
Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) ist berühmt als Philosoph des Selbstbewusstseins und der Freiheitsidee. Erst spätere Ideologen des Nationalismus und des Nationalsozialismus haben den mutigen Aufklärer des 18. Jahrhunderts zu einem der ihren und zum Antisemiten stempeln wollen.
Dabei hat Fichte zeitlebens gegen jede Form der politischen Autokratie und des wirtschaftlichen Imperialismus gekämpft. Moderne Despoten wie Trump oder Putin wären seine Erzfeinde gewesen. Es gilt, den politischen Intellektuellen Fichte im virtuellen Spannungsfeld heutiger Machtdeformation wiederzuentdecken.
Harro Zimmermann ist Literaturwissenschaftler und Autor. Er ist mit Büchern zu Friedrich Schlegel, Friedrich Gentz, Friedrich Sieburg, Carl Ludwig Sand und Günter Grass hervorgetreten. Er war Kulturredakteur bei Radio Bremen und Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bremen, ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und Mitherausgeber der Hamburger Siegfried Lenz-Werkausgabe. Im Herbst 2025 erscheint sein Buch: "Fichte. Bürger einer freien Welt".
Berühmt ist er als einer der Gründungsväter des deutschen Idealismus, als philosophischer Impulsgeber und Widerpart von Klassik und Romantik gleichermaßen. Doch heute zeigt sich, wie viele Rufschäden diesem Stern am Geistesfirmament beigebracht worden sind, und wie willkürlich man ihn zwei Jahrhunderte lang unter Verdacht gestellt hat - als Jakobiner und Revolutionsprediger, als Atheisten und christlichen Heilsdenker, als Chauvinisten und Weltbürger, als Liberalen und Antisemiten, ja als Vordenker von Sozialismus und Zionismus und als Urvater des Nationalsozialismus, nicht zuletzt als Repräsentanten des modernen Freiheitsgedankens und einer ‚starken Subjektivität‘. All dies in einer Person? Johann Gottlieb Fichte ist eine Rätselfigur der Geistesgeschichte.
Der 1762 geborene Sachse begann als umstrittener Sympathisant der Französischen Revolution, als Aufklärer und Kämpfer für politische und geistige Freiheit im deutschen Spätabsolutismus. Und seine Nachgeschichte reichte bis zum absoluten Negativpunkt unter den deutschen Nazis, die ihn zum Idol der braunen Autokratie und zum Antisemiten stempelten. Ein größerer Widerspruch in der Wahrnehmung des Philosophen ist kaum denkbar.
Den verführerischen Begriff ‚Deutschheit‘ hatte Fichte zwar im 18. Jahrhundert geprägt und ihn noch gleichgesetzt mit dem Geist der Vernunft und eines kosmopolitischen Staatsbürgertums, mit einem deutschen Kulturuniversalismus im Sinne der alten humanistischen Wettbewerbsidee der Nationen. Doch Fichtes publizistische Kämpfe zielten auf ein friedlich geeintes Europa, auf eine globale Völkerkultur der Freiheit und Bildung. Die Machtstaaten, so seine Hoffnung, würden sich nach und nach von selbst auflösen und in einer christlichen Gesellschaftsfamilie der ‚Freiheit und schönen Harmonie‘ aufgehen.
Erst die deutschen Chauvinisten, die völkischen Schreier des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und später die Nazi-Imperialisten sind es gewesen, die diesen Traum begraben wollten, um sich einen fanatischen Blut- und Rasse-Fichte zurechtzumodeln.
Erst im Zusammenhang mit der großartigen Edition seines Gesamtwerkes in den sechziger Jahren begann man zu erkennen, wie weitläufig und differenziert die Wirkungsmacht des Philosophen in der Geschichte dieses Landes tatsächlich gewesen ist.
