Russische Truppenbewegungen nahe der ukrainischen Grenze, rhetorisches Säbelrasseln aus dem Kreml – die Ukraine und NATO-Mitgliedsstaaten fürchten einen Angriff Russlands auf das Nachbarland Ukraine. Russlands Präsident Wladimir Putin und US-Präsident Joe Biden sind am 7. Dezember 2021 zu einer Videoschalte über diesen Konflikt verabredet.
Ukraine-Konflikt: Biden und Putin beraten sich - Was Russland erwartet
Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Universität Halle-Wittenberg meint, dies sei keine Zeit für einen Kollisionskurs, sondern für „Win-win-Situationen“ mit Russland. „Wir müssen Russland einen Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur einräumen“, sagte er im Dlf.
Er warb dafür, die russische Perspektive zu berücksichtigen: Der Zug der Ukraine Richtung NATO-Mitgliedschaft habe "etwas an Fahrt aufgenommen", Russland fürchte dadurch eine „massive Beeinträchtigung seiner Sicherheitsinteressen“ und wolle „jetzt ein Stoppzeichen setzen“. Putin gehe es um eine Zusicherung, dass es für die Ukraine keinen NATO-Beitritt, keine Waffenlieferungen und dort auch keine dauerhafte US-Truppenstationierung geben werde.
Die Idee einer NATO-Mitgliedschaft einzufrieren, wäre eine gute Idee, meint Varwick. Die Alternative wäre eine Eskalationsspirale, "aus der wir nicht wieder sauber herauskommen". In einer idealen Welt solle zwar jedes Land selbst über einen NATO-Beitritt entscheiden können, so der Politologe. Jetzt gehe es allerdings darum, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. Da sei ihm lieber, "dass wir die hehren, die idealistischen Ziele etwas hinten anstellen und das machen, was Diplomatie machen muss: schmutzige Kompromisse, Interessensausgleich, und versuchen, das Schlimmste zu verhindern."
Das Interview im Wortlaut:
Jasper Barenberg: Ist das für Putin schon Erfolg, dass es dieses direkte Gespräch mit US-Präsident Joe Biden heute geben wird?
Varwick: Nein, das glaube ich nicht. Das Ziel von Putin, glaube ich, das liegt relativ klar auf dem Tisch, nämlich erstens tatsächlich,
wie Herr Kellermann das gesagt
hat, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auszuschließen. Und das zweite ist, Waffenlieferungen an die Ukraine und auch vor allen Dingen dauerhafte Stationierungen amerikanischer Truppen in der Ukraine auszuschließen. Wir müssen sehen, dass in den vergangenen Monaten gewissermaßen der Zug der Ukraine Richtung NATO-Mitgliedschaft etwas an Fahrt aufgenommen hat.
Wir hatten Anfang September ein neues amerikanisch-ukrainisches Sicherheitsabkommen. Wir haben vor einigen Monaten das Ziel der NATO-Mitgliedschaft in der ukrainischen Verfassung verankert – sicherlich nicht ohne amerikanische Unterstützung. Das heißt, Russland will jetzt ein Stoppzeichen setzen, und wir müssen einfach lernen, die russische Perzeption zu verstehen und in unser Handeln einzupreisen. Wir können das nicht ignorieren, weil sonst rasen zwei Züge aufeinander.
Barenberg: Das heißt mit anderen Worten, die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine (bisher hat sie eher auf Eis gelegen, war für einen ferneren Zeitpunkt in Aussicht gestellt), das sollten die Verbündeten jetzt wieder konkret vorantreiben?
Varwick: Der Zug geht jedenfalls in diese Richtung, und das kann Putin nicht gefallen, und wir müssen jetzt aus dieser Blockade rauskommen. Wir müssen sogenannte Win-Win-Situationen schaffen und nicht die Züge aufeinander rasen lassen. Es ist die diplomatische Pflicht, jetzt solche Situationen zu schaffen, wo beide Seiten was von haben, und das ist das schwierige Geschäft der Diplomatie.
Das heißt nicht, dass man jetzt auf russische Interessen über Gebühr eingeht oder gar Appeasement macht, wie das von vielen dann immer gesagt wird, sondern es geht jetzt darum, wirklich einen Krieg zu verhindern, und ich blicke wirklich mit allergrößter Sorge auf diese sich verstärkende Eskalation im Verhältnis zu Russland und ich möchte nicht in eine Lage kommen, wo dann eines Tages ein Krieg tatsächlich im Bereich des Möglichen ist.
"NATO ist näher an russisches Territorium herangerückt"
Barenberg: Wenn es darum geht, einen Krieg zu verhindern, wie Sie sagen, gehört dann dazu auch anzuerkennen, dass es Punkte der Kritik von Moskau gibt, die durchaus berechtigt sind?
Varwick: Ja, das ist eine schwierige Diskussion, und natürlich darf diese Diskussion nicht über die Köpfe der Ukrainer geführt werden. Das ist völlig klar. Aber wir müssen uns auch in russische Perspektiven hineinversetzen. Sonst finden wir keine Lösung in der Außenpolitik. Dazu gehört, dass seit 1990 die NATO sich um 14 Staaten erweitert hat, dass die NATO gewissermaßen näher an russisches Territorium herangerückt ist, dass die Handlungsfähigkeit der NATO-Staaten im militärischen Bereich ungleich höher als die russische ist. Wir sagen immer, wir bedrohen doch niemand; das stimmt auch.
