Freitag, 19. April 2024

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Politisch motivierte Kriminalität
Politologe Funke: Dynamik des Rechtsextremismus ist die größte Gefahr

Die Fallzahlen bei politisch motivierter Kriminalität sind laut BKA um 23 Prozent gestiegen. Über 20.000 Straftaten entstammen dem Feld der Corona-Maßnahmen-Proteste und der Querdenken-Bewegung. Dort spiele "der Rechtsextremismus durchaus sehr stark herein", sagte der Extremismusforscher Hajo Funke im Dlf.

Hajo Funke im Gespräch mit Philipp May | 10.05.2022
Hajo Funke, Rechtsextremismusforscher am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
Hajo Funke, Rechtsextremismusforscher am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin (picture alliance / photothek / Janine Schmitz)
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will sich besonders dem Kampf gegen den Rechtsextremismus widmen. Am Dienstag (10.05.2022) hat sie gemeinsam mit dem Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch, Zahlen zu politisch motivierter Kriminalität in Deutschland vorgelegt. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2021 und haben mit 55.048 Fällen einen Höchststand erreicht. Gegenüber 2020 registrierte das BKA einen Anstieg der Fallzahlen um 23 Prozent.
Deutlich angestiegen sind die Fälle, die politisch nicht eindeutig zuzuordnen sind. Sie werden in der Statistik mit rund 21.300 angegeben, was einen Anstieg um 147 Prozent bedeutet. Ursache sind laut Innenministerium die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und die sogenannte Querdenker-Bewegung, die als heterogene „Mischszene“ betrachtet wird.
Der emeritierte Extremismusforscher Hajo Funke von der Freien Universität Berlin sagte bezogen auf diese Szene im Deutschlandfunk: "Der Rechtsextremismus funkt da durchaus sehr stark herein". In den Leugnungsdemonstrationen seien immer wieder "die ganz Radikalen der AfD" und Neonazis in den Organisationen Freies Sachsen und Freies Thüringen zu sehen gewesen.

Ein Kulturbruch im Vergleich zu Seehofer

Bei Pro-Russland-Aktivisten sieht Funke eine weniger große Schnittmenge mit Rechtsextremisten: "Der Kern des Rechtsextremismus ist ein urdeutsches Phänomen", so Funke. Der Rechtsextremismus habe sich in neonazistischen gewalttätigen Netzwerken etabliert, zum Teil in den Sicherheitsbehörden sowie im radikalen Teil der AfD.
Als Grund dafür, dass es gerade im vergangenen Jahr eine starke Zunahme der politisch motivierter Kriminalität von Rechts gegeben habe, nannte Funke die Spaltung der Gesellschaft. Diese bestehe in einem "diffusen, fast depressiven apathischen Reagieren-müssen auf die Einschränkungen durch die Bekämpfung der Pandemie. Auch in Desorientierung unter Jugendlichen, die nicht wissen, ob sie einen sicheren Job bekommen".
Dass Bundesinnenministerin Faeser den Kampf gegen den Rechtsextremismus nun vorrangig angehen will, nannte Funke einen "ungeheuren Kulturbruch gegenüber Herrn Seehofer (...) im Sinne einer guten Verteidigung der Demokratie".

Das Interview im Wortlaut:
Philipp May: Ein deutlicher Anstieg politisch motivierter Straftaten 2021 – ist das das eigentliche Long Covid?
Hajo Funke: Ja und nein. Wenn die Covid-Debatten zu Ende gehen – und das ist zu hoffen -, jedenfalls in zwei-Jahres-Frist, dann sinkt auch dieser Tatbestand. Insofern kein Long Covid. Long Covid gibt es ja auch nur für einen glücklicherweise geringen Teil der Erkrankten.
May: Es fällt ja auf, wie Sie sagen, dass viele der politisch motivierten Taten keiner speziellen Ideologie zugeordnet werden könnten. Wir können davon ausgehen, dass wir zumindest jetzt auf einem Peak sind und dass es mittelfristig, wenn sich auch die ganze Gemengelage mit Corona erledigt hat, wenn die Pandemie wirklich mal beendet ist, dass das dann auch wirklich wieder runtergeht?
Funke: Das ist die Hoffnung. Sie haben mich ja gefragt nach Long Covid und da muss ich diese Antwort geben. Etwas anderes ist es, wenn ich mir die Dynamik des Rechtsextremismus anschaue, so wie Frau Faeser es auch formuliert hat. Das ist die größte Gefahr. Und in diesen ganzen Corona-Leugnungsdemonstrationen haben wir immer wieder die ganz Radikalen der AfD zu sehen gehabt und im Freien Sachsen und im Freien Thüringen, diesen Organisationen der Corona-Leugner und Corona-Kritiker, eben Neonazis, die an der Spitze dieser Bewegungen, wenn man so will, agieren. Der Rechtsextremismus funkt da durchaus sehr stark herein.

