Donnerstag, 28. März 2024

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Roth (SPD) zum Ukraine-Russland-Konflikt
„Das östliche Europa ist nicht der Vorhof der Macht Putins“

Michael Roth (SPD) kritisierte im Dlf die Unentschlossenheit der EU in der Auseinandersetzung mit dem russischen Präsidenten. Der Streit innerhalb der EU im Ukraine-Konflikt sei das „das größte Geschenk, was wir Präsident Putin und anderen autoritären Regimen bereiten können“, sagte er im Dlf.

Michael Roth im Gespräch mit Stefan Detjen | 19.12.2021
Michael Roth spricht auf einer Veranstaltung vor Flaggen
Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth (picture alliance/dpa)
Der neue Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Michael Roth, SPD, bezeichnete im Deutschlandfunk die jüngsten Vorschläge des russischen Präsidenten Putin zu Gesprächen über den Konflikt in der Ukraine „inakzeptabel“. Der Westen könne nicht zusagen, sich in Mittel- und Osteuropa nicht einzumischen. Er freue sich, wenn Gesellschaften Werte der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Korruptionsbekämpfung teilen wollten. Das östliche Europa sei „nicht der Vorhof der Macht von Präsident Putin“, so Roth. Mit Blick auf den russischen Truppenaufmarsch in der Grenzregion zur Ukraine forderte Roth eine europäische Antwort. Es müsse eine europäische Ostpolitik entwickelt werden.

Versprechen gegenüber Afghanen „uneingeschränkt erfüllen“

Roth beklagte die Unentschlossenheit der EU in der Auseinandersetzung mit dem russischen Präsidenten. Der Streit innerhalb der EU sei das „das größte Geschenk, was wir Präsident Putin und anderen autoritären Regimen bereiten können“, sagte der SPD Politiker. Auch bei der Energieversorgung sei der Eindruck entstanden, „als würde da jeder Seins machen“, erklärte Roth. Er müsse anerkennen, dass auch die Gasleitung Nord Stream 2 nicht ein rein wirtschaftliches Projekt sei. Es habe natürlich auch eine politische Wirkung und hinterlasse bei vielen Partnern in der Europäischen Union Bauchschmerzen.

Mit Blick auf die Afghanistan-Politik hat er die Bundesregierung aufgefordert, die Versprechen der Vorgängerregierung zur Aufnahme von Menschen aus Afghanistan uneingeschränkt zu erfüllen. Roth sagte im Deutschlandfunk Interview der Woche, es gehe um zehntausend Menschen, die es verdient hätten, dass Deutschland zu seinen Zusagen stehe. Er werde deshalb in seiner jetzigen Funktion immer wieder nachhaken und kritisch fragen.

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Karte zeigt die Ostukraine mit dem von Separatisten kontrolliertem Gebiet und der Minsker Sicherheitszone
Ukraine-Russland-Konflikt (dpa-infografik / Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Das Interview im Wortlaut:
Stefan Detjen: Ein neues Amt haben Sie, Sie bleiben einer der profiliertesten Außenpolitiker Ihrer Partei, die alten Themen und Krisen bleiben, beschäftigen Sie weiter. Fangen wir mit der bedrohlichsten Entwicklung dieser Tage an, dem russischen Truppenaufmarsch in der Grenzregion zur Ukraine. Was genau wissen Sie über die Zahlen und die Schlagkraft dieser Heerlager, die da aufgebaut wurden? Wie schlagwillig ist diese Armee, die Putin da zusammenzieht?
Roth: Ich muss mich natürlich auf das verlassen können, was Sicherheitsdienste recherchieren, aber es ist eine bedrohliche Situation. Es geht hier nicht nur um rhetorische Aggression, sondern um militärische Präsenz, unmittelbar an der Grenze zur Ukraine. Wir gehen von rund hunderttausend gefechtsbereiten Soldaten aus. Und deshalb kann ich die großen Sorgen, nicht nur der Ukrainer, sondern auch unserer Partner in Mittelosteuropa, die sich konkret bedroht fühlen, sehr gut nachvollziehen. Und diese Partner müssen auch spüren, wir stehen an ihrer Seite.

