Für die Demokratie eintreten
Loyalität als Haltung in schwierigen Zeiten

Lange war die Demokratie als Staatsform im Westen unangefochten. Doch mittlerweile erleben wir sogar in den westlichen Demokratien Angriffe auf sie, auf den Rechtsstaat und seine Institutionen. Wie können Demokraten und Demokratinnen dem entgegentreten?

Von Maike Weißpflug |
Plakat mit der Aufschrift "Für Demokratie eintreten: jetzt" bei der bundesweite Gedenkdemonstration vier Jahre nach dem rassistischen Anschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau.
Autoritäre Parteien erhalten in beinah allen westlichen Demokratien immer größere Zustimmung (IMAGO / Müller-Stauffenberg / IMAGO / Müller-Stauffenberg)
Wenn es darum geht, aktiv betriebenen Aushöhlungsversuchen oder durch Unterlassungen in Kauf genommenen Erosionsprozessen demokratischer Gemeinwesen etwas entgegenzusetzen, dann hat der Ökonom und Sozialwissenschaftler Albert O. Hirschman (1915-2012) eine spannende Antwort. Er unterscheidet drei Reaktionsmöglichkeiten auf Missstände, die sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik vorkommen: Abwanderung, Widerspruch und Loyalität. Von diesen drei Reaktionsmöglichkeiten ist Loyalität die überraschendste. Warum soll man einem Gemeinwesen, das seinen Bürgern vor allem als Bürokratie gegenübertritt, mit Loyalität begegnen? 
Loyalität zur Demokratie und zu den rechtsstaatlichen Institutionen erweist sich gerade heute angesichts des Aufstiegs autoritärer Parteien als eine empfehlenswerte, ja robuste Haltung, die den Schwächen demokratischer Institutionen entgegentritt, um die Demokratie selbst zu stärken.
Maike Weißpflug ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Beteiligungsexpertin in der Endlagersuche für hoch radioaktive Abfälle beim Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE). Zuletzt veröffentlichte sie die Bücher „Hannah Arendt – Die Kunst, politisch zu denken“ (2019) und „Hannah Arendt – 100 Seiten“ (2024). 

Es ist nicht unbedingt ein angenehmes Gefühl, mitten in historischen Umbruchprozessen zu stecken. Die eben noch selbstverständliche, bekannte Welt hat aufgehört zu existieren, während die neue Welt noch nicht greifbar, noch nicht erkennbar ist. Milo Rau, Intendant der Wiener Festwochen, sagte über diese Situation kürzlich in Berlin:
„Gleichsam über Nacht entwurzelt versuchen wir, damit umzugehen, dass unsere Überzeugungen – und letztlich wir selbst: die Demokratie, die liberale Gesellschaft – gerade in halb Europa auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen werden.”
Rau vergleicht unsere Situation mit der von Büchners Lenz, dem Dichter des Sturm und Drang, der an seiner Zeit verrückt wurde - auch, weil alles einfach so weiterging:
„Eine Gesellschaft, die, wie es in Büchners Lenz heißt, ‚alles tut, wie es die anderen tun‘, wie man es immer getan hat – man geht wählen, man macht Kunst, man debattiert, hält Reden: Es ist aber, wie Büchner schreibt, ‚eine schreckliche Leere‘ in alldem, nicht wahr, als würde man Walzer tanzen auf einem untergehenden Schiff.”

Demokratie unter Druck

Das „untergehende Schiff”, das könnte die Demokratie sein, das könnte die Fortsetzung der Aufklärung sein. Zumindest steht es zu befürchten. Rechte Geschichtserzählungen und rassistische Machtfantasien machen sich breit und gewinnen auf gespenstische Weise weiter an Attraktivität. Autoritäre Parteien erhalten in beinahe allen westlichen Demokratien immer größere Zustimmung – wie die AfD in Deutschland – und sind vielfach an Regierungen beteiligt oder stellen diese bereits, wie in den USA, Ungarn oder Italien. Es ist nicht absehbar, ob es sich nur um den Anfang einer Entwicklung handelt oder eine vorübergehende Krise, ob die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen sich halten, beziehungsweise erhalten lassen oder wir gerade den Anfang des Endes der liberalen Demokratien erleben.