"Durchlaufende Kernstruktur von Kadern im Westen wie im Osten"

May: Jetzt sehen wir auch, dass die Überschneidungen groß sind zwischen Corona-Leugnern und, wie Sie es gerade gesagt haben, Rechtsextremen. Kann man jetzt auch sagen, das geht jetzt weiter mit Pro-Russland-Aktivisten beispielsweise?
Funke: Ja, es geht weiter. Aber man muss auch da sagen, dass nicht alle Rechtsextremen Putinisten sind. Ein geringerer Teil ist auch extrem radikal für die Verteidigung der Ukraine. Auch das ist nicht der Kern. Der Kern des Rechtsextremismus ist ein urdeutsches Phänomen, wenn ich das so sagen darf, der sich etabliert hat in Netzwerken, neonazistischen gewalttätigen Netzwerken, auch zum Teil in den Sicherheitsbehörden, und organisiert lange Zeit und nun erneut, trotz der Schwächen der AfD in dem radikalen Teil der AfD.
May: Woran liegt das denn, dass wir gerade jetzt wieder dieses Aufflammen, dieses verstärkte Aufflammen sehen, nachdem man ja jahre-, jahrzehntelang gedacht hat, das ist eher ein Phänomen, das auf dem absteigenden Ast ist?
Funke: Das würde ich auch nicht so sagen, denn wir haben ja unterschiedliche Wellen gehabt. Wir haben die Welle Anfang der 90er-Jahre gehabt, eine extreme Gewaltszene insbesondere im Osten, aber nicht nur. Das hat sich dann etabliert. Die NPD wurde noch radikaler, neonazistisch in den späten 90er-Jahren und am Beginn des neuen Jahrhunderts, und so haben wir eine durchlaufende Kernstruktur von Kadern im Westen wie im Osten, die auf die Zerstörung unserer Republik gerichtet sind und sich vor allem wehren gegen die angemessene Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus.

"Spaltung der Gesellschaft"

May: Warum kommt das jetzt so stark an die Oberfläche?
Funke: Das wiederum ist Long Covid, wenn ich Ihr Bild aufgreifen darf. Das ist die Spaltung der Gesellschaft, dieses diffuse, fast depressive apathische reagieren müssen auf die Einschränkungen durch die Bekämpfung der Pandemie, auch Desorientierung unter Jugendlichen, die nicht wissen, ob sie einen sicheren Job bekommen. Dann gibt es Kerne vor allem im Osten, in Thüringen und Sachsen, wie sich auch in Wahlen zeigt, aber nicht nur; da ist der Anteil der Gewalttaten besonders hoch. Da, wo Sie solche Fokusse haben, solche Kerne, wie in vielen Städten und auch Landgemeinden etwa in Teilen Ostdeutschlands, da bildet sich das je neu heraus und man braucht dann einfach Anlässe, die man nutzt und das sich ausweiten lässt. Das ist Freies Sachsen, das ist Freies Thüringen mit Hunderten von Demonstrationen und noch einmal: ausgerichtet von Neonazis.
May: Jetzt hat Nancy Faeser, die Bundesinnenministerin schon bei Amtsantritt versprochen, der Kampf gegen rechts, das ist ihr Hauptanliegen. Darauf will sie das Hauptaugenmerk legen. Wo sollte sie denn genau das Problem bei der Wurzel packen?
Funke: Das ist ein ungeheurer Kulturbruch gegenüber Herrn Seehofer, ihrem Vorgänger. Sie hat ein Zehn-Punkte-Programm jüngst erstellt, das den Kern erreicht. Das geht von der Zerschlagung der rechtsextremen Netzwerke – ganz wichtig – auch in den Sicherheitsbehörden aus, der Entwaffnung der Rechtsextremen, das passiert ja häufig nicht. Gerade in dem Land, aus dem sie kommt, in Hessen, hatte sie das so oft gegenüber dem dortigen Innenminister und dem dortigen Ministerpräsidenten zu kritisieren. Da sind Rechtsextreme nicht entwaffnet worden, eine sehr konsequente Formulierung für das Aktionsprogramm. Ins Internet zu gehen, Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen und dazu auch Gesetze zu ändern, ein ungeheurer Fortschritt. Verschwörungsideologien entkräften und damit Radikalisierung vorbeugen. Da sehen Sie wieder: Man kann es zwar nicht zuordnen, woher diese Verschwörungsformulierungen kommen, gerade im Covid-Bereich, aber es ist doch latent eher rechts, eher antisemitisch ausgerichtet. Prävention als weiteren Punkt und schließlich auch Schutz der Opfer.
Sie haben das gesamte Programm dessen, was man eigentlich bräuchte und nie vom Bundesinnenministerium bekommen hat, nun doch sehr entschieden formuliert. Das ist ein Kulturbruch im Sinne einer guten Verteidigung der Demokratie.

