
Die Flutkatastrophe im Juli hat die Menschen im Ahrtal schwer getroffen. Zwar geht der Aufbau voran, doch viele Menschen im Ahrtal verbringen den Winter in beschädigten, schlecht beheizten Häusern. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sagte im Dlf, es sei in dieser kurzen Zeit trotzdem schon viel erreicht worden.
„Ich glaube, dass die Gesellschaft unglaubliche Potenziale hat, und dass wir in Wahrheit wirklich sehr, sehr solidarisch miteinander sind. Und es ist sehr schade, dass es eine Minderheit gibt, die im Moment sehr dominant auch in der Öffentlichkeit ist. Aber im Ahrtal können wir sehen, wie solidarisch Menschen sind, völlig selbstlos, und es ist ein ganz, ganz schöner Beweis dafür, dass unsere Gesellschaft zusammenhält.“
„Wir haben noch eine große Strecke vor uns“
Viele Bereiche der Infrastruktur seien mit hohem Tempo wieder ans Laufen gebracht worden – so zum Beispiel Schienen, Brücken, Telekommunikation oder die wichtige Gashochdruckleitung. Viele Probleme habe man sehr unbürokratisch gelöst. Dennoch sei noch viel zu tun.
Aus dem Ahrtal:
Mit Blick auf Vorsorge vor möglichen Katastrophen dieser Art sagte Dreyer, man habe mit den Menschen in den ganz besonders gefährdeten Bereichen gesprochen und Alternativen aufgezeigt. Der Wiederaufbaufonds biete auch ihnen Möglichkeiten.

Man wolle die Menschen unterstützen, dass sie an sicheren Orten bauen können, so Dreyer. Man habe auch ein großes Interesse daran, dass Unternehmen im Ahrtal und auch die Tourismusbranche weitermache.
Untersuchungsausschuss soll Aufklärung vorantreiben
Fünf Monate nach der Flutkatastrophe mit mehr als 180 Toten sind noch viele Fragen ungeklärt: Etwa warum der Katastrophenfall so spät ausgelöst wurde. Ein Untersuchungsausschuss dazu hat nun seine Arbeit aufgenommen.

Die Ursachenforschung werde dadurch jetzt intensiv vorangetrieben, sagte Dreyer. „Es ist selbstverständlich, dass die Landesregierung auch ein großes Interesse daran hat, auch zu klären: Was sind die Ursachen - und natürlich auch Schlüsse daraus zu ziehen für den Katastrophenschutz, für den Wiederaufbau, den Hochwasserschutz.“
Warnsysteme, Prävention und Ursachen:
Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Sprechen wir über den Wiederaufbau: Was wurde bisher erreicht?
Malu Dreyer: Ja, ich würde sagen, es wurde wahnsinnig viel erreicht in dieser kurzen Zeit. Jedes Mal, wenn ich ins Ahrtal fahre, dann sehe ich die Fortschritte, und mir ist ein Satz in Erinnerung: Bei meinem letzten Besuch traf ich eine Bürgerin, die sagte zu mir, wenn die Leute zum ersten Mal ins Ahrtal kommen, dann sind die total schockiert, wie es hier aussieht. Aber ich denke dann jedes Mal, sehen Sie eigentlich nicht, was hier schon passiert ist. Und das beschreibt das aus meiner Sicht unglaublich gut, wenn man das Ausmaß der Zerstörung der ersten Tage kennt, dann weiß man, was passiert ist.
Ich nenne mal so ein paar Stichworte – ob es die Kläranlage ist in Sinzig, die gestern eingeweiht worden ist, das heißt Abwasser, Wasser, das steht wieder zur Verfügung. Es geht um die Hauptschlagader für Wärmeversorgung, also die Gashochdruckleitung, an der ganz viele, Tausende von Bürgern und Bürgerinnen gehangen haben. Dafür braucht man normalerweise sechs Jahre, sagen die Fachleute, das ist weniger als in hundert Tagen wiederhergestellt worden.
Die Bahnverbindung ist in einer acht Kilometer Teilstrecke wiederhergestellt, die Telekommunikation, der Strom, die verkehrliche Verbindung über die Straßen, auch Brücken. Das sind nur Behelfsbrücken, aber wenn man im Kopf hat, dass 103 Brücken zerstört waren im Ahrtal, dann weiß man, was das bedeutet, dass man ja die Ahr auch wieder überqueren kann. Die Kinder gehen wieder in ihre Schulen, auch wenn in manchen Schulen Container auf dem Hof stehen. Das einzige Problem ist das Thema Förderschule, da müssen die Kinder noch sehr weit fahren mit dem Bus, aber alle anderen Schulen sind jetzt wieder so weit, dass die Kinder auch in ihrem Klassenverbund wieder unterrichtet werden können. Das Traumatherapiezentrum ist errichtet worden und eröffnet worden.