Im Inneren historischer Umwälzungen herrscht eigentlich immer ein Nebel, der sich erst mit zeitlichem Abstand lichtet. Es ist nicht einfach, in solchen Zeiten eine klare Haltung zu entwickeln. Zumal, wenn die Veränderung, die sich da Bahn bricht, an die Wiederkehr von Schrecken der Vergangenheit erinnert, wenn sie nicht progressiv, sondern reaktionär ist. Es droht ein Rückfall in längst überwunden geglaubte, autoritäre Formen der Politik. Was die Bewegungen des „libertären Autoritarismus“ von Trump bis Meloni mit ihren historischen faschistischen Vorläufern bei allen Widersprüchlichkeiten teilen, ist nicht nur ihre im Kern rassistische Politik, sondern vor allem auch ihre Verachtung liberaler Gesetze und demokratischer Institutionen, die Verherrlichung der Gewalt in Verbindung mit einem Kult der Disruption, die Verachtung von Fakten und Tatsachen, der Wissenschaft, kurz: allem, was ihrem Herrschaftsanspruch im Weg stehen könnte.

Krise der demokratischen Mitte

Sie kreieren damit genau das, was Hannah Arendt als totalitär bezeichnet: eine Welt, in der auf nichts mehr Verlass ist, in der das Gesetz des Stärkeren gilt, in der die Lüge regiert, eine „Narrenhölle“, in der es kein Halten mehr gibt und Menschheitsverbrechen wieder möglich erscheinen.
Progressive und demokratische Kräfte stehen ganz plötzlich vor dem Problem, nicht mehr Treiber politischer Veränderungen zu sein, sondern zusehen zu müssen, wie die Reaktionären die Welt verändern. Das ist für viele, und insbesondere für diejenigen, die bis hierher für eine soziale und ökologische Transformation der Gesellschaft eingetreten sind, eine ungewohnte und völlig neue Situation. Plötzlich gilt es, diese mit irrem Tempo sich vollziehenden Veränderungen abzuwehren, Demokratie und Rechtsstaat, die Freiheit der Wissenschaft und der Künste zu verteidigen. Doch was heißt das eigentlich: die Demokratie verteidigen?
Es ist verständlich, wenn Demokratinnen und Demokraten auf diese Situation mit einem gewissen Aktionismus reagieren. Schließlich gilt, was Erich Mühsam 1931 feststellte, heute so präzise wie damals: „An dem Tage, an dem die Hakenkreuzfahne über den öffentlichen Gebäuden erscheint, lässt sich nicht das geringste mehr organisieren.”

USA als abschreckendes Beispiel

Der Blick in die USA genügt, um dies zu verdeutlichen, denn die Schockstrategie von Trump wirkt und verhindert bislang zumindest effektiven Widerstand gegen die Zerstörung der Demokratie in Amerika. Angesichts dieser aktuellen und der historischen Parallelen, angesichts des Konsenses eines „Nie wieder!”, auf dem die bundesrepublikanische Demokratie basiert, sind die spontanen Reaktionen auf die Radikalisierung und die Zugewinne der AfD in Deutschland verständlicherweise emotional.
Viele Menschen, so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik, sind zur Verteidigung der Demokratie auf die Straßen gegangen, als Correctiv die Recherche zum Geheimtreffen in Potsdam veröffentlichte und dann noch einmal nach den Wahlerfolgen der AfD bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen. Man will laut „Nein!” rufen, die Stopptaste finden, besser noch: Zurückspulen an die Stelle, an der die Gesellschaft womöglich falsch abgebogen ist. Doch es gibt keine Stopptaste und schon gar keine Rückspultaste wie früher am Kassettenrekorder; und auch ein Verbot der AfD wäre keine, sondern höchstens eine Pausetaste. So haben die spontanen und großen Demonstrationen für die Demokratie und gegen die AfD bei allem Beeindruckenden so schnell so viele Menschen zum Reagieren zu bringen, auf den Straßen zu versammeln – auch etwas Hilfloses. Der Eindruck verstärkt sich dadurch, dass sie weitgehend verpufft sind, und es viel weniger waren als die Zahl der Unterstützenden dieses Partei gewordenen rechtsextremen Verdachtsfalls. Irgendetwas stimmt nicht mehr im politischen Gefüge der Demokratien. Die Macht der Straße scheint ihre politische Wirkkraft verloren zu haben, wie auch schon bei der Klimabewegung zu beobachten war. Fridays for Future haben Millionen mobilisiert, die klimapolitischen Veränderungen blieben weitgehend aus. Wie kann das sein?
