Samstag, 20. April 2024

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Ukraine-Russland
Polenz: "Putin spielt ein bisschen mit dem Feuer"

Die Mobilisierung von mehr als 100.000 russischen Soldaten an der Grenze zur Ukraine sei vor allem ein Taktieren und Kalkulieren, sagte Osteuropa-Experte Ruprecht Polenz (CDU) im Dlf. Russlands Präsident Wladimir Putin wolle ausloten, wieviel Unterstützung die Ukraine von der NATO bekomme.

Ruprecht Polenz im Gespräch mit Jaspar Barenberg | 02.12.2021
115.000 Soldaten in 100 Bataillonen sowie schweres Gerät hat Russland an der Grenze zur Ukraine nach Angaben der ukrainischen Regierung aufgefahren. Der Westen zeigt sich alarmiert. Seit Wochen gibt es Befürchtungen, Russland könne möglicherweise die Ukraine angreifen und die Situation von 2014 wiederholen, als Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektierte.
Aktuell sagte US-Außenminister Antony Blinken beim Treffen seiner NATO-Amtskollegen in Riga, es gebe Beweise dafür, dass Russland erhebliche aggressive Schritte gegen die Ukraine plane. Moskau wies dies zurück.
Ruprecht Polenz von der Deutsche Gesellschaft für Osteuropastudien glaubt indes nicht, dass Russlands Präsident Wladimir Putin für einen großflächigen, militärischen Angriff auf die Ukraine rüste. Die Art der Kriegsführung Russlands sei in der jüngeren Vergangenheit stets eine andere gewesen, so Polenz. Es seien eher hybride Kriege gewesen wie in Georgien oder eben auf der Krim anstatt zwischenstaatliche Auseinandersetzungen.
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Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba rief die Verbündeten in Riga dazu auf, gemeinsam ein neues Abschreckungskonzept zu erarbeiten. Damit solle Putin von einer militärischen Operation abgehalten werden. Osteuropa-Kenner Polenz meinte, aus Sicht der NATO müsse man Russland deutlich machen, dass die Nachteile eines Angriffs auf die Ukraine die Vorteile bei weitem überwiegen würden. Es müsse "politisch, wirtschaftlich, auch militärisch ein Verlustgeschäft für Putin sein", dann werde Putin die Finger von einem Angriff lassen, sagte Ruprecht Polenz.
Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz
Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz war viele Jahre Vorsitzender im Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag (picture-alliance/Tagesspiegel/Kai-Uwe Heinrich)
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Jasper Barenberg: Herr Polenz, wie sehen Sie es? Bereitet Putin einen militärischen Angriff auf die Ukraine vor?
Ruprecht Polenz: Er spielt zumindest ein bisschen mit dem Feuer und erweckt den Eindruck, als wäre es so. Ich selber glaube eigentlich nicht, dass er zu einem tatsächlich großflächigen militärischen Angriff auf die Ukraine rüstet, einfach weil die Art, wie er und Russland bisher Kriege geführt haben, eine ganz andere war. Da war es immer so, dass man abstreiten konnte, überhaupt entweder beteiligt zu sein oder einen Krieg zu führen, wenn Sie an die Krim-Annexion denken oder auch an den Krieg gegen Georgien. Das waren immer eher auch hybride Kriege, die Russland geführt hat. Hier wäre es ein großflächiger militärischer zwischenstaatlicher Krieg. Ich glaube nicht, dass Putin das vorhat.
Barenberg: Was Putin will, das ist das große Rätsel einmal mehr in diesen Tagen. Russland selber, auch Putin gibt an, dass sich Russland selber bedroht fühlt und nun Druck auf Kiew und die Allianz ausüben will – etwa weil die Ukraine selbst 120.000 Soldaten im Donbass gerade zusammengezogen hat. Welche Kalkulation stellt Putin an?
Polenz: Ich glaube, er testet, inwieweit die Ukraine Unterstützung findet im westlichen Ausland, und da war der NATO-Gipfel ein wichtiges Signal. Und er kalkuliert natürlich. Aber gerade dass er kalkuliert, ist, glaube ich, auch die Chance, einen großen Konflikt wirklich zu vermeiden, denn in dem Moment, wo richtig deutlich wird, dass die Nachteile eines Angriffs auf die Ukraine die Vorteile bei weitem überwiegen, wird er es lassen. Von daher ist das, was wir gerade aus dem Bericht gehört haben, genau die richtige Überlegung. Es muss politisch, wirtschaftlich, auch militärisch ein Verlustgeschäft für Putin sein; dann wird er die Finger davon lassen.

