Der Stoff des Anstoßes
Homer, Gott das Kopftuch und ich

An kaum einem Gegenstand entzünden sich bis heute Debatten um Migration und Integration, feministische Befreiung oder religiöse Unterwerfung stärker als am Kopftuch muslimischer Frauen. Darin zeigt sich - wie so oft - eine große Geschichtsvergessenheit.

Von Dalila Zouaoui-Becker |
Viele bunte Kopftücher und Köpfe von Modepuppen an einem Marktstand in Fes, Marokko, Afrika
Heute gehört das Kopftuch in vielen Ländern zum Outfit einer Mehrheit von Frauen (IMAGO / imagebroker / IMAGO / imageBROKER / Angela to Roxel)
In fast allen Ländern Europas beschäftigt heute das Kopftuch Regierungen und Parlamente, Medien und Gerichte. Verbote und Einschränkungen werden ernsthaft diskutiert oder verhängt. Im Namen westlicher Werte.
Die derzeitige Fehde lässt fast vergessen, wie raum- und zeitübergreifend sich der Gegenstand des Streits in seiner Geschichte erwiesen hat. Fast vergessen, dass er bereits en vogue war im antiken Nahen Osten. Ob Polytheismus oder Monotheismus, alle „anständigen“ Frauen in diesen Breiten verließen ihre Häuser nicht ohne Kopfbedeckung. Und die künftige „Mutter Gottes“ bildete da keine Ausnahme.
Aber schon in der Ilias und der Odyssee zierte ein Kopftuch sowohl Achäerinnen als auch Trojanerinnen, und auch die ewigen Göttinnen. Ja, Aphrodite, Athene, Kirke und Kalypso und auch Hera, Chefin der Göttinnen und Gattin des höchsten Gottes - alles Kopftuchträgerinnen.
Die Geschichte des Kopftuchs, seine Traditionen sind so vielfältig wie sein Design. Fest steht: Heute tragen in Frankreich, wie auch anderswo in Europa, die meisten Frauen das Kopftuch freiwillig.Ihre Kopfverhüllung beanspruchen sie als einen Akt der Freiheit. Sie tun es in einem mehrheitlich demokratischen Raum, wo Freiheiten und Menschenrechte garantiert sind. Und stellen damit Gesellschaften wie Institutionen vor eine große Herausforderung.
Dalila Zouaoui-Becker ist Übersetzerin und freie Autorin. Sie lebt in Köln und schreibt über Sprachen, Literatur und Religion(en),u.a.: „Homère l'Oriental“ im französischen Onlinemagazin „Orient XXI“ (2017). Außerdem hält sie Vorträge über Sprache, Literatur und Religion am romanischen Seminar der Universität Köln.

Hätte ich, eine Frau, vor über 3.000 Jahren in Mesopotamien gelebt und dort unter der Herrschaft des assyrischen Königs Tiglat-Peleser des Ersten mein Dasein als Prostituierte oder Sklavin gefristet, wehe mir, hätte ich mich mit bedecktem Kopf auf die Straße gewagt.
Ich hätte gegen das Gesetz verstoßen, das beiden verbot, die Haare zu verhüllen in der Öffentlichkeit. Die Gesetzesbrecherinnen wurden hart bestraft: die Prostituierte mit 50 Stockschlägen und über ihren Kopf gegossenen Teer. Die Sklavin mit dem Abschneiden ihrer Ohren.
Hätte ich aber die Existenz einer ehrbaren Frau geführt, war es mir untersagt, mich draußen ohne Kopfbedeckung zu zeigen. Diese war zugleich Pflicht und Privileg für die respektable Frau, die ihre verführerischen Haare verbergen sollte.
Die Verheiratete oder Verlobte versteckt ihre Reize. Die sexuell verfügbare Frau stellt sie zur Schau.
Nichts Neues unter der Sonne: Heute wie damals wird uns Frauen das Kopftuch sowohl aufgezwungen als auch verwehrt.
Verwunderlich ist dagegen, wie unser Haupthaar auf einmal zum Mittelpunkt eines erbitterten Streits geworden ist. Eines Streits, der als Kulturkampf zwischen dem Westen und dem Islam dargestellt wird.
