Donnerstag, 28. März 2024

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EU-Beitrittskandidatur der Ukraine
Asselborn: "Ein Zeichen setzen von großer politischer Solidarität"

Die Entscheidung, die Ukraine und Moldawien zu EU-Beitrittskandidaten zu machen, ist laut Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn unstrittig. Die Ukraine kämpfe "um ihr Überleben". Insofern sei dies eine politische Entscheidung, die der Europäischen Union sehr gut tue, so Asselborn im Dlf.

Jean Asselborn im Gespräch mit Moritz Küpper | 23.06.2022
Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg, während eines Pressestatements im Rahmen eines informellen Treffens der NATO-Außenminister und Außenministerinnen in Berlin
Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg, während eines Pressestatements (IMAGO/photothek/Janine Schmitz)
Kann die Ukraine mitten im russischen Angriffskrieg EU-Beitrittskandidat werden? Darüber beraten ab Donnerstag (23.06.2022) die 27 europäischen Staats- und Regierungschefs auf ihrem Brüsseler Gipfeltreffen. Erwartet wird ein positives Votum für die Ukraine und das Nachbarland Moldau. Davon geht auch Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn aus.
Schon auf einem vorherigen Treffen in anderer Runde in dieser Woche hätte "total Einstimmigkeit" darüber geherrscht, Moldawien und der Ukraine den Kandidatenstatus zu vergeben, sagte Asselborn im Dlf. "Ich glaube, die Begründung ist sehr eindeutig. Die Ukraine kämpft um ihr Überleben, aber sie kämpft auch für die Werte, die Demokratie, die Freiheit, die uns eigen sind."

Das Interview im Wortlaut:

Moritz Küpper: Ist die Zustimmung für die Ukraine und Moldau zu ihrem Status als Beitrittskandidaten nur noch eine Formsache?
Jean Asselborn: Ja. Wir hatten Außenministertreffen, Europaministertreffen diese Woche hier in Luxemburg. Es ist totale Einstimmigkeit, dass wir das Kandidatenstatut für die Ukraine und Moldawien heute oder morgen entscheiden. Ich glaube, die Begründung ist sehr eindeutig. Die Ukraine kämpft um ihr Überleben, aber sie kämpft auch für die Werte, die Demokratie, die Freiheit, die uns eigen sind.
Küpper: Da will ich noch mal nachfragen. Warum geht das Ganze jetzt so schnell? Ist das eine symbolische Geste für angegriffene, für bedrohte Länder?
Asselborn: Nein. Es bezieht sich jetzt spezifisch auf die Situation, die wir kennen seit dem 24. Februar, und es bezieht sich auf ein Land, das, wenn wir das links liegen lassen würden, vielleicht dann eine Einladung für Putin wäre. Das sind zwei politische Entscheidungen, die uns aber, glaube ich, als Europäische Union sehr gut tun.
Küpper: Geht es da um Solidarität, oder geht es wirklich darum, die Ukraine in die Europäische Union als Mitgliedsland zu holen?
Asselborn: Es geht zu allererst darum, was ich Ihnen gesagt habe, ein Zeichen zu setzen. Das Existenzrecht der Ukraine und das Land gehört zu Europa. Wir setzen jetzt den Startpunkt, dass die Ukraine auch in der Zukunft zur Europäischen Union gehören kann, so wie Moldawien.

"Es sind nicht nur Sanktionen"

Küpper: Das heißt aber, eine konkrete Perspektive für das Land ist nicht dabei?
Asselborn: Sie können das jetzt auch negativ auslegen.
Küpper: Ich frage ja nur nach!
Asselborn: Ich weiß, was Sie sagen wollen. Nordmazedonien, damals Mazedonien, hat dieses Statut seit 2005, die Türkei seit 2005, Serbien seit 2012, aber es ist trotzdem ein Ansatz und, ich glaube, ein sehr, sehr wichtiger Punkt, dass von dem Moment an die Ukraine zur Europäischen Union, sagen wir mal, die Tür aufgestoßen hat. Natürlich gibt es einen Vertrag für jedes Land, das Mitglied der Europäischen Union werden will, aber ich glaube, was wichtig ist, noch einmal: Wir sollten jetzt diesen aktuellen Punkt sehen und diesen Punkt, diese Entscheidung in Bezug auf das beziehen, was die Bedrohung dieses Landes und auch die Bedrohung Moldawiens nehmen, dass wir hier ein Zeichen setzen von großer politischer Solidarität. Es sind nicht nur Sanktionen, es sind nicht nur Waffen, sondern es ist auch dieses politische Zeichen, das wir setzen.
Küpper: Ich frage nur deshalb nach; Sie sprechen davon, ein Zeichen zu setzen. Es gäbe keine anderen Wege der Europäischen Union, da Zeichen zu setzen, denn Sie haben ja Länder angesprochen, die seit Jahren, Jahrzehnten teilweise nun schon warten.
Asselborn: Ja! Vor allem gibt es die Länder auf dem Balkan. Sie haben da ganz recht. Seit 2003 haben wir den Balkan-Ländern allen versprochen, dass sie Mitglied der Europäischen Union werden können, wenn sie die Kriterien erfüllen. Hier gibt es für zwei Länder einen sehr einfachen Weg. Seit drei Jahren eiern wir herum, was Nordmazedonien angeht, und das ist unwürdig. Das Land hat sogar seinen Namen geändert. Wir riskieren, wenn wir hier nicht weiterkommen, dass sich ganz falsche Zeichen wieder in diesem Land setzen und der europäische Gedanke, der in diesem Land noch sehr stark ist, verschwindet. Das ist unsere eigene Schuld. Das ist nicht die Schuld der Kommission; es ist die Schuld der Mitgliedsländer. Und es ist ein Land, die gestern auch noch die Regierung verloren haben, Bulgarien, was da blockt. Nur zur Erinnerung: 2007 wurde Bulgarien Mitglied der Europäischen Union, zusammen mit Rumänien, und 2005 in der luxemburgischen Präsidentschaft war das ein sehr, sehr politisches Zeichen, was wir gesetzt haben, und ich verstehe eigentlich nicht, dass ein Land wie Bulgarien sich dagegen stellt mit einem Argument, was kein Mensch versteht außerhalb von Bulgarien, nämlich es geht hier um die Sprache, ob die nordmazedonische Sprache ein Dialekt ist vom Bulgarischen. Das hat überhaupt nichts zu tun mit den europäischen Kriterien.