Dieses Phänomen hat der belgische Historiker Anton Jäger in seinem 2023 erschienenen Buch als „Hyperpolitik” beschrieben. Politik ereignet sich als Erregungswelle mit immer kürzeren Konjunkturen:
„Wie die neuen Medien und die Finanzmärkte mit ihren notorisch kurzen Zyklen“, schreibt Jäger, „ist heute auch die Sphäre der politischen Öffentlichkeit von unkontrollierbaren Zuckungen und Kontraktionen geprägt, ohne dass sich eine dauerhafte Infrastruktur herauskristallisieren würde.”
Dies gilt zumindest für linke und progressive Politik, die auch Jäger am Beispiel von Fridays for Future oder der Black Lives Matter-Bewegung festmacht. Aus den Wellen der Aufregung wird kein gemeinsames politisches Handeln. Die hyperpolitische Aufregung, der bloße Appell, man müsse etwas tun, entfaltet keine politische Wirksamkeit und sie schafft auch keine Vorstellung, wofür eine demokratische Politik steht und in welche Zukunft sie führen kann. Zugleich, so Jäger, gebe es mit Blick auf u.a. Trump Befunde, die die Möglichkeit andeuten, „dass wir zumindest bei der Rechten eine … Renaissance der politischen Organisationen erleben”. In den zwei Jahren seit dem Erscheinen des Buchs hat sich dieser Befund deutlich bestätigt.

Differenzierungen verlieren sich

Ein weiteres Problem ist, dass Politik im Modus der kurzfristigen Aufregung und Polarisierung zu leicht auf das Glatteis des rechts-autoritären Kulturkampfes führt und diesem damit nur nutzt. Ein Kampf, der sich als einer gegen die Eliten, das Establishment, gegen die Altparteien oder die Staatsmedien ausgibt. Mit dem Freund‑Feind-Denken aber verschwinden nicht nur Nuancen, differenzierte Positionen und der Raum, miteinander in Aushandlungsprozesse zu treten, sondern auch ganze politische Themenfelder, allen voran die Umwelt- und Klimapolitik, von der Bildoberfläche, während polarisierte, populistische Themen wie die Migrationspolitik, die sich nicht auf Fakten stützt, sondern Ängste schüren, gespenstisch leicht verfangen. Auch die demokratischen Parteien fügen sich der Logik der Polarisierung und des Abrückens von den tatsächlichen Problemen: Im deutschen Wahlkampf 2025 dominierte das Thema Migration, von Klimapolitik war keine Rede. Dabei steht die Realität im schärfsten Kontrast dazu. Überall auf dem Planeten häufen sich Extremwetterereignisse, ein Temperaturrekord nach dem anderen wird gebrochen, auch in Europa: der März 2025 war mit 2,4°C über dem Durchschnitt der wärmste hier je gemessene.
So stehen wir – ich verwende das kleine Wörtchen „wir” für alle Demokratinnen und Demokraten, denen an Tatsachen und friedlicher, regelbasierter Problemlösung etwas gelegen ist – summa summarum vor dem Problem, dass die Welt, die uns gestern noch ganz selbstverständlich schien, einigermaßen abhanden gekommen ist, inklusive der bekannten Handlungsmuster und Reaktionsweisen.