Am heftigsten wird der Streit in Frankreich geführt, wo er vor über 30 Jahren begann und sich schnell auf andere europäische Länder ausdehnte. In fast allen Ländern Europas beschäftigt heute das Kopftuch Regierungen und Parlamente, Medien und Gerichte. Verbote und Einschränkungen werden ernsthaft diskutiert oder verhängt. Im Namen westlicher Werte.
Die derzeitige Fehde lässt fast vergessen, wie raum- und zeitübergreifend sich der aktuelle „Stoff des Anstoßes“ in seiner uralten Existenz erwiesen hat. Fast vergessen, dass er en vogue war im antiken Nahen Osten, sowohl dort, wo eine Armada von Göttern zusammen tafelt, als auch dort, wo sich der „eifersüchtige“ Gott abschottet, der kein Wesen neben sich duldet.
Ob Polytheismus oder Monotheismus, alle anständigen Frauen in diesen Breiten verließen ihre Häuser nie ohne Kopfbedeckung. Und die künftige „Mutter Gottes“ bildete da keine Ausnahme.
Der Schleier vereint unter seinen Falten die Gegend, wo Europa seine religiösen Wurzeln hat; und die, in welcher Europa die Wiege seiner Kultur sieht. Der Schleier gehört genauso zur Welt der Propheten wie zu der des göttlichsten aller Dichter – Homer –, der als „Urvater“ der europäischen Literatur gilt.
Bei Homer wird der Schleier „ganz eng um die Wangen gezogen“, „umhüllt“ den Körper. In manchen Übersetzungen versteckt er das Gesicht oder ist ein „langes Gewand“.
In der Ilias und der Odyssee kleidet er sowohl Achäerinnen als auch Trojanerinnen, und man liest – und staunt – so ausstaffiert wandelten auch die ewigen Göttinnen. Ja, Aphrodite, Athene, Kirke und Kalypso und auch Hera, Chefin der Göttinnen und Gattin des höchsten Gottes – alle Kopftuchträgerinnen.
„So hell wie die Sonne“ war der Schleier, mit dem sich Hera schmückte, als sie sich schön machte, um Zeus zu verführen.
Kein Schleier könnte dagegen dunkler sein als der der Meergöttin Thetis. Der trauernden Mutter. Um ihren todgeweihten Sohn Achilleus.
Schleier schenken sich Sterbliche und Unsterbliche gegenseitig. So war ein Schleier die Besänftigungsgabe der Hekabe an Athene. Und einer war das Hochzeitsgeschenk der Aphrodite an Andromache.
Der Schleier der Nektartrinkerinnen könnte so ausgesehen haben wie jener dieser antiken Tanagra-Figuren, die man im Louvre betrachten kann, und die den Vollverschleierten unserer Zeit verblüffend ähneln.
Fest und breit genug dürfte auf jeden Fall der Schleier gewesen sein, mit dem die Nektartrinkerin Leukothea den Schiffbrüchigen Odysseus vor dem Ertrinken rettete.
Mindestens so dicht und doch weniger rühmlich war der Schleier, der dem frisch vermählten Patriarchen Jakob Unglück brachte: Die Braut, die sich hinter dem Gesichtsschleier am Vorabend verbarg, und die der Bräutigam nach der Hochzeitsnacht neben sich entdeckte, war nicht die Rahel seines Herzens, sondern ihre weniger schöne und ältere Schwester Lea. Der Gesichtsschleier machte den ausgetricksten Erzvater zum Opfer des ersten Identitätsdiebstahls der  Menschheitsgeschichte. Dies wird uns im Buch Genesis erzählt.
Die Frauen, die heute erklären, sich ohne Kopftuch nackt zu fühlen, sind im perfekten Einklang mit dem Gott des Alten Testaments, der an zahlreichen Stellen offenes Haar und Nacktheit gleichsetzt.
„(…) decke auf deinen Schleier! Hebe die Schleppe, entblöße den Schenkel (…), dass deine Blöße aufgedeckt und deine Schande gesehen werde! (…)!“ ruft der Prophet Jesaja, um Babylon zu demütigen, die verfluchte Stadt, Symbol der Hurerei. Offenes Haar kennzeichnete die Prostituierte und die Ehebrecherin.
„Hijab“, das arabische Wort für die weibliche Kopfbedeckung, gehört heute zum deutschen Sprachgebrauch. Der Hijab ist genauso islamisch wie jüdisch, christlich, mesopotamisch oder homerisch.