Polenz: Was soll Putins Ziel sein?

Barenberg: Für den Moment halten Sie es für richtig, dass das Schlimmste angenommen wird, wie es ja auch der NATO-Generalsekretär Stoltenberg klargemacht hat?
Polenz: Ja, gut! In der Analyse geht man immer von zwei Dingen aus: Man schaut sich die Fähigkeiten an und die Absichten und zunächst einmal die Fähigkeiten, und die Fähigkeiten mit 100.000 Soldaten aus 100 Bataillonen, die jetzt zusammengezogen worden sind, die wären schon so, dass man einen Krieg erwarten darf. Ich glaube nur, dass die Absichten das letztlich nicht sind, weil ich frage mich auch, was wäre denn das Ziel eines solchen Krieges. Will er dann, wenn er ihn denn militärisch gewinnt, Lukaschenko in Kiew als neuen Regierungschef einsetzen, oder was soll das Ziel sein? Eine gewaltsame Annexion der Ukraine mit solcher militärischer Macht kann es doch eigentlich nicht sein.

Differenzierte Beurteilung der Lage

Barenberg: Sie haben jetzt gesagt, dass die Botschaft nach der Tagung der NATO-Außenminister in Ihren Augen richtig und klar war. Es fällt aber schon auf, dass es schon wieder Differenzen gibt im Bündnis. Die Deutschen neigen wie andere eher dazu, ein bisschen flexibler zu sein und zu sagen, das könnte auch wie schon im Frühjahr eine Militärübung sein, warten wir mal ein wenig ab, während die Amerikaner schon deutlicher machen, dass in ihren Augen da ein Aufmarsch vonstattengeht, und so sehen es ja auch die Ukraine beispielsweise oder die baltischen Staaten. Warum ist die NATO in ihrer Analyse und in ihrer Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, so wenig einig?
Polenz: Ich glaube, das hängt jetzt mit der Beurteilung der Lage zusammen, die man sicherlich so und so beurteilen kann. Wichtig ist, dass die Signale, die man Richtung Putin sendet, eindeutig sind, und das ist nach meinem Dafürhalten der Fall. Es ist klargemacht worden, es hätte erhebliche Konsequenzen, wirtschaftlich, natürlich auch politisch, denn der Überfall auf ein anderes Land, auch wenn man sagen muss, dass ja schon im Donbass Krieg geführt wird, und zwar ein verdeckter Krieg, den Russland dort gegen die Ukraine führt, und die Annexion der Krim war auch der gewaltsame Überfall auf ein anderes Land, aber das wäre mit 100.000 Soldaten schon noch mal eine andere Dimension. Das würde Russland politisch isolieren. Die wirtschaftlichen Folgen können durch weitere Sanktionen deutlich sein. Und auch militärisch darf man nicht vergessen, Sie hatten darauf hingewiesen: Zum einen hat die Ukraine selbst Streitkräfte und sie ist auch seit einiger Zeit durch die Drohnen aus der Türkei so gerüstet, dass Russland auch erhebliche Verluste befürchten müsste. Ob das die russische Bevölkerung goutiert, das muss Putin sich natürlich auch fragen, und ich denke, das wird er sich auch fragen und deshalb letztlich die Finger davon lassen.