Im Einzelnen reicht die Spannbreite der liberalen Fichte-Rezeption vom antinapoleonischen Kampf der deutschen Burschenschafter im Namen von Freiheit und Einheit der Nation, über den politischen Emanzipationsstreit unter Linkshegelianern, Jungdeutschen und Vormärzlern bis über die Revolutionsära von 1848 hinaus, sie setzt sich fort zur frühen sozialdemokratischen und jüdischen Fichte-Verehrung eines Ferdinand Lassalle bis zu den Anfängen des Zionismus und zur sozialistischen und anarchistischen Denktradition der Deutschen.
Über viele Jahrzehnte stand in den verschiedensten politischen und kulturellen Gruppierungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein Fichte-Bild zur Debatte, das von seinem aufgeklärten Patriotismus und seinem menschenrechtlichen Deutschtum, von einem kosmopolitischen Freiheits- und Gleichheitsversprechen geprägt war. Es ist bezeichnend, dass die deutschen Juden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf keinen Philosophen mehr Emanzipationshoffnungen projiziert hatten als auf den Redner an die deutsche Nation und den Vordenker einer Selbstschöpfung des menschenrechtlich befreiten ‚Ich‘. Wer also war dieser Fichte? Und was können wir heute von ihm lernen?
Wer den Philosophen Fichte etwa in der Epoche von Französischer Revolution und napoleonischem Imperialismus aufsucht, begibt sich in eine Zeit tiefgreifender politisch-militärischer Krisen und sozialer Umbrüche. Kommt Ihnen bekannt vor? Tatsächlich, die Ära von 1789 und die Gegenwart des Jahres 2025, die napoleonische Machtanmaßung einer europäischen Universalmonarchie und die imperialistischen Angriffe eines Wladimir Putin oder eines Donald Trump auf die Ordnungswelt der westlichen Demokratien sind insofern vergleichbar, als die Menschen in Selbstwahrnehmung und Weltorientierung damals wie heute zutiefst erschüttert worden sind. Immer stärker verschlug und verschlägt es den Zeitgenossen die Sprache angesichts eines fundamentalen geopolitischen Zeitbruchs, den man in seiner Radikalität nie für möglich gehalten hätte, und der die Gegenwart in eine ungeklärte Zukunft hinauszukatapultieren scheint.
Schon im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts hatte die Politik den Aggregatzustand von despotischer Alleinherrschaft und entzügelter Massenmanipulation angenommen. Das Zerbrechen des alten diplomatischen Regelsystems im Umgang der Kontinentalmächte miteinander, die Auflösung traditionaler Macht-, Verwaltungs- und Handelsstrukturen, sowie die Pervertierung der überkommenen Friedens- und Bildungskultur zum öffentlichen Kampffeld antagonistischer Interessen und ‚Parteisüchte‘ - bildete all das nicht schon die historische Blaupause für weitere Machtentartungen in späterer Zeit? Laufen die westlichen Demokratien des 21. Jahrhunderts vielleicht auch deshalb Gefahr, einem neuartigen, demokratisch entkoppelten und global agierenden, techno-politischen Herrschaftsmonstrum zu erliegen? Im Jahre 1799 liest man in der Zeitschrift Historisches Journal die folgenden Zeilen:
„Seit zehn Jahren sind die Gemüter aller derer, denen das Schauspiel der Weltbegebenheiten nicht gleichgültig ist, unter einem unerhörten Wechsel außerordentlicher Erscheinungen und erschütternder Katastrophen nicht Schritt für Schritt geführt, sondern in betäubender Schnelle fortgerissen worden. […] Noch nie haben sich in einem Zeitraum von zehn Jahren so viele, so große und so verwickelte Tatsachen, eine so rasche Folge der außerordentlichsten Veränderungen, eine so rastlose Bewegung und so gehäufte Umwandlungen zusammengedrängt.“
In den Augen Fichtes lautete das zentrale historische Stichwort freilich nicht Donald Trump oder Putin, sondern Napoleon Bonaparte.
