Der Weg für das Bürgergeld ist frei: Bundestag und Bundesrat stimmten am 25. November 2022 dem im Vermittlungsausschuss erzielten Kompromiss zu. Damit kann die neue Grundsicherung für Langzeitarbeitslose wie geplant zum 1. Januar in Kraft treten. Im Bundestag stimmten die Ampel-Fraktionen und die Union mit Ja, AfD und Linke waren dagegen. Die anschließende Zustimmung im Bundesrat erfolgte mit großer Mehrheit der Länder.
Mit dem Bürgergeld wollte die Ampelkoalition das Sozialsystem grundlegend reformieren. Leistungsempfänger sollten zukünftig stärker gefördert werden und dabei mehr Freiheit und Vertrauen erfahren. Doch eine solche Reform braucht auch eine Mehrheit im Bundesrat – und die gibt es momentan nur mit dem Segen der Unions-Parteien. Einen ersten Entwurf hatten die Bundesländer mit Regierungsbeteiligung der Union im Bundesrat abgelehnt. Seitdem haben die Parteien der Ampelkoalition mit der Union um einen Kompromiss gerungen, am 22. November haben sie sich geeinigt.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verteidigte den Kompromiss im Deutschlandfunk. "Mit dem Bürgergeld wird der Staat gerechter und moderner", so der SPD-Politiker. Er betonte, dass das Bürgergeld mehr sei als die Grundsicherung Hartz IV. Es bringe Menschen besser und langfristig in Arbeit.
Was sieht der Kompromissentwurf für das Bürgergeld vor?
Ein ursprünglicher Kernpunkt der Reform wurde kassiert: der Verzicht auf frühe harte Sanktionen gegen Bezugsberechtigte von Arbeitslosengeld II (verkürzt als Hartz IV bezeichnet). Laut jüngsten Zahlen der Bundesagentur sind das knapp 3,7 Millionen Menschen in Deutschland.
Sanktionen bleiben möglich
Diese Menschen werden jetzt doch keine sogenannte Vertrauenszeit bekommen. Diese sah vor, dass Bürgergeldbeziehende in den ersten sechs Monaten nach Abschluss eines Kooperationsplans selbst dann nicht mit Leistungskürzungen rechnen müssen, wenn sie ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen. Nur Terminverstöße sollten sanktioniert werden. Nun werden Sanktionen doch ab dem ersten Tag möglich bleiben. Sie lassen laut Vorschlag abgestufte Leistungskürzungen von zehn bis 30 Prozent zu.
Berufliche Qualifizierung statt Aushilfsjobs
Trotz der bleibenden Sanktionen soll sich der Umgang mit Leistungsempfangenden ändern. Der Druck bleibt, aber die Angebote zu Kooperation sollen gestärkt werden. Die Bezieher von Bürgergeld sollen zukünftig eher Bildungsabschlüsse nachholen, als in Aushilfsjobs vermittelt zu werden. Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen hätten keine abgeschlossene Berufsausbildung, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bei der Vorstellung des Entwurfes.
Weniger Schonvermögen
Auch beim vorgesehenen Schonvermögen gibt es deutliche Änderungen. Es wird beim eigentlichen Leistungsbeziehenden gegenüber den Ampel-Plänen von 60.000 Euro auf 40.000 Euro verringert. Für jedes weitere Haushaltsmitglied sind es demnach nun 15.000 Euro, geplant hatte Heil 30.000 Euro. Die sogenannte Karenzzeit beim Schonvermögen wie auch der Prüfung der Angemessenheit der Wohnung soll nun nur noch zwölf statt 24 Monate betragen.
Regelsätze werden wie geplant erhöht
Nicht umstritten war die zum 1. Januar geplante Erhöhung der Regelsätze. Sie sollten schon nach Heils Vorlage für alleinstehende Erwachsene um 53 Euro auf dann 502 Euro pro Monat steigen, unter Hartz IV gibt es aktuell 449 Euro. Auch die anderen Regelsätze sollen steigen. Nach Heils Entwurf soll es für volljährige Partner zukünftig einen Regelsatz von 451 Euro im Monat geben. Für Kinder im Alter von 14 bis 17 Jahren sind 420 Euro vorgesehen. Für 6- bis 13-Jährige sollen es 348 Euro, für bis zu 5-jährige 318 Euro sein.
