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Kohlendioxid-Emissionen
Tricksereien beim Klimaschutz mit Zertifikaten

Bis zum Jahr 2030 will die EU ihren Treibhausgas-Ausstoß um 55 Prozent senken. Und zwar mit Hilfe des Emissionshandels. Eine britisch-kanadische Studie hat nun aber enthüllt: Viele große Unternehmen statten sich zwar mit Zertifikaten aus, aber dahinter steht tatsächlich keine Reduktion der Treibhausgase.

Von Volker Mrasek |
Schornsteine mit Qualm an der Shell-Rheinland-Raffinerie in Köln-Godorf
Der Emissionshandel führt nicht zwangsläufig zu einer realen Verringerung der Kohlendioxid-Emissionen (Geisler-Fotopress)
Es mögen inzwischen um die tausend Unternehmen weltweit sein: Sie alle haben sich zu den Pariser Klimaschutzzielen bekannt und erklärt, ihre Treibhausgas-Emissionen stark vermindern zu wollen - so, wie es nach wissenschaftlichen Erkenntnissen auch nötig ist. Doch viele der Industriebetriebe tricksen offenbar und werden nur auf dem Papier grüner. Das lässt die neue Studie im Fachmagazin Nature Climate Change vermuten.
Einer ihrer Autoren ist Matthew Brander von der Universität Edinburgh in Schottland, ein Spezialist für die Bilanzierung von Treibhausgasen: “Wir haben herausgefunden: In rund zwei Dritteln aller Fälle, in denen Unternehmen Emissionsminderungen bei der Stromnutzung meldeten, gab es überhaupt keine realen Reduktionen.“                                   

Zertifikate verfehlen ihre beabsichtigte Wirkung

Wie kann das sein? Die Firmen wechseln nicht etwa zu Ökostrom-Anbietern. Stattdessen kaufen sie bloß Erneuerbare-Energien-Zertifikate auf dem Markt: Die werden vor allem in Nordamerika und Europa gehandelt. Hier heißen sie „Herkunftsnachweise“, da sie zugleich zeigen, aus welchen Solar- oder Windparks der Strom stammt.
Matthew Brander: “Diese Zertifikate gehen an die Produzenten erneuerbarer Energie. Sie dürfen sie an Firmen oder Endverbraucher verkaufen, die dann sagen können, ihr Strom stamme aus regenerativen Quellen. Millionen dieser Zertifikate werden jedes Jahr ausgegeben. Eigentlich sollten sie zu einer Steigerung der erneuerbaren Energieproduktion führen. Aber aus Studien ist inzwischen belegt, das sie das nicht tun!“ 
Obwohl das ganze System also anscheinend nicht funktioniert, werden die Zertifikate weiter gehandelt und selbst von Konzernen erworben, die demonstrativ erklärt haben, ihre Richtschnur seien die Pariser Klimaschutzziele. 115 von ihnen haben Matthew Brander und seine Kollegen unter die Lupe genommen. Ihre Meldungen aus den Jahren 2015 bis 2019 deuten auf eine 30-prozentige CO2-Reduktion. Tatsächlich, so Brander, waren es nur um die zehn Prozent.

Betrug oder Trickserei?

Muss man also von weit verbreitetem Betrug mit faulen Zertifikaten sprechen? Matthew Bander: “Betrug ist ein hartes Wort! Ich denke, viele der Firmen machen sich nicht klar, dass die Zertifikate letztlich keine wirklichen Emissionsminderungen in der Stromerzeugung bringen. Wahrscheinlich gibt es aber auch Unternehmen, die das wissen, und zynischerweise kaufen sie die Zertifikate trotzdem. Das ist dann wirklich Betrug!“
Welche Firmen sind es, die nur so tun, als betrieben sie ernsthaften Klimaschutz? Und sind auch deutsche darunter? Der schottische Forscher antwortet darauf ausweichend: “In unserer Studie nennen wir die Unternehmen nicht ausdrücklich. Aber die meisten - oder sehr, sehr viele - Konzerne kaufen diese Zertifikate! Unilever oder AstraZeneca zum Beispiel. Es sind Energie-, Software- oder Pharmafirmen. Auch Autohersteller!“
Aus Sicht der Forscher kann es nur eine Lösung für das Problem geben: den Handel mit den Zertifikaten nicht mehr zu erlauben. Und die internationalen Regeln für die Anrechnung von Treibhausgasminderungen entsprechend zu ändern. Es gebe längst Unternehmen, die etwas wirklich Sinnvolles machten, nämlich: langfristige Verträge für einen gestuften Ausstieg aus der Nutzung klimaschädlicher fossiler Energieträger.

Wie wird der Autoverkehr klimaneutral?

In den Verkehrssektor kommt derweil Bewegung. Das EU-Parlament hat das Aus für den Verbrennungsmotor beschlossen, und zwar für 2035. Aus der Wissenschaft kommt Zustimmung. Thomas Grube, Leiter der Arbeitsgruppe für Zukünftige Mobilität im Forschungszentrum Jülich: „Die Wissenschaft spricht eindeutig dafür. Was einfach damit zu tun hat, dass wir ja einen Wechsel wollen hin zu emissionsfreien Antrieben. Im Grundsatz ist das der Weg, der beschritten werden muss.“ 
Die Autoindustrie sieht das anders. Man könne Verbrenner ja künftig mit synthetisch hergestellten Kraftstoffen fahren, die CO2-frei seien. Thomas Grube dagegen sagt, solche Kraftstoffe seien ineffizient. Man müsse zuerst Wasserstoff erzeugen, dann ein sogenanntes Synthesegas und daraus schließlich den Sprit:
„In der Konsequenz steht aus unserer Sicht ein Faktor 7, das heißt wir brauchen einen Faktor 7 mehr erneuerbare Energie, um dann einen Kilometer mit einem mit synthetischem Kraftstoff betriebenen Fahrzeug zu fahren, als mit einem Batteriefahrzeug. Und das spricht schon eine sehr deutliche Sprache.“  
Dem Energieingenieur geht es sogar zu langsam. Will die EU ihre Klimaschutzziele bis 2030 erreichen, müsste dem Verbrenner nach Modellrechnungen in Jülich die Stunde eigentlich noch früher schlagen.