Für den deutschen Philosophen, aufgewachsen in der friedvollen Seelenkultur des Pietismus, war dieser Herrscher über alle Franzosen und Erbverwalter der Revolution zunächst eine Art Lichtgestalt, der man seine liberalen Aspirationen nur zu gern anvertrauen wollte. Erst mit der zunehmenden Brutalisierung des französischen Imperialismus wuchs seine Kritik an der monströsen Herrscherfigur. Für Fichte wird damals klar, dass der gekrönte Despot, der Antichrist und Halbgott, die Nation der Franzosen um ihre Freiheit betrogen hat. Auf keinen Fall will er als Deutscher jemals seinen Nacken unter das Joch eines so skrupellosen Erbmonarchisten beugen, denn der sei zum Verräter der Revolutionsverheißung und zum puren Unterdrücker geworden, Napoleon stellt für Fichte fortan das Relikt einer vorzivilisatorischen Epoche der Menschheit dar.
Das Fatale an diesem Unzeitgemäßen ist nur, dass in seinem erratischen Nimbus nicht nur die zerstörerische Faszination, sondern auch die realen Erfolge dieses Autokraten begründet liegen. Kraft der öffentlichen Performanz seiner Persönlichkeit strahlt Napoleon - und dagegen wirkt selbst Donald Trump wie ein blasses Abziehbild - eine eigentümliche Aura von negativer Faszination, ja den Mythos eines entzivilisierten und gerade deshalb weltbezwingenden Demiurgen aus. Nur aus diesem Grund vermag er bei den Franzosen und in ganz Europa so viele Unterwerfungs- und Erlösungssehnsüchte hervorzurufen. Doch Fichte kann die Nation der Franzosen nicht aus ihrer historischen Schuld und Verantwortung entlassen:
„Daß ihr aus einer Republik euch in die allerärgste Despotie begebt, ist Verbrechen eurer Feigheit an der Menschheit.“
Fichte erkennt an der Herrscherpersönlichkeit eines Napoleon die fatale Signatur allen Nationalheldentums - die ungebändigte Kraftgenialität des ‚uomo virtuoso‘ im Sinne Machiavellis. Dies vor allem in Hinsicht auf die schwachen, oft zaudernden Machtfiguren in den europäischen Kriegskoalitionen gegen den Kaiser der Franzosen. Warum versagen die Gegner Napoleons zumeist so jämmerlich?
Der Autokrat hat schon bald begriffen, dass die Franzosen eine besonders manipulierbare Masse darstellen. Ohne Frage hätte Napoleon aufgrund seiner imperialen Genialität ein Wohltäter und Befreier der Menschheit werden können, glaubt Fichte. Doch mit fataler Notwendigkeit habe genau das Gegenteil eintreten müssen. Umso angestrengter denkt der Philosoph nach über das politische, militärische und massenpsychologische Erfolgsgeheimnis eines Machtmenschen, der sich im Gegensatz zur Nobilitas der übrigen europäischen Dynasten mit absoluter Willenskraft von unten herauf an die Spitze seiner Nation hat kämpfen müssen.
Einer wie alle, keiner wie er - ein gleichsam zeitloses Rätsel tut sich hier auf.
„Es handelt sich um eine Lüge, die immerfort unterstützt werden muss. Das Andenken der Revolution womöglich ausrotten. Die Welt beständig in Schrecken, Spannung und Erstaunen zu erhalten. Recht viele Begebenheiten schnell in die Zeit zu drängen, damit ein Altertum zu entstehen scheint; besonders aber seine Nation im Taumel der Bewunderung zu erhalten. Alles eben so neu zu machen, wie sich selbst neue Titel.“
Napoleon Bonaparte - am Ende verkörpert er für Fichte ein gleichsam künstlich inszeniertes, jedoch ebenso dämonisches wie heilloses Heldensyndrom. Politik wird um seinetwillen in einen manipulativen Symbolraum versetzt. Ziel ist die propagandistische Absicherung des strahlenden Siegernimbus und der Deutungsgewinn im Kampf um den Wahrheitsgehalt politischer Leitformeln und Geschehensabläufe, und sei es um den Preis jener ominösen ‚alternativen Fakten‘. Es soll das ikonische Erscheinen des Herrschers vor dem Volk für sich genommen schon den Bildernachweis seiner historischen Kraft und Überlegenheit führen. Die Kreation von eigenen und die Verfolgung von ‚fake news‘ der Feinde und Gegenspieler, den Ungeist des Verdachts und der Gesinnungskontrolle à la Trump oder Putin, hat es schon unter der Fuchtel eines Napoleon Bonaparte gegeben. Es soll allein die ‚Überrealität‘ der sich selbst definierenden Machtherrlichkeit gelten.
