sicher noch viel Zeit vergehen.
Lässt sich der Verlust des Ypsilon-Chromosoms irgendwie verhindern?
Der Verlust des Ypsilons ist eine Folge des natürlichen Alterungsprozesses. Die Zellteilung wird mit dem Alter immer ungenauer, und so kommt es zu Fehlern. Das lässt sich nicht verhindern. Es sei denn es gelingt, direkt auf Alterungsprozesse einzuwirken. Das ist prinzipiell möglich, zum Beispiel durch gesunde Lebensführung: ausreichend Bewegung, gesunde Ernährung, nicht Rauchen.
Wenn das Ypsilon-Chromosom so wichtig ist, wieso kommen Frauen so gut ohne es aus?
Diese Frage ist noch nicht geklärt. Frauen besitzen statt des Ypsilon-Chromosoms ein zweites X-Chromosom. Es dient als Backup bei schädlichen Mutationen. Das funktioniert anscheinend ganz gut. Das Fehlen des Ypsilon-Chromosoms bei Frauen scheint keinerlei schädliche Wirkung zu haben. Denn Frauen leben länger und leiden seltener an altersbedingten Herzkreislauf-Erkrankungen. Es geht also auch ohne Ypsilon-Chromosom.