Und um Ihnen vielleicht noch mal so ein Bild zu geben: Ich war vor ein paar Tagen das letzte Mal im Ahrtal und bin dann die ganze Ahr noch mal abgefahren, um so einen Gesamteindruck nochmals zu haben, und kein Kilometer, kann man sagen, ohne dass da Bagger, Laster unterwegs sind, wo Leute gearbeitet haben. Es ist unheimlich viel weggeschafft worden, viele sind beim Wiederaufbau. Und auf der ganzen Strecke, 40 Kilometer, die ganze Strecke war gesäumt von geschmückten Weihnachtsbäumen.
Auch das ist das Ahrtal, dass die Menschen wahnsinnig viel arbeiten am Wiederaufbau, aber gleichzeitig es viele helfende Hände gibt, die dann auch an solche Dinge denken, es ist Weihnachtszeit, und dort einfach Weihnachtsbäume aufstellen. Also das ist mein Eindruck vom Ahrtal zurzeit, es ist unglaublich, was da geschafft worden ist, und wir haben aber auch noch eine große Strecke vor uns.
"Kurzfristige, unbürokratische Lösungen"
Heinemann: Auf die helfenden Hände kommen wir noch zu sprechen, bleiben wir noch mal beim Wiederaufbau: Was hat bisher nicht geklappt?
Dreyer: Ich kann das so nicht beantworten mit nicht geklappt, sondern es sind riesige Projekte angepackt worden, und ich denke, dass die alle Schritt für Schritt nach vorne gebracht worden sind. Und immer, wenn ein Problem aufgetaucht ist, hat man sehr unkonventionell, sehr unbürokratisch das Problem gelöst. Ich sag ein Beispiel: Ich habe von der Gashochdruckleitung gesprochen, da gab es zunächst die Prognose, dass es ewige Zeit noch dauern wird, bis das möglich ist. Und dann hat man sich zusammengesetzt wirklich, mit ADD, mit den Kommunalen vor Ort, mit den Energieversorgern, hat überlegt, was kann man tun.
Am Ende haben 17 Energieversorger aus der Region und aus ganz Deutschland geholfen, dass innerhalb von dieser ganz kurzen Zeit die Hauptschlagader dann wiederhergestellt worden ist, wo gerade neue Leitungen durch eine andere Region gefunden haben. Und das ist so ein typisches Beispiel fürs Ahrtal: Nicht alles ist leicht, weil ja ganz viel auch zu berücksichtigen ist, aber alle sind ganz, ganz stark darin, sehr kurzfristige, unbürokratische Lösungen zu finden, damit es eben dann trotzdem weitergeht.
"Das Geld ist ja da"
Heinemann: Ist sichergestellt, dass so wiederaufgebaut wird und so Vorsorge getragen wird, dass sich eine Katastrophe wie die im Juli auch bei Starkregen künftig nicht mehr wiederholen kann?
Dreyer: Nach der Katastrophe musste ja das Hochwassergefährdungsgebiet neu ausgewiesen werden, und das haben wir natürlich auch getan. Und mit den Menschen, die ihre Häuser in den ganz gefährlichen Regionen stehen haben oder in Teilen des Ahrtals stehen haben und die völlig zerstört sind, ist individuell mit jedem Bürger, mit jeder Bürgerin gesprochen worden, ihnen auch gesagt worden, was kann man tun, an welcher Stelle kann man aufbauen, also auch aufgezeigt, was ist jetzt die Alternative.
Das Geld ist ja da durch diesen unglaublich hohen Wiederaufbaufonds, sodass das ganz individuell besprochen worden ist. Es ist jetzt vor einiger Zeit gesprochen worden mit den Bürgermeistern, zu den Bewohnern und Bewohnerinnen, deren Häuser Bestandsschutz haben, aber auch in einer gefährlichen Zone liegen, welche Alternativen wir finden. Wir haben jetzt mit dem Bund auch verabredet, dass der Wiederaufbaufonds auch für solche Bürger und Bürgerinnen da ist, wenn sie in der gefährlichen Zone sind, dass sie auch an anderer Stelle dann wiederaufbauen können. Diese Gespräche finden jetzt statt.