Und ob das Tragen des Kopftuchs nun eine religiöse Pflicht im Islam ist, und ob ihre Begründung im heiligen Buch zu finden ist, scheint angesichts der breiten kulturellen Praxis nicht so relevant wie es uns mitunter scheint.
Im Alten Testament etwa wird man vergeblich unter den vielen Geboten und Verboten dieses suchen: „Deine Frau soll das Haus nicht ohne Kopftuch verlassen“. Die Kopfverhüllung gehört trotzdem zur Kleidung gläubiger Jüdinnen und manche von ihnen haben den Schleier der biblischen Ahninnen gegen Perücken getauscht.
Im Neuen Testament ist die weibliche Kopfbedeckung im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther zugleich ein Gebot und ein Zeichen der Geschlechterunterscheidung.
In Kamerun, in der Duala-Sprache bedeutet das Wort ebassisowohl „Religion“ als auch „Kopftuch“, und geht auf die Zeit zurück, als die Missionare von den Frauen   forderten, dass sie sich den Kopf bedecken, bevor sie die Kirche betreten.
Auf Französisch nennt man die Einkleidung der Novizinnen „prise de voile“. Ins Deutsche ungefähr übersetzt: „Übernahme des Schleiers“. Die ideale Frau nach christlichen Maßstäben, die Nonne, trägt Habit und Schleier.
Historisch gesehen hatte die Frage des Schleiers generell keine große Bedeutung in den islamischen Gesellschaften. Die islamisch-religiöse Literatur zeigte auch lange wenig Interesse an dem Thema. In der Theologie und speziell in der Mystik, im Sufismus, wurde der Schleier nicht als Kleidungsstück, sondern vor allem als Hindernis betrachtet, das den Zugang zur Gottesanschauung versperrt. In dieser Welt oder im Jenseits.
Heute zerbrechen sich Exegeten, Theologen, Philologen und selbsternannte Islamspezialisten den Kopf: „Was will uns der Koran sagen?“
Im heiligen Text der Muslime dient die verhüllende Bekleidung der Eindämmung der weiblichen verführerischen Gefahr. So ist es den älteren Frauen gestattet, ihren Schleier abzulegen – Frauen, die nicht mehr gebären können, nicht mehr verheiratet, also nicht mehr begehrt werden.
Der Koran sagt nichts über die bestimmten Merkmale des Schleiers. Der in einigen Auslegungen gar kein Schleier ist: Nicht ihren Kopf sollten die gläubigen Frauen bedecken, sondern ihr Dekolleté.
Was jedenfalls der Koran zu meinem Haupthaar sagt, oder meinetwegen auch über das Dekolleté, ist letztendlich gar nicht so wichtig. Oder allenfalls genauso wichtig wie das, was in der ihm vorausgegangenen „Heiligen“ Schrift darüber niedergeschrieben steht. So fordert der heilige Paulus von den Töchtern Evas die Kopfbedeckung sowie das Schweigen in den Gemeinden. Heute jedoch erheben Pastorinnen ihre Stimme. Baren Hauptes.
Die Mehrheit der islamischen Rechtsgelehrten ist sich darüber einig, dass die gläubige Frau verpflichtet ist, sich zu verschleiern, aber Gesicht und Hände zeigen darf. Nicht zuletzt, weil die verschleierte Frau auch Handel treibt, und man Geschäfte nicht anonym machen kann. Der Theologe al-Shirazi (gestorben ca. 1083) schreibt: „Die Notwendigkeit erfordert, dass man sein Gesicht zeigt, um zu kaufen und zu verkaufen, dass man die Hand zeigt, um zu nehmen und zu geben.“ – also Gesichtsschleier unerwünscht!
Ein breiter Konsens herrscht auch unter den Gelehrten darüber, dass das Verhüllungsgebot erst mit der Ehemündigkeit gilt. Doch die extremistischen Fundamentalisten verschleiern sogar kleine, sehr kleine Mädchen!
Das bringt uns zur Frage, ob das Tragen des Kopftuchs ein Zeichen der Unterwerfung ist? So sehr diese Frage heute die Geister erregt, in religiöser Hinsicht ergibt sie nicht viel Sinn.
Denn nirgendwo im Koran oder im Alten Testament wird die Verschleierung als ein Zeichen der Unterwerfung der Frau dargestellt. Dies tut erst Paulus im Neuen Testament. Und das hätte der Heidenapostel wirklich gar nicht nötig gehabt. Denn die Ungleichheit der Geschlechter, die Dominanz eines Geschlechts und die Unterordnung des anderen sind eine geoffenbarte Selbstverständlichkeit. Und diese braucht nicht den Schleier als Zeichen.