„Wir brauchen eine europäische Antwort und eine europäische Ostpolitik“

Detjen: Putin führt ja in der Ukraine seit Jahren Krieg. Er hat auf der Krim bewiesen, dass er keine Hemmungen hat, Teile eines anderen Landes zu annektieren. Was sollte ihn davon abhalten, das jetzt auch im Osten der Ukraine zu tun?

Roth: Ich tue mich etwas schwer mit diesen neuen Begrifflichkeiten, die jetzt auch angewendet werden, also, die politischen Kosten seien zu hoch. Am Ende finde ich diese ökonomische Herangehensweise an ein politisches Problem, wo es um Krieg und um Frieden und um Stabilität geht, etwas zu kurz gedacht. Aber am Ende hilft nur eines: Die Europäische Union – unser Bündnis – muss geschlossen und entschlossen auftreten, mit einer Stimme sprechen, sich nicht spalten lassen. Bislang war das im Umgang mit Russland immer ganz besonders schwierig.

Deswegen meine ich, muss es vor allem auch die Aufgabe Deutschlands sein, die Aufgabe der Bundesregierung sein, den Laden Europäische Union zusammen zu halten. Wir brauchen jetzt eine europäische Antwort und eine europäische Ostpolitik und es kann nicht darum gehen, jetzt allein nationale Wege aufzuzeigen, wie wir diesen Konflikt lösen können. Wir werden ihn nämlich national nicht lösen können. Und dabei müssen alle ein Stück aufeinander zugehen.
Detjen: Wir werden darüber sprechen können, wie weit das mit der Geschlossenheit Europas her ist und welche Rolle auch Deutschland und die neue Bundesregierung dabei spielt. Aber um das Bild zunächst einmal abzurunden, lassen Sie mich noch das Urteil – ich habe es am Anfang erwähnt – nochmal einfügen. Das Kammergericht in Berlin hat in der hinter uns liegenden Woche einen Russen wegen der Ermordung eines Georgiers in einem Berliner Park – dem Kleinen Tiergarten in Berlin –, im Jahr 2019, zu lebenslanger Haft verurteilt. Und in diesem Urteil ist von Staatsterrorismus die Rede. Haben Sie irgendeinen Zweifel daran, dass die Fäden in diesem Verbrechen, ähnlich wie auch 2018, im Fall Skripal, der in England spielte, dass die Fäden in Moskau, im Kreml, zusammenlaufen?

Roth: Wir sind ein demokratischer Rechtsstaat, ein unabhängiges, freies Gericht hat ein Urteil gefällt, und ich habe keinerlei Zweifel daran, dass dieses Urteil auch genau dem entspricht, was wir ja schon seit langem befürchtet haben, dass es eben um einen Auftragsmord, um einen politisch motivierten Auftragsmord geht. Der Vorsitzende Richter hat von Staatsterrorismus gesprochen. Das ist eine schamlose Tat. Deswegen war es auch richtig, dass wir ein klares Signal auch gegenüber unserer eigenen Bevölkerung aussenden: Wir lassen uns das nicht gefallen! Da ist nämlich ein Bruch der friedlichen Koexistenz, das ist ein absolutes No-Go und umso richtiger, dass die Außenministerin dann auch ein diplomatisches Instrument genutzt hat, was vielleicht für Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht tagtäglich mit der Diplomatie beschäftigen, etwas merkwürdig klingen mag, also dass Personen, Diplomaten, russische Diplomaten, zu unerwünschten Personen erklärt werden. Aber das ist ein probates Mittel in der Diplomatie, und es ist natürlich nicht das einzige.