Natürlich wollen wir alle unterstützen, dass die möglichst wieder sicher bauen und an sicheren Stellen, und dort, wo natürlich die Ahr sich trotzdem auch wieder ausbreiten kann, wenn auch nicht in dieser gewaltsamen Form, da wird darauf geachtet, dass hochwasserkonform dann eben auch wiedererrichtet wird.
Untersuchungsausschuss und Enquete-Kommission
Heinemann: Frau Ministerpräsidentin, viele Menschen im Ahrtal fragen sich dennoch, wie konnte es dazu kommen. Warum schlugen Innenminister Roger Lewentz und Umweltministerin Anne Spiegel, die heutige Bundesfamilienministerin, nicht Alarm?
Dreyer: Die Ursachenforschung wird ja jetzt intensiv aufgearbeitet, sowohl im Untersuchungsausschuss und in der Enquete-Kommission, der Expertenbericht „Katastrophenschutz“ wird demnächst auch vorgelegt werden, und diese Fragen sind nicht einfach am Telefon zu klären. Es ist vollkommen klar, wir haben einen Katastrophenschutz, wir sind in mehreren Landkreisen in Rheinland-Pfalz sehr hart getroffen worden.
Es hat an vielen Stellen funktioniert, im Ahrtal eben ist diese schreckliche Katastrophe gewesen, und deshalb ist es natürlich selbstverständlich, dass auch die Landesregierung ganz großes Interesse daran hat aufzuklären, was sind die Ursachen, und natürlich auch daraus Schlüsse zu ziehen für den Katastrophenschutz, für den Wiederaufbau, für den Hochwasserschutz und so weiter.
Heinemann: Wenn ich da ein Detail noch mal rausgreifen darf: Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb in dieser Woche, Frau Spiegel, also die damalige Umweltministerin, sei über die vorhergesagten Pegelstände informiert gewesen, ihr Ministerium habe noch mitgeteilt, dass kein Extremhochwasser drohen würde, als die ersten Campingplätze schon unter Wasser standen. Ist regierungsintern geklärt, wie es dazu kommen konnte?
Dreyer: Wir sind miteinander selbstverständlich im Gespräch, aber Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich nicht zu irgendeinem Detail jetzt, in einer Phase, wo wir eine Enquete-Kommission haben, einen Untersuchungsausschuss, der ganz intensiv jedem Detail nachgeht, dass ich jetzt im Telefoninterview darauf antworte. Bitte verstehen Sie das jetzt, das ist ganz, ganz klar, dass wir sowohl intern sehr, sehr gut miteinander überlegen, was ist aus unserer Sicht gelaufen, genauso wie wir auf die kommunale Ebene schauen.
Aber es ist der Auftrag der Enquete und des Untersuchungsausschusses, und die Landesregierung arbeitet ganz konstruktiv damit, denn wir wollen natürlich alle auch wissen – das sind wir ja auch den Opfern gegenüber schuldig –, was ist da passiert und hätte man Dinge anders machen können oder müssen, und was bedeutet das eben auch für die zukünftige Katastrophenschutzaufstellung.
"Wir haben noch nie so eine Solidarität erlebt"
Heinemann: Können Sie absehen, ein wie großer Teil der Wirtschaft und Landwirtschaft die Folgen der Flut nicht überstehen wird?
Dreyer: Das können wir natürlich gar nicht absehen. Ich kann nur sagen, dass sowohl unsere Winzer und Winzerinnen als auch die Wirtschaft sehr engagiert sind und beim Wiederaufbau motiviert sind. Es braucht alles seine Zeit. Die Hilfen sind umfangreich da, trotzdem, es liegt natürlich auch an einer ganz individuellen Entscheidung, was Unternehmer und Unternehmerinnen sagen. Ich treffe im Ahrtal aber sehr, sehr viele, die sagen, wir haben noch nie so eine Solidarität erlebt und wir wollen in dem Ahrtal bleiben und wir wollen auch weiter Tourismus und so weiter betreiben.
Das alles ist heute nicht abschließend zu beantworten, aber wir setzen schon darauf als Landesregierung, alle zu unterstützen, dass sie eben ihre Betriebe auch fortsetzen können. Ich war gerade vor ein paar Tagen auch in einem besonderen Betrieb, auch in mehreren Handwerksbetrieben, wo ich gesehen habe, die Leute, die haben schon ganz viel weggeschafft und sie wollen einfach weitermachen und sind unheimlich engagiert. Sie brauchen die Solidarität auch in Zukunft, die bekommen sie aber auch.