"Sanktionen waren schon ein Erfolg"

Barenberg: Diplomatische, politische, auch wirtschaftliche Konsequenzen, sprich Sanktionen, haben ja bisher nicht viel an der Position des Kremls und an den Drohgebärden aus Moskau geändert. Wird es jetzt entscheidend, wenn die Abschreckung funktionieren soll, tatsächlich auf eine engere militärische Zusammenarbeit hinauslaufen müssen, wie sie ja auch Kiew fordert?
Polenz: Ich würde schon widersprechen, dass das nichts genützt hat. Denken Sie an die Pläne, ein sogenanntes Novorossiya im Nordosten der Ukraine zu schaffen, einschließlich von Städten weit über den Donbass hinaus. Das hat er sein lassen, nachdem er gemerkt hat, wie einig die Europäische Union, wie einig der Westen war, auch in der Unterstützung der Ukraine, auch, wie stark der Widerstand war. Darüber wird jetzt nicht mehr geredet. Ich glaube, das war schon ein Erfolg, dass der Vormarsch russischer Intervention in Luhansk und im Donbass gestoppt wurde. Was jetzt die weitere Entwicklung angeht: Ich hoffe, dass Putin in der Analyse seiner Lage sieht, dass er die sinkenden Umfragewerte im Land, die ihn ja möglicherweise auch zu solchen Schritten veranlassen, so nach dem Motto, dann habe ich Druck von außen, dann kriege ich den von meiner Regierung wieder ein bisschen weg, Stichwort Corona, Stichwort schlechte wirtschaftliche Lage, dass er sein Kalkül umstellt und sagt, ich komme vielleicht doch besser klar, wenn ich langsam auf Zusammenarbeit umstelle, denn mein Geschäftsmodell, Export von Öl und Gas, das geht ja mit der Dekarbonisierungsstrategie der Welt, die hoffentlich große Fortschritte macht in den nächsten Jahren, immer mehr den Bach runter.

Waffen aus dem Westen in Kalkül einbeziehen

Barenberg: Die USA, Sie haben es angesprochen, bilden jetzt schon Streitkräfte in der Ukraine aus. Sie liefern auch Waffen, zuletzt panzerbrechende Raketen. Die Türkei Kampfdrohnen, die auch schon zum Einsatz gekommen sind. Müssen wir auf diesem Weg weitergehen, auch mit der Folge, dass die NATO selber ihre militärische Zusammenarbeit mit der Ukraine noch aufstockt?
Polenz: Nein. Es ist eine Gratwanderung, in ein Krisengebiet Waffen zu liefern, und wir sollten da sehr vorsichtig sein. Ich glaube, das ist auch jetzt nicht das, was im Augenblick gebraucht wird. Aber dass Putin sich darauf einrichten müsste, im Fall eines russischen Überfalls mit diesen 100.000 Mann auf die Ukraine auf eine Ukraine zu stoßen, die dann auch weitere Waffen aus dem Westen bekommt, das sollte er sich in sein Kalkül schon einstellen.

"Nord Stream 2 gehört in den Sanktionskasten"

Barenberg: Zum Schluss, Herr Polenz: Die nächste Außenministerin wird aller Wahrscheinlichkeit nach Annalena Baerbock heißen. Sollte sie das Projekt Nord Stream 2 noch mal aufrufen als eine Möglichkeit, den Kurs gegenüber Russland zu verschärfen?
Polenz: Ich sage mal, Nord Stream 2 gehört sicherlich im Weiteren in den Sanktionskasten für den Fall eines russischen Überfalls auf die Ukraine, egal wer Außenminister oder Außenministerin wird. Das muss klar sein. Und es ist auch im Hinblick auf Belarus – das muss man letztlich mit dazu nehmen – zu sehen, dass auch gegenüber Belarus weitere Sanktionen möglich sind, wenn Lukaschenko seine Politik da nicht einstellt.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.//