Detjen: Ja, aber wenn Sie von einem Auftragsmord sprechen und der in Russland beauftragt wurde, dann kann es eigentlich keinen Zweifel geben – bei den Machtverhältnissen, die wir dort kennen –, dass der Auftraggeber im Kreml sitzt und Wladimir Putin heißt. Jetzt spricht der Bundeskanzler, Olaf Scholz, von – Zitat –, schlimmen Dingen, die da passiert seien, auf die die Außenministerin richtig
geantwortet habe. Ist es falsch, hier auch eine deutliche, eine deutlichere Antwort des Bundeskanzlers persönlich zu erwarten?

Roth: Ich finde die Antwort des Bundeskanzlers klar und deutlich. Er hat sich zu dem bekannt, was auch ...

Detjen: Aber er hat auf die Antwort der Außenministerin verwiesen.

Roth: Herr Detjen, ich gehe fest davon aus – so war das zumindest auch in den Jahren, in denen ich in der Bundesregierung Verantwortung getragen habe –, dass in diesen zentralen Fragen das Auswärtige Amt und das Bundeskanzleramt und auch der Bundeskanzler persönlich da auch mit einer Stimme sprechen. Es wäre ja verheerend, wenn dem nicht so wäre. Also, das Signal, was dort ausgesendet wurde, ist das gemeinsame Signal der Bundesregierung und da sollten wir jetzt nicht irgendwie den Eindruck erwecken, als gäbe es da eine unterschiedliche Akzentuierung zwischen dem Bundeskanzler einerseits und der Außenministerin andererseits.
Ein Polizist steht mit dem Rücken zur Kamera hinter einem rot-weißen Absperrband. Er blickt auf ein blaues Zelt und auf Ermittler in weißen Schutzanzügen.
Berlin: Beamte der Spurensicherung im Kleinen Tiergarten am 23. August 2019. Dort wurde an diesem Tag ein Georgier erschossen. (Christoph Soeder / dpa )

Das Land Russland nicht mit seiner Regierung gleichsetzen

Detjen: Aber in Moskau ist das möglicherweise anders verstanden worden. Also, was geschehen ist: Die Außenministerin hat den Botschafter einbestellt, zwei Diplomaten wurden ausgewiesen und in Moskau – das ist das, was auch unsere Korrespondenten berichten – scheint man erleichtert zu sein, dass man keinen höheren Preis zahlen musste und zu glauben, dass man wieder zur Tagesordnung übergehen kann.

Roth:
Noch einmal – das mit dem „Preise zahlen“, das finde ich irgendwie auch einer solche schlimmen Tat nicht angemessen. Wir alle wissen auch, dass sich diese Tat einreiht in eine lange Liste von Ereignissen, die völlig inakzeptabel sind. Die Cyberattacken auf den Bundestag, Sie haben die völkerrechtswidrige Annexion der Krim angesprochen, Sie haben die militärischen Aktionen im Osten der Ukraine angesprochen, Russland ist involviert in Eskalationsstrategien beispielsweise auch im westlichen Balkan. Insofern, ist das eine lange Reihe, und da kommt nun noch dieser Mord hinzu. Ich gehöre deshalb ja auch nicht zu denjenigen, die das meinen in irgendeiner Weise verharmlosen zu müssen, und ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Bundesregierung das verharmlost. Aber noch einmal – was jetzt wichtig ist, dass die Europäische Union geschlossen und entschlossen ihr Verhältnis zu Russland entwickelt. Ich hatte deshalb ja auch angeregt, dass sich unserer Ausweisung von Diplomaten durchaus auch andere Partner in der Europäischen Union anschließen könnten. Denn – noch einmal – es handelt sich ja hier nicht allein um einen bilateralen Konflikt. Das ist ein Konflikt zwischen freien rechtsstaatlichen Demokratien in Europa und Russland.
Detjen: Aber eine solche geschlossene Handlung – Ausweisung von Diplomaten aus verschiedenen europäischen Hauptstädten –, das ist ja etwas, das könnte der Bundeskanzler, das hätte der Bundeskanzler fordern, verhandeln können beim EU-Gipfel. Im Fall Skripal ist das damals so gewesen. Ich habe diese Forderung nicht gehört. Die Frage ist auch: Angela Merkel hat einen sehr engen Gesprächsdraht zu Wladimir Putin selbst gehabt, Scholz hat mit dem amerikanischen Präsidenten telefoniert, mit dem chinesischen Präsidenten Xi telefoniert. Wann und wie sollte er mit Putin sprechen? Sollte er warten, bis Putin ihn anruft?