Doch wie kommen wir aus einer solchen radikalen Krise heraus? In einer solchen Situation hat es immer schon geholfen, ein Stück zurückzutreten und nachzudenken. Das ist auch darum sinnvoll, weil sich Geschichte nicht einfach wiederholt. Es ist wichtig zu verstehen, was sich tatsächlich ereignet, welche neuen Konstellationen und Verschiebungen am Werke sind. Begriffe können bei dieser Reflexion helfen, Klarheit über die Situation zu gewinnen. Hannah Arendt hat dies einmal als „Übungen im politischen Denken” bezeichnet, wie es sich aus der Aktualität politischer Ereignisse ergibt und versucht, aus „Schlüsselworten der politischen Sprache” „ihren ursprünglichen Geist”, der sich „so schmählich verflüchtigt und leere Hülsen hinterlassen” habe, „neu herausdestillieren”.
Ich möchte Sie dazu einladen, die Handlungsmöglichkeiten für Demokraten und Demokratinnen mit drei Begriffen zu erkunden, die der Ökonom und Entwicklungspolitiker Albert O. Hirschman geprägt hat: Exit, Voice und Loyalty. Ausstieg, Widerspruch und Loyalität. Hirschman kannte sich nicht nur als Entwicklungshelfer mit politischem Handeln aus: Er ist vielen vielleicht am ehesten bekannt durch sein in der Netflix-Serie „Transatlantic“ dargestelltes Engagement für Varian Frys Rettungsnetzwerk, das Intellektuellen und Künstlerinnen bei der Flucht vor den Nazis half.
Mit den drei Begriffen beschreibt Hirschman unterschiedliche Reaktionsweisen auf Missstände und erklärt, was Menschen tun, wenn sie unzufrieden mit einer Situation sind – sei es ein Produkt oder eine politische Entwicklung.
Dabei bezeichnet Exit die Abwanderung oder den Ausstieg: Wenn ich unzufrieden mit einem Produkt bin, wenn es nicht mehr das leistet, was ich von ihm erwarte, kann ich ein anderes kaufen. Diese Art der Abwanderung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie individuell und zumeist still und leise geschieht. Wirkung entfaltet die Abwanderung dann, wenn sie von vielen vollzogen wird und durch sinkende Absatzzahlen oder, übertragen auf die Politik, schlechtere Wahlergebnisse, für die Anbieter, Organisationen oder Parteien spürbar wird. Heute ist der Exit aus der Demokratie eine solche Option geworden – sie ist durch die Einzelnen leicht an der Wahlurne durch ein einfaches Kreuz bei autoritären oder faschistischen Parteien zu vollziehen. Schon immer haben autoritäre Kräfte die demokratischen Freiheiten genutzt, um sie abzuschaffen. Das war in Weimar so, das ist jetzt in den USA so, und droht auch weiterhin in den meisten europäischen Ländern. Der Exit an der Wahlurne geht dabei mit einem Exit aus der geteilten Realität einher. Umgekehrt beginnt jetzt schon der Exit aus den neuen Autokratien: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verlassen die USA, weil dort freie Forschung nicht mehr möglich ist.
Exit ist jedoch nicht die einzige – und für Hirschman vor allem im politischen Bereich – die beste Reaktionsmöglichkeit. Voice oder Widerspruch stellt für Hirschman eine Alternative zur Abwanderung dar. Hier geht es vor allem darum, so schreibt er,
„einen ungünstigen Zustand zu verändern, anstatt ihm auszuweichen, sei es durch individuelle oder kollektive Petition an die unmittelbar Verantwortlichen, durch Berufung an eine höhere Stelle in der Absicht, einen Führungswechsel zu erzwingen, oder durch verschiedene Arten von Aktionen und Protesten, einschließlich jener, die zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung dienen sollten.”
Im Gegensatz zur individuellen, meist privaten Entscheidung des Exits ist der Widerspruch ein öffentlicher, kollektiver Akt. Beide Verhaltensweisen stehen auch nicht einfach nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. „In vielen Situationen“, so Hirschman, „tendiert … die Verhaltensweise der Abwanderung dazu, Widerspruch zu unterminieren, besonders, so argumentiere ich, wenn Abwanderung die potentiellen Träger des Widerspruchs ihrer sprachgewaltigsten und einflussreichsten Mitglieder beraubt, was oft der Fall ist.”