„Die Rede gebührt den Männern, / Und vor allen mir; denn mein ist die Herrschaft im Hause!“ Das steht nicht im Koran. Nicht im Alten Testament. Nicht im Neuen Testament. Wer da spricht ist ein Grünschnabel namens Telemachos und die Angesprochene ist seine Mutter Penelope! Der junge Sohn von Odysseus verweist sie als Frau auf ihren Platz, den des Geschlechts, das bestimmt ist, beherrscht zu sein.
Abrahamisch-homerisch ist der Schleier so selbstverständlich wie die Unterwerfung seiner Trägerin. Dennoch mit einem wesentlichen Unterschied:  Der Grieche macht keine Jagd auf meine Locken. Er ruft nicht wie der Prophet: „(…), deshalb wird der Herr den Scheitel der Töchter Zions kahl machen, und der Herr wird ihre Schläfe entblößen.“ Und es wird (…)  eine Glatze statt lockigen Haares“. Der Grieche sagt nicht, wie Paulus: „Denn wenn eine Frau sich nicht verhüllt, soll sie sich doch gleich scheren lassen“.
Verhüllen, um die weibliche Verlockung zu neutralisieren, um Männer nicht in Versuchung zu führen. Aber das hindert den Liebenden im biblischen Hohelied nicht daran, zu schwärmen. Von den Augen seiner Geliebten, „wie Taubenaugen“ hinter dem Schleier. Von ihren Schläfen, ihren Zähnen, ihren Lippen, wie „ein purpurrotes Band“, ihrem „reizenden“ Mund, ihrem Hals, der „dem Turm David gleicht“, ihren Brüsten, „wie zwei Kitze, Zwillinge einer Gazelle, die unter den Lotosblüten weiden“. Von ihren Schenkeln, „wie zwei Spangen, die des Meisters Hand gemacht hat.“ Von ihrem … Schoß.  Ein „runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt“. Also nichts von der Anatomie seiner verschleierten Verlobten scheint dem fantasierenden Liebenden fremd zu sein.
Man denkt an die exotisch-erotischen Projektionen der westlichen orientalistischen Maler, die so viel hinter dem Schleier sehen konnten. Diesem Voyeurismus verdanken wir jedoch schöne Bilder. Auch von Frauen mit Kopftuch und entblößten Brüsten.
Frauen haben sich aber auch seit jeher von dem Schleier nicht bremsen lassen. Bunt, mit Stickereien verziert, lässig getragen, hat er sie nie daran gehindert zu flirten, geheime Zeichen und vielsprechende Blicke zu senden.
Aufgepasst: Die Verschleierte, der wir in Tausendundeiner Nacht begegnen, eilt zu einem heißen Techtelmechtel.
Aufgepasst: Die Verschleierte von heute hat viele Gesichter.
In meinem Heimatland, Algerien, gibt es, wie in der Mehrheit der islamischen oder islamisch geprägten Länder, keine Kopftuchpflicht, keinen gesetzlichen, keinen institutionellen Zwang.
Heute gehört das Kopftuch aber zum Outfit einer Mehrheit der Frauen. Vor dem Aufstieg des religiösen Fundamentalismus, also vor ca. 40 Jahren, war sein Tragen an den Universitäten in Algerien eine Ausnahme; heute ist es die Regel. Das ist der Fall auch in Tunesien, in Ägypten und anderen arabischen Ländern.
Viele Frauen tragen es aber nicht aus religiösen Gründen. Sie tun es unter dem gesellschaftlichen Druck oder folgen einem Trend, der aus dem Kopftuch eine Modeerscheinung gemacht hat. Aber eine mit womöglich kurzer Halbwertzeit.
Denn seit einiger Zeit scheint die Zahl der Hijab-Trägerinnen wieder zurückzugehen. Verantwortlich dafür sind die sozialen Medien und die Weltoffenheit der Jugend. Junge Mädchen finden heute ihre Vorbilder mehr in kessen kopftuchlosen Tiktokerinnen.
Das Kopftuch hat mittlerweile die Bedeutung, die ihm seine Trägerin gibt.  Es gibt die, die es als traditionelles Kleidungsstück trägt. Die, die es aus praktischen Gründen trägt. Die, die es trägt, um ihre Armut zu bedecken.