Jobcenter sollen keine Kleinstbeträge mehr zurückfordern
Wenn Leistungsempfänger fälschlicherweise Geld bekommen haben, soll das auch künftig zurückgefordert werden. Allerdings erst ab einer Bagatellgrenze von 50 Euro.
Verbesserte Zuverdienst-Möglichkeiten
Wer zwischen 520 und 1.000 Euro verdient, soll künftig mehr von seinem Einkommen behalten können: Die Freibeträge in diesem Bereich werden von 20 Prozent auf 30 Prozent angehoben. Für Menschen unter 25 gilt zwischen Schulabschluss und Ausbildungsbeginn drei Monate lang jeweils ein Freibetrag von 520 Euro - ebenso wie beim Bundesfreiwilligendienst.
Kompromiss kommt der Union weit entgegen
Die Union hatte den Entwurf zum Bürgergeld sehr grundlegend kritisert. Arbeit würde sich damit nicht mehr ausreichend lohnen, Leistungsbezug werde zementiert. Am meisten störte man sich am Aussetzen von Sanktionsmöglichkeiten im ersten halben Jahr. Die Union pochte hier auf den Zweiklang aus Fördern und Fordern. Politiker der Grünen und der SPD wollten stattdessen mehr Vertrauen gegenüber den Leistungsempfängern in den Vordergrund rücken. In dieser entscheidenden Frage hat die Union die Ampelregierung zum Einlenken gebracht.
Der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat hat sich am 23.11.2022 auf das geplante Bürgergeld geeinigt. Dies meldeten mehrere Nachrichtenagenturen übereinstimmend. Damit kann die Nachfolgereform von Hartz IV noch diese Woche in Bundestag und Bundesrat beschlossen werden. Das Gesetz zum Bürgergeld kann dann noch wie geplant zum 1. Januar in Kraft treten.
Welche Änderungspläne konnte die Ampel nicht durchsetzen?
Ursprüngliche Idee des Bürgergeldes war es, Arbeitslose in die Lage zu versetzen, sich stärker auf Weiterbildung und Arbeitssuche konzentrieren zu können. Sie sollten dafür vom Jobcenter weniger unter Druck gesetzt werden. Die Regelsätze der Grundsicherung sollen steigen.
"Vertrauenszeit" statt Sanktionen
Der ursprüngliche Entwurf von Bundesarbeitsminister Heil sah vor, dass die Arbeitssuchenden mit den Jobcentern einen Kooperationsplan vereinbaren. Am Anfang sollte dann eine halbjährige "Vertrauenszeit" gelten, in der den Betroffenen nur eingeschränkt Leistungskürzungen drohen – etwa wenn sie mehrfach einen Termin beim Jobcenter verpassen. Für diesen Fall war eine zehnprozentige Leistungskürzung vorgesehen.
Erst nach den sechs Monaten hätten zusätzlich weitere Leistungskürzungen bei Pflichtverletzungen gedroht – etwa wenn der Betroffene eine zumutbare Stelle nicht antritt. Dies hätte beim ersten Mal eine Kürzung von 20 Prozent nach sich gezogen, beim zweiten Mal dann 30 Prozent. Nicht mehr zulässig sollten Abzüge bei den Kosten der Unterkunft sein.
Schonzeit für Wohnung und Vermögen
Nach den Plänen von Bundesarbeitsminister Heil sollten Leistungsberechtigte auch dann Bürgergeld beziehen können, wenn sie ein Vermögen von bis zu 60.000 Euro besitzen, unabhängig von ihrem Alter. Jedes weitere Mitglied in der Bedarfsgemeinschaft sollte 30.000 Euro besitzen dürfen. Bei einer vierköpfigen Familie wären dadurch 150.000 Euro Erspartes geschützt gewesen. Nach 24 Monaten sollte für den Leistungsbeziehenden weiter ein Schonvermögen von 15.000 Euro erlaubt sein. Aktuell gilt für Erwachsene eine Höchstgrenze von 9.750 bis 10.050 Euro, abhängig vom Alter.