Roth: Also, ich bin mir ziemlich sicher, dass der Bundekanzler meine Ratschläge nicht braucht und selbst um die Bedeutung weiß, die ein solches Gespräch mit Herrn Putin ausmacht. Es tut mir nur - auch das ist eine Diskussion, die etwas zu kurz greift, aus meiner Sicht. Dialogfähigkeit und Dialogbereitschaft sind ja essenziell, gerade in diesen Krisen- und Konfliktzeiten, aber es reicht eben nicht, nur verlässliche Gesprächskanäle offen zu halten zwischen den jeweiligen Verantwortlichen in der Regierung. Ich erwarte auch gerade in diesen Krisenzeiten, dass wir Signale der Solidarität und der Unterstützung gegenüber der Zivilgesellschaft aussenden, die ja seit Jahren in Russland massiven Repressionen ausgesetzt ist. Und wir sollten den Fehler nicht machen, ein Land – in dem Falle Russland – gleichzusetzen mit einem Präsidenten und mit einer Regierung.

Detjen: Herr Roth, wir sprechen über den neuen Bundeskanzler. Olaf Scholz hat seine Politik in diesen Tagen ausdrücklich in die Tradition der Ostpolitik Willy Brandts gesellt. Kann eine Politik der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Leitlinie für die heutige Politik in einer ganz anderen Zeit, in einer anderen Welt und anderen Weltordnung sein?

Roth: Viele – zu denen sicherlich auch ich gehöre – sind zu Recht stolz auf die Politik „Wandel durch Annäherung“, die unverrückbar mit dem Namen von Willy Brandt verknüpft ist. Damals ist etwas in Bewegung geraten, was ja schlussendlich dann auch nach mehreren Jahrzehnten auch zum Zusammenbruch des Kommunismus, der Diktatur geführt hat und zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas. Dafür kann man gar nicht dankbar genug sein. Aber ich möchte gerne Ihren Ball, Herr Detjen, aufgreifen. Natürlich ist die Weltlage heute eine komplett andere und deswegen sprechen wir ja auch nicht mehr über eine deutsche, sondern über eine europäische Ostpolitik.

Während in den 60er, 70er, bis weit in die 80er Jahren der Schlüssel zur Lösung fast aller Probleme ausschließlich in Moskau lag, haben wir es heute mit freuen souveränen Staaten in Mittelosteuropa zu tun. Einige gehören zur Europäischen Union, andere wollen zur Europäischen Union gehören und wir müssen mit denen einen direkten Draht aufbauen. Und die Ukraine, beispielsweise, ist ein souveräner Staat, und ich freue mich darüber, wenn Bürgerinnen und Bürger dieses Landes oder auch Georgiens oder auch Moldaus, ihren Blick in die Europäische Union richten, weil sie sich nach unseren Werten, nach Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, effektiver Korruptionsbekämpfung sehnen.