Es gibt die, die es als Teil ihrer religiösen Identität erlebt. Es gibt die, für die es diese Bedeutung nicht hat. Oder verloren hat. So zum Beispiel, die, die sich nicht an den Ramadan hält oder die Gebete nicht verrichtet.
Und es gibt die, die das alles einfach nicht so ernst nimmt. So das Spiel der Influencerinnen, die an einem Tag das Kopftuch anlegen, es am anderen ablegen. Um mehr Klicks zu bekommen. Was ihnen auch gelingt.
Und es gibt die, die Kopftuchtragende, die die „Hosen anhat“. Am Arbeitsplatz wie zu Hause. Diese private Vielfalt steht oft im Widerspruch zum staatlichen Handeln.
2004 wurde das Kopftuch als „sichtbares religiöses Zeichen“ an Frankreichs Schulen gesetzlich verboten. Seitdem häufen sich dort die Gesetze und Aktionen, die das Kopftuchverbot in immer mehr öffentlichen Räumen und Bereichen des kollektiven Lebens durchsetzen. Sie nehmen manchmal groteske Züge an: 2012 sah ein Gesetzentwurf vor, dass private Tagesmütter, die Kinder bei sich betreuen, kein Kopftuch tragen dürfen.
In den eigenen vier Wänden! Vor einigen Jahren wurde eine Frau von der Polizei in Nizza gezwungen, ihr traditionelles Kleid auszuziehen – die Szene spielte sich am Strand ab.
Im Januar 2025 erklärte Innenminister Retailleau, dass er den Anwendungsbereich des Gesetzes von 2004 auf die Begleiterinnen von Schulausflügen erweitern will. Betroffen in diesem Fall sind hauptsächlich Mütter. Er sprach sich auch aus für ein allgemeines Kopftuchverbot an der Universität – ein immer wiederkehrendes Thema in den letzten Jahren.
Im Februar 2025 verabschiedete der französische Senat einen Gesetzentwurf, der das Tragen von religiöser Kleidung – damit ist natürlich in erster Linie das Kopftuch gemeint – im Sportbereich verbietet.  Das Verbot soll für alle Wettbewerbe gelten, einschließlich des Amateursports.
Bei den letzten Olympischen Spielen in Paris durften die französischen Sportlerinnen mit Kopftuch nicht antreten.
Schon jetzt werden Kopftuchträgerinnen bei Wettbewerben in etlichen französischen Sportverbänden ausgeschlossen. Französinnen stehen vor der Wahl : entweder Kopftuch oder Sport. Das ist europaweit einmalig.
Die restriktive französische Politik wird mit der Wahrung des Laizismus, der strikten Trennung von Staat und Religion, begründet – eine Trennung, die 1905 gesetzlich besiegelt wurde.
Es ist aber der Staat, der laizistisch ist, nicht die Personen, entgegnen einige der Verteidigerinnen und Verteidiger des Kopftuchtragens. Und sie erinnern daran, dass das Gesetz von 1905 Priester und Nonnen nicht zwang, ihre Soutanen oder Schleier abzulegen.
Der Laizismus allein reicht offenbar nicht aus, den französischen Alleingang zu erklären. Wer dies verstehen möchte, sollte vielleicht in die Kolonialvergangenheit des Landes in Algerien, dem einstigen „französischen Departement“, schauen, glauben heute viele Unterstützerinnen und Unterstützer des Kopftuchtragens.
Für diese Stimmen, die man bei dekolonialen Aktivisten und in der postkolonialen Forschung findet, hat gerade mal eine Vorrunde des jetzigen Kampfes um die Kopfbedeckung der Musliminnen im kolonisierten Algerien stattgefunden.
Sie beziehen sich insbesondere auf den in der algerischen Revolution engagierten Autor von Die Verdammten dieser Erde, Frantz Fanon. 1959 veröffentlichte er in seinem Buch Aspekte der algerischen Revolution einen Artikel unter dem Titel Algerien legt den Schleier ab. Darin zeigt er, wie zentral das Thema der Entschleierung der algerischen Frauen während der kolonialen französischen Herrschaft war. Wie die Kolonialmacht sich mobilisierte für die Befreiung der Frauen von dem arabisch-islamischen Patriarchat. Und von seinem Symbol par excellence: dem Schleier.
