Donnerstag, 25. April 2024

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Konfliktforscher zu Coronaprotesten
"Es zieht sich eine Mauer durch die Gesellschaft"

Der Konfliktforscher Ulrich Wagner plädiert für klare, normative politische Vorgaben in der Corona-Pandemie - zum Beispiel in Form einer Impfpflicht. Nur so könne man noch Teile der Querdenker-Szene zum Umdenken bringen. Problematisch sei, dass die gesellschaftlichen Gruppen nicht mehr miteinander redeten.

Ulrich Wagner im Gespräch mit Friedbert Meurer | 29.12.2021
Die Szene werde radikaler und lauter, aber nicht größer, sagt der Konfliktforscher Ulrich Wagner
Die Szene werde radikaler und lauter, aber nicht größer, sagt der Konfliktforscher Ulrich Wagner (imago images/Nordphoto)
In den vergangenen Tagen hat es immer wieder Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen gegeben. Versammlungen gab es am Abend in mehreren Städten, unter anderem in Ravensburg, Mannheim und Pforzheim. Nach Ausschreitungen bei einer Demo in Schweinfurt wurden vier Teilnehmer verurteilt. Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) und die Gewerkschaft der Polizei (GdP) verurteilten Demonstranten, die bei Corona-Protesten ihre Kinder mitnehmen und Gefahren aussetzten.
Ulrich Wagner, Konfliktforscher von der Uni Marburg, sagte im Dlf, dass sich die Szene weiter radikalisiere und lauter werde. Von einer Spaltung der Gesellschaft könne man aber nicht sprechen. Dafür sei die Gruppe der Menschen, die sich massiv gegen die Corona-Maßnahme stelle, zu klein.
Mecklenburg-Vorpommern, Rostock: Teilnehmer versammeln sich zu einer Demonstrationen gegen Corona-Einschränkungen und Impfpflicht.
Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Rostock (Bernd Wüstneck/dpa-Zentralbild/dpa)

Das Interview im Wortlaut:
Meurer: Sehen wir das richtig, dass die Szene gerade dabei ist, sich zu radikalisieren?
Wagner: Ja, das würde ich teilen, was Ihr Korrespondent aus Berlin beschrieben hat. Die Szene radikalisiert sich, sie wird lauter. Ich bin nicht sicher, dass die Szene größer wird. Gemessen an der Vielzahl derjenigen, die Corona-Maßnahmen willig befolgen, ist die Szene auch klein, das muss man auch sich vor Augen halten. Insofern, wenn häufig von der Spaltung der Gesellschaft gesprochen wird, erweckt das ja den Eindruck, als wenn da zwei gleich große Gruppen einander gegenüberstehen würden – das ist definitiv nicht so.
Corona-Pandemie: Warum eskalieren die Corona-Proteste?
Zuerst friedlich und nun mit zunehmender Härte: In mehreren Städten kommt es seit wenigen Wochen immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Anti-Corona-Demonstranten und der Polizei. Wer demonstriert und wohin könnte das führen?

Gefahr für gewalttätige Aktionen steigt

Meurer: Haben Sie irgendwelche Zahlen oder Prozente? Reden wir hier im Promillebereich?
Wagner: Ja. Also, wenn wir uns anschauen, dass etwa 55 bis 60 Millionen Menschen geimpft sind von denjenigen, die geimpft werden können, und wir dann etwa 100.000 auf der Straße haben, dann hat man ja einen Zugang zu den Größenverhältnissen.
Meurer: Gibt uns das Grund – ich will nicht sagen –, uns entspannt zurückzulehnen, aber das Ganze weniger dramatisch zu sehen?
Wagner: Nein, das würde ich so nicht sagen. Was jetzt geschieht, ist etwas, was man bei sozialen Bewegungen, ich würde die Querdenker-Szene jetzt mal neutral so bezeichnen, was man bei sozialen Bewegungen häufig beobachten kann. Je mehr sie unter Druck geraten und Gefahr laufen, tatsächlich durch Vorschriften und Verordnungen zu verschwinden, umso lauter werden sie, unter anderem auch mit dem Ziel, auf diese Art und Weise in stärkerem Maße in den Medien zu erscheinen – und das ist ja genau das, was wir gerade haben. Die Gefahr ist tatsächlich groß aus meiner Sicht, dass sich auch aus der gegenwärtigen Protestszene wiederum eine kleine Gruppe abspaltet, die dann tatsächlich auf Dauer auch versucht, ihre gewalttätigen Aktionen fortzusetzen.

Starker Einfluss aus der rechten Szene

Meurer: Sie sagen abspaltet, das heißt, die sind dann schon Teil der Szene. Sie reden jetzt nicht von den Rechtsradikalen, die diese Bewegung ausnutzen?
Wagner: Doch, ich nehme die ganz besonders ins Auge. Aber wenn wir uns anschauen, wer gegenwärtig zu diesen Protestmärschen geht, das sind ja nicht nur Rechtsradikale, das sind ja auch Menschen, die verängstigt sind, das sind auch Menschen, die sich in ihren Rechten beeinträchtigt fühlen, aber ohne rechtsradikal zu sein. Ich denke, dieser Teil der gegenwärtigen Querdenker-Szene wird auch in der Zukunft mehr und mehr sich von diesen Protesten zurückziehen. Aber was bleibt, sind diejenigen, die auch tatsächlich diese Proteste instrumentalisieren – und das kommt in starkem Maße aus der rechten Szene.