Dennoch, in der Grande Nation der Franzosen war ja die absolute Herrschaft schon einmal vom Monarchen auf die Souveränität des geeinten Volkes übergegangen. Von diesem ‚demokratischen‘, ja im Kern revolutionären Urereignis kann Fichte den Blick nie mehr ganz abwenden. Auch wenn aus der historischen Chance von Demokratie, Republikanismus und Freiheit ständig wieder die Gefahr ihrer inneren Auflösung erwachsen kann. So spiegelt die Figur des bösartigen Glücksspielers und Zerstörers Bonaparte für Fichte auch den relativen Verfallszustand einer politischen Kultur, die zur Erschlaffung von Humanität, zu Selbstgefälligkeit und Friedensseligkeit der Menschen geführt habe, letztlich zu ausuferndem Materialismus und wachsender Geistesverarmung:
„Die Zeit-Philosophie war in der letzten Hälfte des abgelaufenen Jahrhunderts gar flach, kränklich, und armselig geworden, darbietend als ihr höchstes Gut eine gewisse Humanität und Liberalität und Popularität, flehend, dass man nur gut sein möge, und dann auch alles gut sein lassen, überall empfehlend die goldene Mittelstraße, d.h. die Verschmelzung aller Gegensätze zu einem dumpfen Chaos, Feind jedes Ernstes, jeder Konsequenz, jedes Enthusiasmus, jedes großen Gedankens und Entschlusses, […] ganz besonders aber verliebt in den ewigen Frieden. Sie hat ihren entnervenden Einfluss recht merklich auch in die Kabinette verbreitet.“
Als hätte Fichte hier über die impulsarmen und reformverstockten Merkel-Jahre mit ihrer Geisteshaltung eines selbstgenügsamen Moralismus im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts reden wollen. Zu seiner Zeit erlebt der Philosoph die Ära der Französischen Revolution als eine Erschöpfungskrise und als schweren Traditionsverlust, er sieht sich umgeben von einer sinnverlorenen, sich radikal verändernden Wirklichkeit. Immer stärker scheinen die Menschen in ein zerberstendes Selbst- und Zeitbewusstsein verstrickt zu werden. Es ist Johann Gottlieb Fichte, der sich vor diesem Erfahrungshorizont herausgefordert sieht, die Menschen mit der ‚medicina mentis‘ seiner Philosophie zu heilen und ihnen Identitätsfindung und Daseinsmut zu schenken. Das Individuum ist in die Pflicht genommen, dem Ansturm der historischen Kontingenz kraft seines autonomen Vernunftbewusstseins zu widerstehen.
„Aufklärung ist ein ewig neu, und frisch zu produzierender Gedanke, der unter jeder andern Bedingung der Zeit und der Mittheilung sich anders ausspricht.“
Gegen die Machtanmaßung des Spätfeudalismus sollen jene Selbstermächtigungspotenziale des Ich in Bewegung geraten, die dem Gefühls- und Vernunftwesen Mensch in seiner ursprünglichen Natur zu eigen sind.
Der Gelehrte zeigt sich immer wieder als couragierter, ja radikal agierender Intellektueller, der seinen Professorenstatus aufs Spiel setzt um der Emanzipation der deutschen Nation willen. Als Erzieher sei jeder Universitätslehrer der Gesellschaft und nicht dem Staat verpflichtet. Er habe sich zu den Besten seiner Zeit emporzuarbeiten und seine Unabhängigkeit gegenüber jeder Art von Heteronomie zu behaupten.