Heute in Frankreich, wie auch anderswo in Europa, tragen die meisten Frauen das Kopftuch freiwillig.
Ihre Kopfverhüllung beanspruchen sie als einen Akt der Freiheit. Sie tun es in einem mehrheitlich demokratischen Raum, wo Freiheiten und Menschenrechte garantiert sind. Und stellen damit Gesellschaften wie Institutionen vor eine große Herausforderung: Was ist Freiheitsverletzung? Frauen verbieten, sich den Kopf zu verhüllen oder sie zwingen es zu tun? Kann man im Namen der Freiheit gegen die Freiheit sein? Die religiöse Freiheit – wie in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert. Und die Freiheit, sich einfach anzuziehen, wie man will.
Diese Frauen stellen auch den Feminismus auf die Probe. Die französische Feministin und Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux fragt: „Wie können wir, wir feministischen Frauen, die das Recht über unseren Körper selbst zu bestimmen eingefordert haben, wir, die gekämpft haben und es immer noch tun, um frei über unser Leben zu entscheiden, wie können wir anderen Frauen das Recht absprechen, über ihr Leben selbst zu entscheiden?“
Und sie sagt weiter: „Die Empathie, die Solidarität hören auf, wenn es um verschleierte Musliminnen geht. Diese sind der ‚schwarze Kontinent‘ des Feminismus oder vielmehr eines bestimmten Feminismus, der einen Krieg gegen andere Frauen führt im Namen eines Laizismus, der zum Mantra eines Dogmas geworden ist, das alle anderen Überlegungen verhindert.“
Ich jedenfalls, eine Frau, bin weder pro noch kontra Kopftuch. Ich bin pro freie Wahl. Warum sollte ich anderen ein Recht aberkennen, das mir nichts wegnimmt?
Ich kann zwischen den verschiedenen Varianten der Verhüllung differenzieren.
Ich weiß, dass Frauen, die den Schleier heute mit hautengen Jeans, knallrotem Lippenstift und High Heels kombinieren, das Kopftuch der rein religiösen Funktion entwunden haben.
Ich weiß, dass Frauen, die mit einem mehr ent- als verhüllenden Burkini ins Wasser springen, den Fundamentalisten ganz schön auf der Nase herumtanzen.
Ich muss aber auch gestehen, dass ich das Kopftuch, das aus religiösen Gründen getragen wird, nicht mag. Ich mag das Kopftuch nicht, das seine Trägerinnen zu Komplizinnen einer himmlisch abgesegneten Ungleichheit der Geschlechter stempelt.
Ich grolle diesen Frauen wirklich, die die Uhr der Emanzipation zurückdrehen, aber ich kann nicht umhin, ihre freie Wahl zu unterstützen.
Man kann eben gegen dieses Kopftuch sein und gleichzeitig das Recht unterstützen, es tragen zu dürfen.
Um den Voltaire fälschlicherweise zugeschriebenen Spruch zu paraphrasieren: „Ich mag verdammen, was du trägst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es tragen darfst“.
Und ist Toleranz nicht genau das: auch zu akzeptieren, was uns nicht gefällt?  Wenn es uns schwerfällt, gerade wenn es uns schwerfällt.
Wie absurd Kleidungsge- und Verbote sind, hat sich am Verbot von Hosen für Frauen gezeigt. Nicht irgendwo im Hinterwald, sondern im Haute Couture Land Frankreich. Dort haben Frauen erstritten, dass sie ihre von einer Hose verhüllten Beine außerhalb der eigenen vier Wände zeigen dürfen. Seit … 2013! In diesem Jahr wurde nämlich die ungebräuchlich gewordene „Verordnung über die Verkleidung der Frauen“ offiziell abgeschafft. Beschlossen wurde sie seinerzeit 1799 von der Pariser Polizeipräfektur und sie verbot Frauen Männerkleidung zu tragen. „Jede Frau, die sich wie ein Mann kleiden will, muss sich vom Polizeipräsidium eine Erlaubnis erbitten, die nur nach Vorlage eines ärztlichen Attests erteilt wird.“ Ansonsten war es Frauen nur gestattet, die „männliche Kleidung“ zu tragen – in Karneval. Dieses Verbot wurde allerdings entschärft durch die Verfügungen von 1882 und 1909, die das Hosentragen erlaubten, „wenn die Frau einen Fahrradlenker an der Hand führt oder (…) die Zügel eines Pferdes.“
Mit dem Verbot der Kopfverhüllung waren islamisch geprägte Länder dem Westen zuvorgekommen: unter anderem die Türkei, wo Anfang des 20. Jahrhunderts der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk das Kopftuch aus öffentlichem Dienst und Bildungswesen verbannte.