Funke: NSU wegen Fokus auf islamistischen Terror übersehen

May: War man zu lange abgelenkt mit dem Kampf gegen den Islamismus?
Funke: Ja, definitiv. Das war ja einer der Kernpunkte von Hans-Georg Maaßen und er ist gewissermaßen darin mit dem Breitscheid-Attentat gescheitert, denn er hat davon gewusst, dass das kommen kann, und nicht reagiert.
May: Der ehemalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen.
Funke: Im Grunde geht es zurück auf 9/11. Man muss jetzt den islamistischen Terror bekämpfen und hat parallel den NSU praktisch übersehen über zehn, 15 Jahre, den Nationalsozialistischen Untergrund und die Gewalttaten dieser Gruppe, und das ändert sich jetzt und das symbolische Zeichen dafür ist das Aktionsprogramm von Frau Faeser.

"Gute Politik von Herrn Günther und Frau Rehlinger"

May: Herr Funke, wir haben jetzt viel über die Radikalisierung und die Spaltung der Gesellschaft gesprochen. Es gibt aber auch durchweg gegenläufige Trends, wenn wir auf die letzten beiden Landtagswahlen schauen beispielsweise, im Saarland und in Schleswig-Holstein, kleine Bundesländer zwar, aber immerhin. Dort wurden die Parteien der Mitte massiv gestärkt: SPD absolute Mehrheit im Saarland. Man hat gedacht, es gibt eigentlich in Zukunft nur noch Drei-Parteien-Koalitionen. Und jetzt auch Schleswig-Holstein, wo die CDU beinahe die absolute Mehrheit erreicht hat, und die AfD fliegt aus dem Landtag. Klammer auf: Die Linke bei knapp über ein Prozent. Welchen Erklärungsansatz kann man dafür finden?
Funke: Zunächst einmal gute Politik, gute Politik der Repräsentanten, also von Herrn Günther und das Angebot von Frau Rehlinger im Saarland. Das ist überzeugend gewesen für die Wählerinnen und Wähler und deswegen haben selbst AfD-Wähler im Falle Schleswig-Holsteins die CDU gewählt. Da haben Sie eine Attraktion der Demokratie, weil sie funktioniert, weil sie kommuniziert, weil sie sozial sensibel ist, und das ist die Perspektive. Die Studien zeigen ja auch, die Mitte-Studien von Herrn Zick und anderen zeigen ja auch, dass 80 Prozent und mehr davon überzeugt sind, dass sie das Grundrecht der Menschenwürde achten und verteidigt sehen wollen. Dieser demokratische Kern von bis zu 80 Prozent, der dominiert nach wie vor die Bundesrepublik, und zwar mehr als in anderen Ländern, auch vergleichbaren Ländern, etwa Frankreich, und das zeigt die Stabilität. Das was heute besprochen worden ist, ist ein erweiterter rechter Kern, ein rechter Rand, aber eben nicht die Mitte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.