Aber wenn man mal die Perspektive umdreht, die russische Brille sich aufsetzt, dann kann es nicht im russischen Interesse liegen, dass jetzt auch die Ukraine NATO-Mitglied wird. Wenn das so ist, dann würde Russland davon wirklich massive Beeinträchtigungen seiner Sicherheitsinteressen haben, und im Übrigen völlig unabhängig von der derzeitigen russischen Regierung. Das wird sich nicht ändern, wenn Putin eines Tages Geschichte ist.
Natürlich gibt es in Russland eine sehr, sehr bedenkliche innenpolitische Entwicklung mit Abbau von Rechtsstaatlichkeit, mit zunehmender Radikalisierung. Das ist alles richtig. Aber wir müssen Russland einen Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur einräumen, und dazu gehört, dass man jetzt mit den Russen redet und einfach die Interessen miteinander abgleicht. Dazu wäre etwa ein freeze, ein Einfrieren dieser NATO-Mitgliedschaft eine gute Idee und auch eine hochrangige Konferenz, in der man etwa im OSZE-Rahmen über diese Fragen wieder neu verhandelt.
"Schmutzige Kompromisse, Interessensausgleich, das Schlimmste verhindern"
Barenberg: Aber wenn diese Seite, der Westen, die westliche Allianz, die NATO diesen Schritt geht und sagt, wir sind bereit, eine Mitgliedschaft der Ukraine vorerst auf Eis zu legen, verletzt die NATO damit nicht eines ihrer wesentlichen Prinzipien, das lautet, dass souveräne Staaten, Beispiel Ukraine, selbst darüber entscheiden und nicht Herrscher in Moskau, im Kreml?
Varwick: Ja, in einer idealen Welt würde ich Ihnen vollständig zustimmen. Aber wenn die Alternative eine Eskalationsspirale ist, aus der wir nicht wieder sauber herauskommen, dann ist mir lieber, dass wir die hehren, die idealistischen Ziele etwas hinten anstellen und das machen, was Diplomatie machen muss: schmutzige Kompromisse, Interessensausgleich und versuchen, das Schlimmste zu verhindern.
Barenberg: Aber eine Interessenssphäre Russlands anzuerkennen in Europa, ist ein großer Schritt, oder nicht?
Varwick: Richtig! Aber wenn es der Stabilisierung der Lage dient, dann ist das ein Schritt, den wir gehen sollten. Und noch mal: Das heißt nicht, dass wir die Ukraine hängen lassen, sondern es heißt, dass wir mit der Ukraine und mit Russland und auch den Amerikanern und den europäischen Staaten darüber reden, welchen Platz die Ukraine und Russland vor allen Dingen in der europäischen Sicherheitslandschaft haben können, und da liegen ja Ideen auf dem Tisch, etwa eine Finnlandisierung der Ukraine, gewissermaßen die Ukraine als neutralen Staat, der sicherlich Sicherheitsgarantien haben muss, auch vom Westen, aber das wäre eine Denkrichtung, die gewissermaßen jetzt aus dieser Eskalationsspirale rausgeht.
Weil noch mal: Ist die Alternative, am Ende einen Krieg um diese Fragen zu haben, die bessere? – Ich würde sagen, nein. Wir müssen jetzt Realpolitik machen und jenseits von gutgläubig-naivem Russland-Verstehertum, das will ich auch nicht, aber jenseits von dessen eine interessensgeleitete und nüchterne Politik mit Blick auf diese Fragen machen, und daran mangelt es in der aktuellen Debatte.
"Niemand will für die Ukraine in den Krieg ziehen, schon gar nicht die Amerikaner"
Barenberg: Was sich bei Joe Biden, was sich auch in der Allianz abzeichnet, ist ein etwas anderer Weg. Der Weg lautet, wir zeichnen heute eine rote Linie, und für den Fall, dass Moskau bei seinen Drohgebärden bleibt, zumal für den Fall, dass es militärische Aktionen gibt, dann haben wir eine ganze Reihe von Instrumenten, unter anderem Russland vom Zahlungsverkehr abzuschneiden. Es geht um weitere Militärunterstützung sicherlich in dem Zusammenhang. Was würde es bedeuten, wenn dieser Weg beschritten wird?
Varwick: Ich glaube, Russland wäre davon nicht zu beeindrucken, weil Russland das als seine vitalen Interessen definiert, und wir haben ja gesehen in den vergangenen Jahren, dass etwa Sanktionen nicht gewirkt haben. Jetzt mögen manche sagen, das hat in dem Sinne gewirkt, dass die Lage nicht noch weiter eskaliert ist. Das mag auch sein. Aber ich rechne nicht damit, dass bei dieser für Russland vitalen Frage Sanktionen auf das russische Risiko-Kalkül gewissermaßen Einfluss nehmen. Und wir müssen ja auch deutlich sagen: Niemand will für die Ukraine in den Krieg ziehen, auch der Westen nicht, schon gar nicht die Amerikaner.
Das heißt, da werden auch Erwartungen geweckt, die überhaupt nicht zu erfüllen sind. Und die ökonomische Sanktionsdrehung – da kann man sicherlich noch eskalieren und etwa die angedachte Ausgrenzung aus dem SWIFT-System, dem Abgrenzen des internationalen Zahlungssystems. Das würde Russland hart treffen, aber das würde nur zu einer weiteren Radikalisierung führen.
Ich würde den Blick mal umdrehen. Lassen Sie uns doch über ökonomische Anreize nachdenken. Russland ist schwach, es wird auch noch schwächer, und darüber müssen wir reden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.