Spätestens im so genannten ‚Atheismusstreit‘, der 1799 zu Fichtes Vertreibung aus dem Jenaer Lehramt führt, wird klar, wie scharf der politische Professor die ‚private‘ Publizität als Organon freier Rechtssubjekte von der staatlichen Gewaltsphäre abhebt. Der Staat räsoniert nie, er dekretiert, heißt es bei ihm.
Für Fichte sind Macht und Moral zwei antagonistische Daseinssphären, sie bedürfen der diskursiven Aushandlung in Augenhöhe zwischen Bürgeranspruch und Herrschaftsräson:
„Mein System ist das erste System der Freiheit: wie jene Nation [Frankreich] von den äußern Ketten den Menschen losreißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sich, des äußern Einflusses los. […] Wer auf Autorität hin handelt, handelt notwendig gewissenlos. […] Jeder, der sich für einen Herrn anderer hält, ist selbst ein Sklav. […] Niemand ist unser Herr, und niemand kann es werden. […] Ich hätte ein allgewaltiger Mann in Jena werden können, ohne Zweifel - wenn die Lage nicht leider so gekommen wäre, dass ich ein niederträchtiger Höfling und Speichellecker […] hätte werden müssen, um es zu bleiben, […] das ist nun einmal nicht in meiner Natur und wird nie hineinkommen.
Der Philosophieprofessor Fichte wird um 1800 immer prononcierter zum politischen, ja zum ‚populär‘ auftretenden Intellektuellen. Oft und in großer Freimütigkeit äußert er sich vor hochrangigem Publikum aus Politik und Wirtschaft zu aktuellen Streitfragen. So etwa in seinem Buch über den ‚geschlossenen Handelsstaat‘. Aus der Perspektive eines als strenges Vernunftregiment organisierten Gemeinwesens kritisiert er das Freihandelssystem seiner Zeit, das in Wahrheit niemals wirklich liberal, sondern vom merkantilen Egoismus der Nationen, von anarchischen Zuständen und permanenten Kriegen geprägt sei:
„Die Kapitalisten erfreut mehr die List des Erstrebens, als die Sicherheit des Besitzes. Diese sind es, die unablässig nach Freiheit rufen, nach Freiheit des Handels und Erwerbs, Freiheit von Aufsicht der Polizei, Freiheit von aller Ordnung und Sitte. Ihnen erscheint alles, was strenge Regelmäßigkeit und einen festgeordneten, durchaus gleichförmigen Gang der Dinge beabsichtigt, als eine Beeinträchtigung ihrer natürlichen Freiheit.“
Prägnanter lässt sich die innere Logik des Machthabers als „Dealmaker“ wohl nicht fassen. Das liberale Freihandelssystem kann für Fichte nur funktionieren, wenn es den Regeln eines internationalen Ordnungssystems folgt, für Fichte waren es in der Vergangenheit zumeist die ökonomischen Beziehungen, die zu Konfrontationen und Kriegen unter den Nationen geführt haben. Ein Naturzustand, ein Wildwuchs nackter Wirtschaftsegoismen und Kapitalgier sei für eine aufgeklärte und friedensfähige Völkerfamilie aber nicht nur schädlich, sondern ihrer Nationalkulturen zutiefst unwürdig. Wer wie Fichte die Heraufkunft eines „Neu-Europäischen National‑Charakters“ erhofft, weil alle Völker des Kontinents ihrem Ursprung und Wesen nach nur ein Volk seien, der darf den Egoismus des eigenen Landes nicht über den vernünftig organisierten Gemeinnutz aller stellen. Fichte hat einst große Stücke gehalten auf die Verfassungsordnung des Freiheits- und Republikprojekts Amerika, ein Fall wie Donald Trump wäre dem Aufklärer wohl vorgekommen wie ein aus der Zeit gefallener Machtexzess, der sich jenseits aller politischen Legitimität zu einer dekadenten ‚Zwingherrschaft‘ ohne Zukunftsperspektive auszuwachsen droht.