Dass Abwanderung den Widerspruch und damit die Möglichkeit der Verbesserung schwächen kann, fällt Hirschman zuerst während seiner Arbeit in der Entwicklungshilfe am Beispiel der nigerianischen Eisenbahn auf. Obwohl die Kundenzahlen wegen des zunehmenden Angebots durch LKW bei der Bahn stark sanken, gab es keine Anstrengungen, das Angebot zu verbessern, weil dem staatseigenen Unternehmen durch den Verlust von Kunden keine größeren Unannehmlichkeiten drohten. Kurzum: Mitnichten belebte hier die Konkurrenz das Geschäft.
Exit und Widerspruch können sich, wie Hirschman am Beispiel des Untergangs der DDR feststellt, allerdings auch gegenseitig verstärken und zu einem vollständigen Zusammenbruch der politischen Ordnung führen. Hirschman erzählt eine Geschichte aus Dresden aus dem Jahr 1989, um die Verbindung von Ausreisen und Bleiben, zwischen Exit und Widerspruch hervorzuheben:
Eine Bahnbeamtin hatte versucht, „die Menge der ‚Ausreiser‘ zum Verlassen des Dresdner Bahnhofs zu bewegen, indem sie sagte: ‚Bürger, gehen Sie nach Hause. Wir versprechen Ihnen, dass Sie alle ausreisen dürfen.’ Woraufhin ein Großteil der Menge, solchen Versprechungen misstrauend und abgeneigt, den Bahnhof zu verlassen, die Antwort rief: ‚Wir bleiben hier!’. Erst später sollte sich die Bedeutung des Slogans zu dem anspruchsvollen Konzept wandeln: ‚Wir wollen die Situation durch unser Bleiben verändern.’”
Aus dem ursprünglichen Exit-Slogan „Wir wollen raus!“ wird in dieser Situation der Voice-Slogan „Wir bleiben hier!” und daraus später dann das demokratische „Wir sind das Volk”. Doch am Ende verbinden sich Exit und Voice in der ethnisch‑nationalistischen Wendung „Wir sind ein Volk”. Nicht der aufflackernde Willen, die DDR durch Bleiben zu verändern, setzt sich durch, sondern der Exit für alle: die Auflösung der DDR und der Anschluss an die BRD.
Hirschman widerlegt damit seine eigene These, dass Abwanderung den Widerspruch in der Regel schwächt. Dies zeigt, dass er Begriffe und Theorien nicht als intellektuellen Selbstzweck ansieht, sondern für eine Reflexion wirklicher Erfahrungen nutzt. Im Zweifel heißt das, gegen sich selber zu denken. Hirschman hat dies selbst mit einiger Ironie als „Hang zur Selbstsubversion” beschrieben. Es ist der Neuausgabe seines Buches Exit, Voice & Loyalty durch Alexander Karschnia aus dem vergangenen Jahr zu verdanken, dieses Kernelement von Hirschmans Denkhaltung greifbar gemacht zu haben. Für Hirschman selbst liegt die zentrale Erkenntnis – die in finsteren Zeiten zugleich ungemein hoffnungsstiftend ist –, in dem Satz und berühmten Song des Jazzmusikers George Gershwin begründet: „It ain’t necessarily so.” Es gibt keine Notwendigkeit in der menschlichen Geschichte – und sozialwissenschaftliche Theorien sollten auch nicht so tun als gäbe es sie.
Was wir aus Hirschmans Analyse des Untergangs der DDR lernen können, ist eine Dynamik, die sich entwickeln kann, wenn die private Abwanderung aus einem politischen System sich mit öffentlichem Widerspruch verbindet – und wenn nicht genug Zeit ist, Verbesserungen zu erstreiten, und, wie Hirschman sagt, „ständiger, totaler Aktivismus oder totale Apathie” herrsche.
Es gibt aber noch jene dritte Reaktionsweise, die Kunden oder Mitglieder einer Organisation darin bestärkt, zu bleiben und nicht sofort abzuwandern: Loyalität.
„Daß man“, so Hirschman, „trotz Meinungsverschiedenheiten mit der Organisation, der man angehört, zögert abzuwandern, ist das charakteristische Merkmal des loyalen Verhaltens.”