„Das östliche Europa ist nicht der Vorhof der Macht von Präsident Putin“

Detjen: Aber gerade deswegen ist ja die Frage, ob der Bundeskanzler damit, mit diesem Verweis auf Willy Brandts Ostpolitik, nicht ein falsches, missverständliches Signal gesendet hat. Es gab Kritik daran, nicht nur von den Unionsparteien. Gwendolyn Sasse, eine der profiliertesten Osteuropa-Wissenschaftlerinnen und Expertinnen hier, sagt, der Verweis auf Brandt sei – Zitat –,Sehr unglücklich‘, er führe eben in Mittel- und Osteuropa zu Sorgen, weil man den Eindruck bekomme, die neue Regierung in Berlin orientiere sich über die Köpfe in Warschau, in Budapest hinweg, direkt nach Moskau.
Roth: Also, zum einen, habe ich mich mit Olaf Scholz, als er noch nicht Bundeskanzler war, darüber mehrfach ausgetauscht, weil es ja auch gerade in der SPD ein sehr sensibles Thema ist. Und ich habe überhaupt gar keinen Zweifel daran, dass Bundeskanzler Olaf Scholz diese sogenannte „Ostpolitik“ ambitioniert und mutig gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Partnern weiterentwickeln wird. Und ich setze auf zwei Akzente.

Der erste Akzent ist, heute geht es vor allem auch um Zivilgesellschaft, die muss einbezogen werden. Die zweite Weiterentwicklung bezieht sich auf die Souveränität und Freiheit der Staaten, die vorher zur Einflusssphären der Sowjetunion gehört haben und unter deren Kuratel standen. Das heißt, wenn wir eine neue europäische Ostpolitik entwickeln wollen, dann müssen wir die Sorgen, Ängste, historischen Perzeptionen in den baltischen Staaten, in Polen angemessen mit einbeziehen. Und dafür werbe ich. Und ich habe den Eindruck, dass das genau auch dem Entspricht, was Bundeskanzler Olaf Scholz vorgeschlagen hat.

Detjen: Ja, genau, im Umgang mit den mittel- und osteuropäischen Staaten kommt es jetzt zum Schwur. Kommen wir nochmal auf die Ukraine zu sprechen: Wladimir Putin hat jetzt Ende der Woche einen Vorschlag an den Westen gerichtet, nämlich, der Westen solle einen Verzicht auf eine weitere NATO-Osterweiterung, also konkret, auf einen Beitritt der Ukraine aussprechen. Kann das Bündnis des Westens – die NATO – ein solches Versprechen abgeben, ohne die eigenen Grundsätze, nämlich das Selbstbestimmungsrecht der Staaten und Nationen, aufzugeben?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim EU-Gipfel im Gebäude des Europäischen Rates.
Roth hat keinen Zweifel daran, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine „Ostpolitik ambitioniert weiterentwickelt" (dpa/Kenzo Tribouillard)
Roth: Also erst mal freue ich mich, dass wir jetzt offenkundig wieder in einer Phase sind, wo Vorschläge gemacht werden, über die man reden kann. Aber dieser Vorschlag ist natürlich inakzeptabel, das geht nicht! Sie haben es ja angesprochen. Noch einmal – Mittelosteuropa, das östliche Europa ist doch nicht der Vorhof der Macht von Präsident Putin, wo wir einfach erklären können, wir mischen uns da nicht weiter ein! Noch einmal – es ist die freie Entscheidung dieser Gesellschaften, Werte mit uns zu teilen, und ich freue mich darüber, wenn Bürgerinnen und Bürger, wenn politische Verantwortliche sagen: ‚Ja, wir wollen auch das, was ihr euren Bürgerinnen und Bürgern garantiert: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, freie, unabhängige Gerichte, effektive Korruptionsbekämpfung, eine funktionierende soziale Marktwirtschaft, Wohlstand für Viele‘. Das ist doch genau das, was Europa im Kern ausmacht!

Und es gibt ein ganz großes Missverständnis, Herr Detjen, die Staaten und die Gesellschaften, die diese Werte teilen wollen und die sich annähern wollen an das, was die Europäische Union im Kern ausmacht, denen verlangen wir doch nicht ab, dass sie ihre wirtschaftlichen, historischen, kulturellen Beziehungen zu Russland kappen – das erwartet man ja auch von EU-Mitgliedsstaaten nicht.