Derartig anachronistische Macht- und Finanzkonglomerate könnten letztlich nur mit der Kraft einer wirklichen ‚Kultur der Freiheit‘ verhindert werden, die weit entfernt ist von der Deregulierungswut der Kettensägenfantasten unserer Tage.
Fichte kritisiert genauso dezidiert jede Form von Trägheit, Feigheit und Falschheit der Gesellschaft gegenüber dem Despotismus der Meinungen und des großen Geldes:
„Diese verächtlichen Eigenschaften gehören in den Zusammenhang mit der Sklaverei unter den Menschen, die physische sowohl als die moralische, […] die Untertänigkeit und die Nachbeterei. Der Philosoph weiß, dass alle Falschheit, alles Lügen, alle Tücke und Hinterlist von daherkommen, weil es Unterdrücker gibt.“
Vehement hat Fichte zeitlebens gegen jede Form von „Oberherrlichkeit“ in Staat, Gesellschaft und Ökonomie polemisiert. Besonders die intellektuellen Eliten ruft er immer wieder auf, das bonum commune und die öffentliche ‚Denkfreiheit‘ zu verteidigen gegen alle Sprachmanipulateure und Begriffsverweser, die ihr blankes Eigeninteresse zum allgemeinen Besten verklären und das Richtige als das Falsche unter Verdacht stellen. Schonungslos analysiert er die Transformation von sozialer und politischer Macht in ideologische Meinungsgewalt und öffentliche Haltungszwänge:
„Gehe nur, gutmütiger Freund des Lichts, und demonstriere dem Obskuranten sein Unrecht, das dir so leicht zu demonstrieren scheint. […] Aber schon darin, eben darin, dass du demonstrierst und räsonierst, liegt dein Unrecht; die Waffen sogar, mit denen du streitest, sind verboten. Du sollst glauben und gehorchen. […] Aller Alleinwille und alle Alleinherrscherei muss weg.“
Ernst Bloch hat 1943 in einem gewagten Vorausblick darauf hingewiesen, wie eindrucksvoll Fichte, der Hassgegner allen Despotismus, in der Larve eines Napoleon Bonaparte schon den nachgewachsenen politischen „Spießerdämon“ Hitler enttarnt habe. Um 1800 bedeutet sein Stichwort Napoleon - Endlose Kriege, Wirtschaftskonflikte der Völker und Verrat an den demokratischen Versprechen von ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘, es bedeutet Refeudalisierung der Machtverhältnisse, Ordnungs- und Regierungsumsturz, Fremdherrschaft und Ressourcenplünderung in besetzten Territorien und nicht zuletzt politische Hysterisierung und Spaltung der europäischen Öffentlichkeiten.
In der Situation des blutigen Angriffs- und Verteidigungskrieges mitten in Europa muss sich Fichte, seit 1810 Professor an der Berliner Universität, noch eindeutiger politisch engagieren als vorher schon. Der gebürtige Sachse wird kurz vor der Leipziger Vielvölkerschlacht zum preußischen Patrioten ‚aus Not‘.In Vorlesungen und Vorträgen, in populären Schriften, Zeitungsartikeln, öffentlichen Aufrufen und Tagebüchern rüstet er argumentativ auf und wird zum Agitator für den ‚Volkskrieg‘, für den Heldenkampf aller Preußen und Deutschen im Namen der Freiheit.
Jedermann um 1813 erinnert sich an Fichtes ‚Reden an die deutsche Nation‘. In diesem vor großem Publikum zelebrierten Symbolisierungsakt hat er das Selbstbewusstsein der Deutschen als Nation zu erwecken und zu etwas umzuschaffen versucht, was sie noch niemals gewesen seien - zu einer politischen Überzeugungsgemeinschaft.