In den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezugs sollten die Jobcenter zudem nicht überprüfen, ob eine Wohnung angemessen, das heißt klein und günstig genug, ist. Die Idee: Menschen, die arbeitslos sind und sich einen neuen Job suchen müssen, sollen sich nicht auch noch um ihre Wohnung sorgen müssen.
Welche Reaktionen gibt es auf den Kompromissentwurf?
Zu seiner Überraschung sei die Ampel-Koalition sehr weitgehend bereit gewesen, Kompromisse zu machen, sagte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz am 22.11.2022 in Berlin. "Damit ist das Gesetz, so wie es jetzt in dieser Form vorliegt, aus unserer Sicht zustimmungsfähig", so der Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion. Dies werde er, wenn der Vermittlungsausschuss dem Gesetz so zustimmen werde, auch der Unionsfraktion vorschlagen.
Der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt sagte: "Wir haben in den Verhandlungen schwere Systemfehler im Hartz-IV-Update, das ja missverständlich als Bürgergeld bezeichnet wird, also schwere Fehler im Hartz-IV-Update beseitigen können."
Britta Haßelmann, eine der beiden Fraktionsvorsitzenden der Grünen-Fraktion im Bundestag, bedauerte den Wegfall der Vertrauenszeit. Sie betonte, es sei weiterhin Kern der Reform, Menschen künftig nicht in "irgendeine Tätigkeit" zu vermitteln, sondern sie zu qualifizieren und dauerhaft in Arbeit zu bringen.
Vogel (FDP): Künftig bessere Zuverdienst-Möglichkeiten
Die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast, sagte, es gebe nun die Chance, dass Bundestag und Bundesrat „den großen Systemwechsel und den Kulturwandel beim Bürgergeld statt Hartz IV“ verabschieden könnten. FDP-Vizechef Johannes Vogel betonte, dass es künftig – wie ursprünglich vorgesehen – noch attraktivere Hinzuverdienstregeln für Leistungsempfänger geben werde. Darauf hatte seine Partei von Anfang an großen Wert gelegt. Laut bisherigem Entwurf kann künftig mehr von seinem Einkommen behalten, wer zwischen 520 und 1.000 Euro verdient. So solle es sich künftig für Betroffene stärker lohnen, sich "Schritt für Schritt aus der Hilfsbedürftigkeit herauszuarbeiten", sagte Vogel.
Kritik an dem Kompromissvorschlag kam von Verbänden. Der Sozialverband Deutschland (SoVD) erklärte, der Reform sei mit der Streichung der Vertrauenszeit "das Herzstück" genommen werden. Die SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung", es sei "traurig, dass ein neues, auf Vertrauen setzendes Klima keine Mehrheit gefunden hat". Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisierte das Ergebnis als "enttäuschend". Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider sagte, von einer Überwindung von Hartz IV hin zu einem Bürgergeld sei der Kompromiss denkbar weit entfernt. Solange in der Grundsicherung weiterhin sanktioniert werde, könne nicht ernsthaft von einer echten Reform, sondern bestenfalls von einer Novelle gesprochen werden.
Linkspartei und Sozialverbände fordern weitergehende Reform
Nicht weit genug, um vor Armut zu schützen, gehen die Bürgergeldpläne der Linkspartei, Gewerkschaften und einigen Sozialverbänden. Linken-Parteichefin Janine Wissler nannte bereits den Ampel-Entwurf völlig unzureichend, von den großen Ankündigungen der SPD sei „wenig übriggeblieben“. Den vom Vermittlungsausschuss gebilligte Kompromiss zum Bürgergeld nannte sie im Dlf eine "drastische" Verschlechterung gegenüber dem Entwurf der Regierungskoalition: Die Sanktionen blieben bestehen, ebenso die niedrigen Regelsätze und die „Zwangsumzüge“, sagte Wissler am 24. November 2022 im Dlf-Interview und forderte eine sofortige Abschaffung der Sanktionen und eine deutliche Anhebung der Regelsätze sowie perspektivisch einen Umbau des kompletten Hartz-IV-Systems.
Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte eine weitgehende „Totalreform zur Überwindung von Hartz IV“, komplett ohne Sanktionen, mit deutlich höheren Regelsätzen und veränderten Berechnungsmethoden. "Ob Hartz IV oder Bürgergeld, die Leistungen bleiben trickreich kleingerechnet, reichen vorne und hinten nicht und gehen an der Lebensrealität der Menschen vorbei”, sagte Schneider in einer Presseaussendung.
Andere Sozialverbände äußerten Zustimmung
Caritas und Arbeiterwohlfahrt lobten dagegen den Entwurf der Ampel-Koalition, insbesondere die vorgesehene sechsmonatige Vertrauenszeit mit Sanktionen nur in Ausnahmefällen und die zweijährige Schonzeit bis zur Überprüfung der Wohnungsgröße. Der Entwurf weise in die richtige Richtung, sagte der Präsident der Arbeiterwohlfahrt Michael Groß. Die Vorschläge "atmen einen neuen Geist, geprägt von mehr Respekt gegenüber Menschen in einer Lebenskrise", sagte Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa.
Was sagten Wirtschaftswissenschaftler zu den Bürgergeld-Plänen?
Dass die sogenannte Vertrauenszeit weggefallen ist, begrüßt Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Man wisse aus der Arbeitsmarktforschung, dass in den ersten Monaten des Leistungsbezuges die besten Chancen bestünden, Menschen wieder in das Arbeitsmarktsystem zu integrieren. Diesen Zeitraum müsse man also nutzen.
Der Wirtschaftsweise Achim Truger begrüßte die Pläne für eine deutliche Erhöhung der Regelsätze. „Die Erhöhung der Regelsätze und die zukünftig schnellere Anpassung an Preisänderungen sind sinnvoll“, sagte Truger den Zeitungen der Funke Mediengruppe . Dadurch würde „ein längst überfälliger grundsätzlicher Schritt zur Armutsbekämpfung geleistet“.
Ökonom: Kritik an pauschaler Anhebung der Regelsätze
Grundsätzlich sei eine Anhebung der Regelsätze angesichts der Inflation zwar richtig, sagte auch der Arbeitsmarktökonom Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Allerdings dürfe die pauschale Anhebung der Regelsätze nicht dazu führen, dass der Abstand zwischen den Transferleistungen und dem in Aussicht stehenden Arbeitslohn für den Empfänger zu gering wird, um in einen Job zu wechseln. Sonst könne sich Arbeitslosigkeit verhärten. Auch die ursprünglich geplante Aussetzung der Sanktionen in den ersten sechs Monaten des Hilfsbezugs sah der Arbeitsmarktökonom kritisch. Mit dieser Regelung sende die Bundesregierung „das falsche Signal“.
Ähnliches gelte für die Pläne zur Anhebung des Schonvermögens, da dieses auch für Hartz-IV-Bezieher derzeit nicht zu gering sei, sagte Schäfer. In dieser Sache fehle ihm „eine Begründung dafür, warum die Schonvermögen, so wie sie sind, jetzt wirklich zu niedrig sein sollen“, erklärte der IW-Experte.
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, vertrat zu Sanktionen hingegen eine andere Meinung. Sanktionen für Langzeitarbeitslose seien „kontraproduktiv und demotivierend“. Es sei daher dringend nötig, sie abzubauen oder gar „komplett zu entfernen“. Das forderte Fratzscher bei der Vorstellung einer Studie des INES zur Wirksamkeit von Sanktionen im Hartz-IV-System am 12. September 2022.
Quellen: Magdalena Neubig, Wulf Wilde, Fabian May, Martin Teigeler, dpa, pto, dpa, KNA, Reuters, AFP, epd