„Ein zentrales gemeinsames Interesse ist Stabilität“

Detjen: Die Frage ist ja dann: wie will man mit Putin in produktive Gespräche kommen? Es geht jetzt darum, dass man das Normandie-Format – also unter Einbeziehung von Frankreich, Russland, Ukraine, Deutschland – wiederbeleben will. Also, welche Lösungen, welche Vereinbarungen kann Europa Putin in dieser Situation machen, um ihn zu einem Abzug an der östlichen Grenze zur Ukraine zu bewegen?

Roth: Ich bin Ihnen erstmal dankbar, dass Sie nochmal auf das Normandie-Format hingewiesen haben, denn es zeigt doch, wozu Diplomatie und Politik fähig ist. Aber dann müssen sich natürlich alle – insbesondere auch Russland – an das halten, was man verabredet hat in diesem Normandie-Format. Und Minsk ist eben eine entsprechende Blaupause für eine weitere Befriedung und für eine perspektivische Lösung auch dieses militärischen Konfliktes. Das andere ist sicherlich auch, dass wir gemeinsame Interessen definieren müssen – europäische und russische. Und ich glaube, ein zentrales gemeinsames Interesse ist Stabilität.

Auch Russland, auch Putin muss doch Interesse daran haben, dass die Länder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft stabil sind. Dass es dort keinen Bürgerkrieg, dass es dort keine wirtschaftlichen Konflikte gibt, dass dort Regierungen handlungsfähig sind, dass man Partner hat, mit denen man auch reden kann. Das ist in unserem, das ist in russischem Interesse. Aber was eben nicht geht ist, dass diese Gesellschaften, diese Regierungen – demokratisch gewählt – von uns gesagt bekommen: ‚Bis hierhin und nicht weiter, wir wollen euch nicht, ihr habt mit uns nichts zu tun, weil wir uns in eure Verhältnisse nicht einmischen wollen, ihr gehört zur Einflusssphäre des russischen Präsidenten‘. Und das akzeptiere ich nicht.
Detjen: Sie sprechen von gemeinsamen Interessen, Stabilität – klar –, aber es hapert ja im Moment auch in Europa daran, gemeinsame Interessen zu definieren, wenn es darum geht, gemeinsame Reaktionen im Sinne von Sanktionen in den Raum zu stellen. Beim EU-Gipfel wussten wir, die EU-Kommission arbeitet an einer Sanktionsliste, hat da offenbar irgendwas in der Schublade, ist aber nicht in der Lage und nicht bereit, das vor den Staats- und Regierungschefs auszubreiten, weil man Angst haben muss, dass die sich dann nicht einigen können, dass da die Zentrifugalkräfte in dieser Runde dann dazu führen, dass eine solche Sanktionsliste wieder auseinanderfliegt.

Roth: Ja, und da sprechen wir über des Pudels Kern. Die Unentschlossenheit in der Europäischen Union, der Streit, das ist das größte Geschenk, was wir Präsident Putin und anderen autoritären Regimen bereiten können, dass wir einfach zerstritten sind. Denn diese Zerstrittenheit nutzt man ja aus, schamlos, strategisch.

Nord Stream 2 "kein rein wirtschaftliches Projekt"

Detjen: Da trägt die Bundesregierung, da trägt Deutschland doch auch dazu bei. Jetzt müssen wir auch über Nord Stream 2 sprechen, das ist einer der zentralen Streite, in dieser Frage, innerhalb Europas – und Deutschland steht da ziemlich alleine.

Roth: Deutschland muss sich, auch die Bundesregierung muss sich besonders anstrengen, auch als größtes Land, das am stärksten vom vereinten Europa profitiert, dass der Laden zusammenbleibt. Aber – Sie haben ja eben auch den Finger in die Wunde gelegt – es gibt eine Reihe von Konflikten in der Europäischen Union, die wir klären müssen. Wir stimmen nicht mehr darin überein, was uns im Kern zu Europäerinnen und Europäern macht – das ist nämlich nicht der Binnenmarkt, das sind gemeinsame Werte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Da gibt es Konflikte, nicht nur mit der ungarischen oder mit der polnischen Regierung, auch mit der slowenischen Regierung, da ist manches in Frage gestellt worden. Das müssen wir heilen, da müssen wir wieder zusammenkommen. Das ist ein schmerzhafter, kontroverser Konflikt.