Loyalität einer Institution oder Organisation gegenüber legt damit die Grundlage für die Dynamik von Widerspruch und Verbesserung. Denn insbesondere Mitglieder mit einer loyalen Einstellung, die sich als einflussreich wahrnehmen und an die Werte und Prinzipien einer Organisation oder Institution glauben, werden in einer kritischen Situation nicht sofort aufgeben, sich zurückziehen oder abwandern, sondern engagiert bleiben und sich um eine Verbesserung der Zustände bemühen. Loyalität ist darum auch keine irrationale Bindung, sondern erfüllt eine wichtige soziale Funktion, insbesondere in schwierigen Situationen wie der, in der wir uns gegenwärtig befinden.
Denn die Demokratie steht nicht nur durch die antidemokratischen Angriffe gleichsam von außen unter Druck, sondern auch durch die multiplen Krisen unserer Zeit, auf die sie keine guten Antworten zu haben scheint – die Ausweitung von Kriegen und Konflikten, die ungebremste Klimaerhitzung und der ökologische Kollaps, wachsende Ungleichheit und mediale Desinformation. Hier setzt der Loyalitätsbegriff an: Loyalität kann Menschen an eine Institution glauben lassen, selbst wenn sie Grund zur Kritik an ihr haben und an ihr zweifeln. Sie zeigt sich in einem freiwilligen, kritischen und bewussten Akt der Verbundenheit und des Bleibens – einer Entscheidung, Veränderungen von innen zu fördern, anstatt die Brücke hinter sich abzubrechen. Hannah Arendt hat dies einmal mit folgendem Satz auf den Punkt gebracht: „Jeder Anhänger einer demokratischen Regierungsform weiß, wie wichtig eine loyale Opposition ist."
Eine so verstandene Loyalität gegenüber Institutionen, als demokratische Haltung, ist damit von anderen Formen der Bindung, die auf Gehorsam, Angst, Zwang und Gewalt basieren und die wir ebenfalls häufig loyal nennen, zu unterscheiden. Wir sehen dies aktuell in den USA, wo Trump von den Mitarbeitenden der Exekutive gerade gewaltsam Gehorsam erzwingen will, durch Drohungen, massenhafte Kündigungen und Versuche, auf massive Weise Verfassung und Gesetze zu brechen und die verbleibenden Beamtinnen und Beamten damit mitschuldig zu machen. Trumps Begnadigung der Täter des 6. Januar trägt diese Handschrift und will die Botschaft an alle senden: Seht, ich belohne Gefolgschaft mehr als alles andere und stelle mich dafür über das Gesetz. Doch das ist eine auf Angst und Gewalt basierende Machtgeste, die eher an einen Mafiapaten als an einen demokratisch gewählten Regierungschef erinnert.
Dieser gewaltförmigen Erzwingung von Gehorsam können Demokratinnen und Demokraten die Macht der Vielen entgegensetzen, bei der die Bindung an die gemeinsamen Regeln, die freie Zustimmung zu den Gesetzen, der Verfassung die Quelle der Loyalität darstellt–- und nicht Gefolgschaft und Unterwerfung unter einen „strong man“, einen Anführer. Demokratische Loyalität ist damit gerade die Alternative zu Gehorsam oder Zwang.
Die Bundeszentrale für politische Bildung vermittelt es in ihrer Bildungsarbeit genau so: „Wer sich loyal verhält“, so kann man im „jungen Politik-Lexikon“ lesen, „der beachtet Gesetze, verhält sich fair, handelt mit Anstand.“ Hannah Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt ist hilfreich, um die Unterscheidung von Loyalität und Gehorsam zu schärfen. Während Gewalt Gehorsam erzwingt – in der Regel durch Angst, Einschüchterung, Entrechtung, Verletzung und der Androhung des Todes – beruht Macht nach Arendt auf kollektivem Handeln und Freiwilligkeit.