"Wir müssen darum den Ländern helfen"

Küpper: Die hohe symbolische Bedeutung einer Beitrittsperspektive für die Ukraine und auch Moldau ist mir bewusst. Aber weil Sie das gerade so skizzieren: Droht man da nicht, jetzt wieder den gleichen Fehler zu machen?
Asselborn: Ich glaube, wenn Sie den Balkan nehmen, dass unsere Tür offen sein muss, dieses Versprechen auch einzuhalten. Allerdings es gibt auch Kriterien. Ich nehme das Land Bosnien-Herzegowina. Das Land muss zeigen, dass es ein Land ist, dass es eine Identität hat, eine. Ich war letzte Woche in Sarajewo. Da gibt es Politiker, die das ganz gut verstanden haben, wie die Außenministerin oder wie der Repräsentant der Kroaten, aber es gibt auch Menschen, Politiker wie Dodic, die ihr Heil nur in der Republika Srpska sehen, und solange das anhält, solange das Land sich nicht zu einer Einheit bekennt und Mitglied der Europäischen Union werden will, ist das unheimlich schwer.
Sie haben auch Serbien und Kosovo genannt. Die Zukunft dieser beiden Länder ist doch in Europa, nicht in China oder in der Türkei oder in Russland oder in Saudi-Arabien. Wir müssen darum den Ländern helfen. Wir sind nicht ihre Professoren, aber wir müssen helfen, dass sie ihr Glück in der Zukunft sehen und nicht dauernd diese Referenzen in die Vergangenheit machen.
Wenn Sie das alles in Frage stellen, warum wir das jetzt machen mit der Ukraine, bin ich mit Ihnen einverstanden, aber Sie wissen, ein Land, was so in Not ist wie die Ukraine, hier muss man das politische Wagnis eingehen, um das zu tun, was wir Ende dieser Woche jetzt fertig bringen.

"Es ist doch unsere historische Aufgabe"

Küpper: Herr Asselborn, ich frage das auch nur deshalb, weil man sich auch die Frage stellen könnte, ob die Europäische Union selbst überhaupt bereit wäre für eine Erweiterung.
Asselborn: Auch das ist eine berechtigte Frage. Bis Mitte der 2000er-Jahre gingen ja immer die Vertiefung und die Erweiterung zusammen. Dann kam aber dieses immer stärker werdende Gefühl auf, das schaffen wir nicht. Es gab Länder, die dann auf einmal entschieden haben, nur noch Erweiterung, wenn ein Referendum stattfindet. Sie kennen das.
Ich glaube wirklich, dass natürlich auch diese große Herausforderung mit der Türkei – ich kann mich erinnern, 2004 im Europäischen Rat waren wir einstimmig dafür, 2005 im Rat der Außenminister der effektive Start der Verhandlungen. Dazwischen kam dann diese ganze Debatte um die privilegierte Partnerschaft. Dann kamen Entwicklungen in der Türkei, der ganze Prozess wurde dann eingefroren. Das hätten wir anders machen sollen nach dem Fall der Mauer. Die Wiedervereinigung der Europäischen Union, das war alles klar, das war richtig. Aber wir sind ja dann auch sehr schnell auf 28 Länder gestiegen, als die Briten noch dabei waren.
Es wird unheimlich schwer, wenn diese Zahl sich noch erweitert, mit dem System, was wir haben, in der Kommission, aber auch im Rat klar durchzusehen. Aber es ist doch unsere historische Aufgabe, glaube ich, im Namen der Menschen, die noch immer den Glauben haben, dass die Europäische Union etwas ist, was sie weiterbringen kann, was ihnen Freiheit und was ihnen Sicherheit und natürlich auch materiell etwas bringt. Das ist unsere große Aufgabe. Schaffen wir das als Europäische Union mit dem System, was wir bis jetzt haben, das ist eine andere Frage.
Küpper: Halten wir fest: Beide Seiten sind, Stand heute zumindest, gar nicht richtig bereit für eine Aufnahme der Ukraine und auch Moldaus. Also hat das Ganze heute eine hohe symbolische Bedeutung, aber ist ein Stück weit auch ein leeres Versprechen?
Asselborn: Seien wir etwas optimistischer in dieser nervösen Zeit.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.