Bei der Energieversorgung ist auch der Eindruck entstanden, als würde da jeder Seins machen. Saubere, sichere, bezahlbare Energie liegt im Interesse aller Partnerinnen und Partner in der Europäischen Union. Und ich muss anerkennen – das haben Sie gesagt, Herr Detjen –, dass eben Nord Stream 2 nicht ein rein wirtschaftliches Projekt ist, auch wenn es von Dutzenden europäischen Unternehmen aus zwölf Mitgliedssaaten der Europäischen Union betragen wird, es hat natürlich auch eine politische Wirkung, und es ist ein Thema, was bei vielen Partnern in der Europäischen Union Bauchschmerzen hinterlässt.

Detjen: Aber an der Stelle widersprechen Sie jetzt dem Bundeskanzler, der in Brüssel nochmal ganz deutlich gesagt hat, Nord Stream 2, das ist eine ganz und gar unpolitische Entscheidung, hat er gesagt. Also, die deutsche Bundesregierung scheint die einzige Regierung der Welt zu sein, die das für eine unpolitische Entscheidung hält.

Roth: Nein, da muss ich ihm überhaupt nicht widersprechen. Ich habe ihn so nicht verstanden. Er hat das auf das Genehmigungsverfahren der Bundesnetzagentur bezogen. Das ist erstmal eine Behörde, die trifft eine Entscheidung und die trifft die Entscheidung sicherlich nicht nach den derzeitigen politischen Entwicklungen auch an der russisch-ukrainischen Grenze. Zumal wir ja uns auch in den vergangenen Jahren sehr darum bemüht haben, auch die Ängste der Ukrainer insofern ernst zu nehmen, dass wir auch in Verabredung mit Putin klargemacht haben, wenn denn durch Nord Stream 2, durch diese Pipeline, Gas geführt wird in Richtung Deutschland und in Richtung Europa, dann darf das nicht dazu führen, dass die Ukraine der leidtragende Staat ist, wobei dann über die Ukraine kein Gas mehr nach Europa kommt.

Und insofern müssen wir unserer Verantwortung da gerecht werden, da bin ich bei Ihnen. Und noch einmal – wir brauchen Gas, gerade auch um die Klimaschutzziele zu erreichen, als Brückentechnologie. Wir müssen auf Diversifizierung unserer Energieversorgung setzen. Aber das ist doch kein deutsches Thema, das ist ein europäisches Thema, zumal sich die Europäische Union zu den ambitioniertesten Klimaschutzzielen bekannt hat. Und da würde ich gerne den Laden wieder zusammenbringen. Und da haben Sie Recht, ist derzeit Nord Stream 2 ein hochemotionales Thema, aber schon seit vielen, vielen Jahren. Und ich bleibe dabei, es ist natürlich ein Thema, worüber wir nicht nur betriebswirtschaftlich oder volkswirtschaftlich, sondern am Ende dann auch, wenn die Genehmigung vorliegt, dann auch politisch zu reden haben. Aber Bundeskanzler Scholz hat auch darauf hingewiesen, dass es ja noch mindestens ein halbes, wenn nicht ein dreiviertel Jahr dauert – das ist zumindest die Ankündigung der Bundesnetzagentur –, bis man überhaupt mit einer möglichen Genehmigung rechnen kann. Und dann stehen natürlich auch noch die europäischen Fragen aus.