Alle politischen Gemeinwesen und im besonderen Maße demokratische Gesellschaften beruhen nach Arendt auf der Zustimmung der Vielen: „Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht“, schreibt sie „ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat.“ Eine so gefasste demokratische Loyalität ist gekennzeichnet durch die Bindung an die Verfassung, die nach Arendt als ursprünglicher Vertrag aufgefasst werden kann. Ohne diese Unterstützung kann sich, so Arendt, keine Regierung langfristig halten. Macht kommt also – anders als Mao behauptet hat – nicht aus den Gewehrläufen.
Auch wenn es gerade in finsteren Zeiten, in denen die Gewalt ihre Urstände feiert, sich der Bruch von demokratischen Spielregeln durchzusetzen scheint, setzt sie sich, so Arendt, am Ende niemals durch. Die Macht der Vielen ist in der Lage, auf Gewalt basierende Herrschaftssysteme zusammenbrechen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. In einer Situation, in der die Demokratie durch antidemokratische Bewegungen in ihrem Inneren – oder sogar in der gewählten Regierung – bedroht wird, bedarf es dafür jedoch einer „loyalen Opposition“, die sich gegen das Abräumen und den Exit aus der Demokratie stellt und für den Erhalt der Spielregeln eintritt. Zum Beispiel in einer funktionierenden Bürokratie.
Mit anderen Worten: Nicht die aufgeregte Mischung aus Aktionismus und Empörung, nicht die Hyperpolitik scheint das Mittel gegen die Erosion der Demokratie zu sein, sondern eine gute Mischung aus Standhaftigkeit und Kritik. Oder, um in Hirschmans Vokabular zu bleiben: Das Zusammenspiel von Voice und Loyalty zu stärken ist das Lebenselixier der Demokratie.
Eine Verteidigung der demokratischen Lebensform und des mit ihr verbundenen zivilisatorischen Fortschritts kann nur gelingen, wenn Demokraten und Demokratinnen nicht nur versuchen, Angriffe auf Institutionen und Grundrechte abzuwehren, sondern das Eigene der Demokratie reflektiert, kritisch und mit langem Atem weiterzuverfolgen und mit Leben zu füllen.
Dazu gehört selbstverständlich erstens, den autoritären Angriffen auf Rechtsstaat, politische Ordnung, auf freiheitliche Kultur, Wissenschaft und Menschenrechte entschieden entgegenzutreten – und damit auch den Schutz einzelner Gruppen und Individuen sicherzustellen. Nicht mit großen rhetorischen Gesten oder einem leerlaufenden Empörungstheater, sondern mit dem kleinen, von mir aus „peniblen“ Bestehen auf demokratische Verfahrensregeln, bei denen jeder einzelne Schritt überprüfbar ist. Das etwa ist Sand im Getriebe der Kettensäge, von der Javier Milei, Christian Lindner oder Ulf Poschardt träumen. Die Verteidigung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität gegen autoritäre und gewaltsame Übergriffe, das Eintreten gegen Ideologien der Ungleichheit, gegen Rassismus und Antisemitismus, dies alles steht im Erbe der Aufklärung und hat bereits im vergangenen 20. Jahrhundert Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen zum Widerstand gegen den Faschismus motiviert.
Die Voraussetzung für diese Art der Wehrhaftigkeit, die überall in der Demokratie wirksam werden kann – in den Parlamenten, in der öffentlichen Verwaltung, in den Unternehmen, im Journalismus, im privaten Umfeld, ist ein klarer Kompass und Orientierung. Destruktivität und bewusstes Schockieren und Verwirren – dies alles im Medium des Digitalen verstärkt und mit nie gekannter Reichweite versehen – sind Strategien der Autoritären, um die Widerstandsfähigkeit zu schwächen und zu untergraben.
Darum ist es wichtig zu verstehen und einordnen zu können, was passiert. Moralische Verdrehungen klar zu erkennen und angesichts komplexer Konflikte nicht die Fähigkeit zum Urteilen und eine klare Haltung gegen jede Form der Grausamkeit zu verlieren. Hervorzuheben ist hier die Arbeit des Medienhauses Correctiv, die u.a. aufdeckten, wie AfD- und CDU-Mitglieder sich mit Rechtsextremen in Potsdam über Deportationspläne austauschten. Oder die Omas gegen Rechts, die sich mit beeindruckender Organisationskraft nicht nur der AfD, sondern jeder Form von Rassismus und Antisemitismus entgegenstellen, auch in der Linken.