Heinemann: Stichwort Solidarität: Frau Ministerpräsidentin, seit Monaten helfen sehr viele Menschen im Ahrtal, Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet, aus benachbarten Ländern, einige sind seit dem Sommer im Einsatz. Was bedeuten diese helfenden Hände für die Menschen im Ahrtal?
Dreyer: Die helfenden Hände bedeuten für die Menschen wahnsinnig viel. Es ist tatsächlich nicht nur für bauliches Mitmachen und Helfen in der materiellen Sicht, es ist ein unglaublicher Trost, die Hilfsbereitschaft. Das kann man auch wirklich überall hören, dass die Menschen berührt sind davon, dass so viele Helfer und Helferinnen da sind. Wir sagen ja oft in der Staatskanzlei, irgendwann werden die Soziologen vielleicht dann im Rückblick sagen, das ist das Ahrtal-Phänomen. Es ist einfach unglaublich, wie viel Tausende von Menschen auch bis zum heutigen Tage da sind und einfach unterstützen und helfen.
"Man kann keinen hundertprozentigen Schutz garantieren"
Heinemann: In der Berichterstattung überwiegen ja zurzeit gewalttätige Corona-Demonstrationen mit verletzten Polizistinnen und Polizisten, Verbreitung von Hass und Hetze im Netz. Wenn man das vergleicht mit dieser stillen Menschlichkeit, von der Sie gerade gesprochen haben, die man im Ahrtal erleben kann, ist diese Gesellschaft besser, als sie manchmal auf den ersten Blick erscheinen mag?
Dreyer: Ich glaube ganz bestimmt, dass die Gesellschaft unglaubliche Potenziale hat und dass in Wahrheit wir wirklich sehr, sehr solidarisch miteinander sind. Im Grunde gut, glaube ich, ist der Mensch, und es ist sehr schade, dass es eine Minderheit gibt, die im Moment sehr dominant auch in der Öffentlichkeit ist. Aber im Ahrtal können wir einfach sehen, wie solidarisch Menschen agieren, völlig selbstlos, und es ist einfach ein ganz, ganz schöner Beweis dafür, dass unsere Gesellschaft zusammenhält.
Im Übrigen will ich unbedingt auch noch sagen, es sind die ungebundenen Helfer und Helferinnen, die immer da sind, aber es ist auch so, dass die Menschen, die in den Verwaltungen arbeiten – egal ob auf kommunaler oder Landesebene – Unglaubliches da leisten. Viele sind auch selber betroffen, trotzdem arbeiten die Tag und Nacht für ihr Ahrtal. Und auch das ist wirklich außerordentlich beeindruckend.
Heinemann: Frau Dreyer, eine zentrale Botschaft des christlichen Weihnachtsfestes besteht aus den drei Wörtern „Fürchtet euch nicht!“. Wie kann man das für die Menschen in den Katastrophengebieten – jetzt nicht nur im Ahrtal, auch in den anderen – übersetzen, seien sie nun christlich geprägt oder nicht?
Dreyer: Zum einen, denke ich, muss man sich in Deutschland schon auch gewahr sein, dass es einfach Extremwetterlagen durch den Klimawandel, die wir nicht so im Kopf hatten. Wir erleben das ja an unterschiedlichen Stellen, und das heißt auch, dass wir uns darauf einstellen müssen. Wenn man sich nicht fürchten soll, muss man auch eine Gewissheit haben, dass wirklich auch alles getan wird, aus solchen Katastrophen zu lernen und eben den Schutz auch zu organisieren für die Bevölkerung.
Das Zweite ist, wir wissen auch, man kann keinen hundertprozentigen Schutz garantieren. Deshalb geht es auch darum, mit Zuversicht darauf zu blicken, was Gesellschaft imstande ist zu tun, und das heißt eben, diese unglaubliche Solidarität, die wir erleben, des Unterstützens, des Helfens, das erleben wir in der Pandemie, aber wir erleben es eben auch im Ahrtal sehr. Und wenn man darauf schaut, dann kann man auch sagen, wir müssen uns nicht vor der Zukunft fürchten, die Solidarität ist einfach sehr, sehr groß in unserer Gesellschaft. Und der Staat ist auch handlungsfähig, ich glaube, das ist auch ein wichtiger Punkt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.