1935 folgte der Iran, wo heute der Ruf „Frauen, Leben, Freiheit“ erschallt und wo Frauen gegen den Schleierzwang revoltieren. Verboten wurde der Schleier von Schah Reza Khan. Durch das Gesetz Kashf-el hijab („Entschleierung“), genannt auch „Gesetz der Befreiung der iranischen Frauen“. 1941 wurde das Verbot von seinem Sohn, Mohammad Reza Pahlavi aufgehoben.
Türkinnen und Iranerinnen haben es in Zeiten des Verbots aber weiterhin getragen. Die muslimischen Europäerinnen werden es auch weiter tun.
Und Frauen lassen sich ebenso wenig von ihrer Verhüllung befreien, wie sich Völker mit Bomben zur Demokratie bekehren lassen. Das Scheitern ist programmiert, wenn man die Menschen nicht gewinnt.
Gerade in Europa dringt das Kopftuch als Zeichen islamischen Glaubens in Gesellschaften ein, in denen die Religion keine große Rolle mehr spielt. Und in denen der Islam für negative Schlagzeilen sorgt. Aber auch, wenn in großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft Religion an Bedeutung verloren hat, bleibt immer noch etwas von der alten Feindseligkeit der rivalisierenden monotheistischen Religionen und der Frontstellung gegenüber dem Islam.
Islam, Islamismus, Extremismus, Terror sind trotz aller Jahrzehnte lang geleisteter Aufklärungsarbeit oft austauschbare Wörter geblieben. Dass in Paris, Madrid, New York oder München auch Migranten und Muslime dem Terror zum Opfer fallen, wird oft ignoriert.
Das kümmert die rechtsextremistischen Parteien und Gruppierungen, die in Europa heute auf dem Vormarsch sind, wenig. Denn sie haben ihren Sündenbock gefunden.
So haben sie aus dem Kopftuch ein Symbol für Migration gemacht; aus den Kopftuchträgerinnen eine Bedrohung für nationale Identität und Sicherheit.
Die nahe Zukunft lässt nicht viel Raum für Optimismus. Sie werden uns weiterhin in der Zange haben: Sittenpolizisten, Hüter der Ehre und Religion auf der einen und auf der anderen Seite Verteidiger der Freiheit, des Säkularismus. Unter ihnen diejenigen, die ihren Fremdenhass als Frauenliebe verkaufen.
Ich werde noch mit meiner Wut leben müssen. Mit Wut und Trauer.
Und niemals vergessen: den geschlagenen Körper von Jina Mahsa Amini, 2022 in Teheran ermordet: weil sie kein Kopftuch tragen wollte. Den erstochenen Körper von Marwa Ali El-Sherbini, 2009 in Dresden ermordet: weil sie ein Kopftuch trug.
Ich werde noch mit meiner Wut und meiner Trauer leben müssen, aber weiter von einer Welt träumen, in der überall der himmlisch-irdische Pakt gebrochen wird.
Und ich werde träumen, von einem befreiten Gott. Frei von allen virilen Obsessionen, die auf ihn übertragen wurden. Träumen vom Ende des Betrugs, der seit Jahrtausenden Frauen glauben lässt, dass Gott dem Wind verbietet, durch ihr Haar zu wehen. Dass Gott von ihnen will, dass sie ihr echtes Haar unter falschem verstecken.
Tun wir uns aber jetzt etwas Gutes! Schlagen wir den alten Homer auf und begleiten in der Odyssee eine Teenagerin namens Nausikaa bei ihrem Ausflug mit ihren jungen Dienerinnen. Sie sitzen am Fluss. Die Sonne scheint. Und es ist Waschtag. Sie wollen das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. Nachdem sie die Wäsche gewaschen haben, baden sie und salben sich mit Öl. Dann essen und trinken sie. Und jetzt ist Zeit für ein bisschen Bewegung. Sie spielen mit dem Ball. Vorher haben sie ihre Schleier abgelegt. Sich von dem sperrigen Teil befreit.
Sie spielen. Der Wind in ihrem Haar. Wind. Sonne … Freiheit für Haut und Haar!