Fichte ruft damals auf zu einer Art Bürgerversammlung, zu einem Rat der Selbstverantwortlichen, die ein großes Ganzes bilden und die Verbesserung ihrer Daseinslage erkämpfen sollen. Ein maßloser Machtexzess von außen - nicht unähnlich dem amerikanischen ‚Verrat‘ oder der russischen Kriegsfurie der 2020er Jahre - droht Europa und auch den Deutschen die Kraft ihrer Gegenwartspräsenz zu nehmen.
Fichtes Warnung erfolgt ex negativo. Verbliebe die eigene Nation weiter in Trägheit und Achtlosigkeit, liefe sie Gefahr, sich der Knechtschaft, den Entbehrungen und Demütigungen durch ihre Aggressoren auszusetzen. Die Zeit, mahnt der ‚Nationalerzieher‘ damals, gehe „Riesenschritte mit uns“, und nun sei ein Scheitelpunkt der Geschichte erreicht, der alle Deutschen vor die Frage stellt, ob sie am Ende eines Zerfallsprozesses, oder am Beginn einer neuen, großartigen Zeit stehen wollten:
„Was ist das eigentliche Nationale? Ich denke: gegenseitiges Verstehen zwischen Repräsentierten und Repräsentanten, und darauf gegründetes Wechselvertrauen. - Nun gibt’s etwas, worüber ganz gewiss Einverständnis herauszubringen ist: die bürgerliche Freiheit. Diese wollen alle; kein Volk von Sklaven ist möglich. […] Das Entehrende ist, der Gewalt zu gehorchen.“
Freiheit oder Tod, so martialisch muss für Fichte in der akuten Bedrohungssituation der Schlachtruf lauten. Dass er als Mitglied des Berliner Landsturms gewappnet mit Säbel und Spieß in Erscheinung tritt, wird in der Hauptstadt bald zur Legende, der Philosoph will an der Seite der Studenten sein eigenes Leben opfern für die Selbstbestimmung und Würde der Nation. Nur mit Waffengewalt sei ein lang andauernder Friedenszustand wiederherstellbar:
„Mutige Verteidigung kann jeden Schaden wieder gut machen, und wenn du fällst, so fällst du wenigstens mit Ehre. Jenes feige Nachgeben aber rettet dich nicht vom Untergange, sondern es gibt dir nur eine kurze Frist schmählicher und ehrloser Existenz, bis du von selbst abfällst, wie eine überreife Frucht.“
Das mutige Wort eines deutschen Philosophen über die Zeiten hin - virtuell gerichtet auch an jenen russischen Despoten von heute, der seinen verbrecherischen Angriffskrieg auf die souveräne Nation der Ukrainer als Befreiungsaktion erscheinen lassen will. Machiavelli hat einst die Politik vor naivem Vertrauen auf so genannte Partner und Alliierte gewarnt und ihre Unentschlossenheit oder Unfähigkeit zu klugen Bündnissen und Koalitionen beklagt. Am Ende habe die staatsmännische Blauäugigkeit allzu oft ins Verderben geführt. Denn potenziell kann jedes Land von heute auf morgen zum Feind eines anderen werden. Die Politik der Staaten darf deshalb nicht auf Treu und Glauben vertrauen, sondern muss sich immer wieder so gut es geht als potenziell stärkere Kraft in Form bringen. Eine Lektion, die Europa im 21. Jahrhundert - vom Wirtschaftsegoismus Amerikas und Russlands Imperialwahn bedrängt - erst wieder hat lernen müssen. Der Krebsschaden aller Politik liegt für Fichte in der historisch so oft hervorgetretenen „Alleinherrscherei“ dekadenter Gewaltfiguren. Die, mahnt er, darf es in der Politik nie (wieder) geben:
„Denn solange die Regierung nicht gut ist, wird die Mehrheit immer schlecht sein. […] Gute Mehrheit entsteht von guter Regierung.“