Ungewissheit macht den Menschen Angst

Meurer: Wenn man ganz tief geht, was macht den Menschen Angst?
Wagner: Die Ungewissheit. Die Ungewissheit, dass sie nicht genau wissen, wie sich die Coronapandemie weiter entwickeln wird. Und diese Ungewissheit hat auch noch mal zugenommen mit der neuen Omikron-Variante, wir haben ja jetzt keine Szenarien mehr, wo Politiker und Virologen vom Ende des Tunnels reden. Wir haben keine Zukunftsszenarien, das verängstigt, das verstärkt die Suche nach Informationen, nach Erklärungen. Und wenn solche Erklärungen von politischer und auch von fachkompetenter virologischer Seite zu wenig kommen, dann springen die Leute bevorzugt auf das, was sie im Netz finden.

Menschen besser aufklären

Meurer: Die Zeitungen, Fernsehsender, Radiosendungen, wir sind voll mit Informationen, mehr geht ja fast gar nicht mehr.
Wagner: Da bin ich in der gegenwärtigen, ganz aktuellen Situation nicht so sicher. Wir reden jetzt, manche Fachleute reden jetzt davon, dass Corona endemisch werden soll. Was ist das eigentlich? Da würde ich mir wünschen, wie sehen eigentlich die Szenarien aus, wie jetzt mit der Omikron-Variante umgegangen wird, was zu erwarten ist, welche Entwicklungen in die Zukunft hinein, im Frühjahr, im Sommer zu erwarten sind. Da kommt mir dann tatsächlich zu wenig. Und das, was jetzt an Erklärungen kommen müsste, sind auch nicht einfache, simple Erklärungen, wie wir es in der Vergangenheit hatten. Das Bild vom Ende des Tunnels, ich glaube, die Menschen sind durchaus in der Lage, auch komplexe und unsichere Prognosen hinzunehmen, sie müssen nur den Eindruck haben, hier werden Maßnahmen unternommen, hier wird versucht, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Und das fehlt mir ganz aktuell ein wenig.

"Wir neigen wir alle dazu, uns in unseren Positionen einzumauern"

Meurer: Wir reden vor allen Dingen über das, was sichtbar ist, was wir auf der Straße sehen, die Demonstrationen, die Bilder und Aufnahmen, die wir sehen können. Was spielt sich nach Ihrer Kenntnis, Herr Wagner, in den sozialen Medien ab? Da soll es ja geschlossene Räume geben, es gibt schon Partneragenturen für Ungeimpfte und dergleichen.
Wagner: Ja. In solchen Situationen von Unsicherheit, die wir gerade erleben, neigen wir alle dazu, uns in unseren Positionen einzumauern. Wir haben eine bestimmte Haltung zu Corona, die überwiegende, ganz überwiegende Mehrzahl ist überzeugt davon, dass medizinische Maßnahmen, Impfung und dergleichen, helfen. Aber es gibt eine kleine Gruppe, die die Existenz von Corona, die Existenz der Gefährlichkeit von Corona leugnet. Und wenn diese Gruppen hingehen und gar nicht mehr versuchen, miteinander zu reden und ihre gegenseitigen Argumente rational abzuwägen, sondern sich nur noch Unterstützung für ihre jeweilige Position suchen, haben wir das, was wir gerade erleben, nämlich zwei Gruppen von sehr unterschiedlicher Größe, die aber nicht mehr miteinander kommunizieren.
Insofern ist das Bild vom Graben, was sich durch die Gesellschaft zieht, eigentlich nicht das richtige, es zieht sich eine Mauer durch die Gesellschaft – durch diesen Kommunikationsmangel. Und die sozialen Netzwerke sind natürlich bestens dafür geeignet, einer kleinen Gruppe – der Gruppe der Corona-Leugner oder der Impfgegner – Kommunikationsmöglichkeiten zu bieten, die sie sonst in Form von direkterer Kommunikation kaum hätten, weil Corona-Leugner, die Gruppe ist nicht so groß, als dass man mal nur beim Nachbarn anschellen muss und sich mit dem austauschen kann und sich dort Unterstützung suchen kann.

Austausch rationaler Argumente wird schwieriger

Meurer: Sehen Sie denn eine Chance noch, dass man diejenigen, die so denken, noch aus ihren Online-Foren ansprechen kann?
Wagner: Ich befürchte, dass die Argumentation, dass der Austausch rationaler Argumente immer schwieriger wird, weil man sich nicht zuhört und weil man auch immer irgendwelche Hintergrundinformationen hat, scheinbar wissenschaftliche Informationen, die die Argumente der Gegenseite widerlegen. Ich setze aber darauf, dass die Einführung, die zunehmende Verschärfung einer Impfpflicht durchaus hilfreich sein kann.

Impfpflicht könnte helfen

Wenn man sich in die Situation von Menschen hineinversetzt, die sich auch selbst in eine solche ablehnende Position hineinmanövriert haben, da kommt man schlecht heraus, weil sie für neue Argumente nicht zugänglich sind. Eine zunehmende Verschärfung der Pflicht ist aber ein neues Argument. Die Gefahr, den eigenen Job zu verlieren, ist ein Argument, seine Position zu ändern und auch die Änderung der eigenen Position gegenüber den eigenen sozialen Netzwerken zu begründen. Wenn so etwas in klarer Form kommen würde, auch politisch, demokratisch abgestimmt und abgesichert, würde das eine neue Norm etablieren, die zumindest Teile derjenigen, die jetzt zu den Impfgegnern gehören und zur Querdenker-Szene, die zumindest Teile zum Umdenken bringen könnte. Nicht alle, nicht den harten Kern, aber Teile der Querdenker-Szene.
Meurer: Sie prophezeien, das lese ich, vieles von der Szene wird wieder zusammenbrechen, wenn Corona vorbei ist, vermute ich. Das Problem wird sich von alleine lösen?
Wagner: Nein, wir brauchen jetzt auch klare, normative politische Vorgaben.
Meurer: Eben in Form der Impfpflicht zum Beispiel?
Wagner: Ja.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.//