Versprechen gegenüber Afghanen „uneingeschränkt erfüllen“

Detjen: Herr Roth, gegen Ende dieses Interviews würde ich gerne noch ein anderes Thema ansprechen, dass sich auf ihr vorheriges Amt – Staatsminister im Auswärtigen Amt, bei Heiko Maas – bezieht. Das Ende dieser Regierungszeit, auch Ihrer Zeit im Auswärtigen Amt war überschattet vom Rückzug der NATO und der deutschen Truppen aus Afghanistan. Die Bundesregierung, Deutschland, hat damals versprochen, nicht nur die Ortskräfte, sondern viele Menschenrechtsaktivisten, gefährdete Bürgerrechtler, Künstler, Intellektuelle aus Afghanistan rauszuholen. Es wurden auch bei Ihnen im Auswärtigen Amt lange Listen angefertigt. Aber die meisten derer, die da draufstehen, sind immer noch in Afghanistan, kommen nicht raus. Warum stockt das so?

Roth: Ich war zwar der Staatsminister für Europa, aber dennoch habe ich auch meinen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten versucht, dass man Menschen konkret hilft. Und das gehört für mich zu den dunkelsten Momenten in meiner achtjährigen Arbeit im Auswärtigen Amt, dass ich Menschen, um die ich mich fast täglich gekümmert habe, mit Angehörigen in Deutschland, dass sie immer noch nicht in Deutschland sicher sind, alleinstehende junge Frauen, um die ich mich besonders gekümmert habe. Andere wiederum haben es geschafft, aber die haben es nicht geschafft und das beschwert mich. Und ich werde erst dann wieder halbwegs ruhig schlafen können in dieser Frage, wenn ich weiß, die sind hier.
Detjen: Woran liegt das? Es sind ja nach wie vor zivilgesellschaftliche Organisationen – Luftbrücke Kabul – unterwegs und sagen: ‘Wir schaffen es‘ –warum schafft es die Bundesregierung nicht?

Roth: Also, erst einmal reden wir über zehntausend Menschen – es sind ja auch die Angehörigen. Es gibt derzeit noch keinen geregelten Flugverkehr zwischen Kabul und anderen Städten, und das heißt, wir sind auch nach wie vor noch auf den lebensgefährlichen Landweg angewiesen. Da brauchen wir auch eine gute Kooperationsbereitschaft der Staaten, die unmittelbar an Afghanistan angrenzen, um die Menschen dann rauszuholen. Es ist also nach wie vor ein logistisches Mammutprojekt. Und das hätte man von Anfang an auch ehrlicher und offener, glaube ich, kommunizieren müssen. Man braucht genügend Flugbewegung, man braucht genügend Busse, um dann die Menschen auch rauszuholen und man braucht die Bereitschaft der Partner in der Nachbarschaft, sonst schaffen wir das nicht.

Ich erhoffe mir auch von unserem Gespräch heute, dass wir noch einmal ein klares Signal setzen, das Thema darf jetzt nicht irgendwo auf unserer Prioritätenliste nach hinten rutschen. Und ich hoffe natürlich auch, dass die Zusammenarbeit jetzt auch zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesinnenminister etwas einfach sein wird als in den vergangenen Monaten, als wir ein sozialdemokratisch geführtes Haus, nämlich das Auswärtige Amt hatten und das CSU-geführte Haus des Bundesinnenministeriums.

Detjen: Das ist ja was, was auch die Hilfsorganisationen immer wieder gesagt haben. Die haben gesagt: Da wird blockiert, im Innenministerium.

Roth: Also, wir haben sicherlich im Auswärtigen Amt nicht blockiert. Und ich erwarte auch von der neuen Bundesregierung, dass sie dieses Versprechen, was die alte, die ehemalige Regierung abgegeben hat, jetzt uneingeschränkt erfüllt. Das schulden wir diesen Menschen dort. Und deswegen werde ich auch ganz persönlich immer wieder auch nachhaken, kritisch nachfragen – jetzt als Abgeordneter, nicht mehr als Europastaatsminister –, dass diesen konkreten Zusagen auch Taten folgen. Es geht um Menschenleben, und das sind zehntausend, und die haben es verdient, dass Deutschland zu seinen Zusagen steht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.