Zweitens: Die neuen autoritären Bewegungen sind mit aller Macht darauf gerichtet, zu verhindern, dass wir uns um die eigentlich drängendsten Probleme unserer Zivilisation kümmern – und zwar unsere Lebensgrundlagen auf dem Planeten Erde zu erhalten. Die Zerstörung der Natur und ihre Folgen werden durch Verdrängung und die aktive Bekämpfung derjenigen, die sich für die Einhaltung der planetaren Belastbarkeitsgrenzen einsetzen, nicht verschwinden. Hier wird überdeutlich, warum Loyalität die Voraussetzung für solidarische Kritik an den Verhältnissen ist: Demokratische Staaten haben gerade im umweltpolitischen Bereich zwar viel auf den Weg gebracht, aber bislang keine Trendwende in den für die Menschheit zentralen Fragen wie Klimaschutz oder den Erhalt der Biodiversität erzielt. Dennoch ist die Demokratie, verstanden als Versprechen, gesellschaftliche Probleme und Konflikte gewaltfrei miteinander auszuhandeln, nicht das Problem, sondern Teil der Lösung.
Es ist möglich, sich im gemeinsamen Handeln sowohl im eigenen lokalen Umfeld als auch politisch übergreifend beispielsweise für Klimaanpassungsstrategien einzusetzen und konkret das Wohlergehen aller zu verbessern, etwa durch kühlendes Stadtgrün oder ausreichende Versickerungsflächen. Selbst kleinste Projekte, wie das Betreiben eines Klimagartens auf einem Baugrundstück in einem Wohngebiet, sind eben schon mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, beziehungsweise den auf den versiegelten Beton. Selbstverständlich werden solche Keimzellen nicht für eine globale Trendwende ausreichen; es braucht einen größeren Schwung, um Recht, Verwaltung und politische Institutionen so weiterzuentwickeln, dass sie diese Aufgaben mit und für die Bevölkerung auch effektiv leisten können.
Wir benötigen darum drittens politische Organisationsformen, die auf demokratische Loyalität und auf die Macht der Vielen als politischen Treibstoff für die notwendigen Veränderungen setzen. Eine der Ursachen der aktuellen Demokratiekrise besteht ja gerade darin, dass die starken Bindungen an ihre Institutionen in Auflösung begriffen sind, dass die politischen Parteien über keine sozialen Bindungen mehr verfügen oder – wie in Ostdeutschland seit 1990 – nie hatten, wie Steffen Mau in seinem Buch Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt eindrücklich beschreibt. Dagegenzusetzen ist der Kitt starker Bindungen und der demokratischen Loyalität, die das hervorbringen kann, was Hannah Arendt das Wunder des Zusammen-Handelns nennt. Albert O. Hirschmans eigenes antifaschistisches Engagement in den 1930er und 1940er Jahren ist ein gutes Beispiel für eine loyale Haltung. Er schloss sich, wie u.a. Willy Brandt, dem Netzwerk „Neu Beginnen“ an, einer Gruppe von linken Sozialdemokratinnen und Kommunisten, die in ihren – untereinander verfeindeten – Organisationen blieben und ein übergreifendes Netzwerk bildeten, um verbunden zu bleiben und als starker Zusammenschluss von Menschen den Faschismus zu überwinden und zu überdauern.
Neu beginnen – das ist auch ein gutes Motto für die Gegenwart. Es geht um nichts weniger als der Demokratie loyal verbunden zu bleiben und mit Selbstbewusstsein und Standhaftigkeit dafür einzutreten, allen Menschen ein Leben in Würde, in Freiheit und in einer intakten Natur zu ermöglichen; darum, zentrale zivilisatorische Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit, regelgeleitete gesellschaftliche Problemlösung, freie Wissenschaft und ganz grundsätzlich den Glauben an das friedliche Aushandeln von Konflikten fortzuführen und weiterzuentwickeln. Dies alles kann nur im gemeinsamen Handeln geschehen.