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Nebenfiguren in der Kunst und im Leben
Nur eine Randerscheinung - und doch unverzichtbar

Individualismus und Selbstverwirklichung lautet das Motto unserer Gesellschaft. Jeder möchte eine Hauptrolle spielen, Protagonist sein im eigenen Leben. In Film und Literatur zeigt sich hingegen: auch die Figuren am Rande haben eine wichtige Funktion.

Von Eva-Maria Götz | 01.12.2022
Rudolf Schündler (links) und Ellen Burstyn im Film "Der Exorzist" (USA 1973)
Rudolf Schündler hat in hunderten Film- und Fernsehproduktionen mitgewirkt und auch selbst Regie geführt - eine der bedeutsamsten Rollen war die des Dieners Karl im Horrorfilm "Der Exorzist" (imago/allstar/Warner Bros.)
„Der Name von Rudolf Schündler ist sicherlich nicht den allermeisten geläufig.“ Dennis Göttel, Professor für die Geschichte der technischen Medien an der Universität Köln, meint einen Schauspieler, den man nicht sofort kennt, den aber doch viele schon einmal gesehen haben. Zum Beispiel in seiner Rolle als fieser Lehrer Knörtz, der in der bundesrepublikanischen Filmreihe „Die Lümmel von der ersten Bank“ die Schülerschaft traktiert. Oder als humorloser Kunde von Heinz Rühmann in dem Melodram „Wenn der Vater mit dem Sohne“.

„Rudolf Schündler war ein veritabler Nebendarsteller, und auffällig ist daran, dass Schündler in einer Vielzahl an Filmproduktionen und Fernsehproduktionen mitgewirkt hat und dass es nach meinem Kenntnisstand keine einzige Hauptrolle war, die er gespielt hat, nie als Protagonist aufgetreten ist, sondern durchweg als Nebendarsteller.“

Rudolf Schündler, Jahrgang 1906, wirkte bereits 1933 im Film „Das Testament des Dr. Mabuse“ von Fritz Lang mit. Auch in Autorenfilmen von Hans-Jürgen Syberberg und Wim Wenders, in internationalen Hollywood-Großproduktionen wie dem „Exorzisten“. Seine Rollen waren zwar klein, oft winzig, aber doch nicht unwichtig:

„Mir ist es etwa bei „Der amerikanische Freund“ von Wim Wenders aufgefallen, wo Schündler einen Auktionator spielt und wo man sagen würde: Ja, eigentlich für die Handlung gar nicht so eine große Sache. Und dann guckt man noch mal hin. Und dann merkt man, eigentlich stößt er nämlich durch eine bestimmte Arglist, also er sticht was durch, eine Information - er stößt die gesamte Handlung eigentlich an.“
Mahershala Ali hält seinen "Oscar" als bester Nebendarsteller 2017 in der Hand
Immerhin: Bei der Oscar-Verleihung gibt es regelmäßig auch für Nebendarsteller Ruhm, Ehre und Anerkennung (AFP / FREDERIC J. BROWN)

Nebenrolle definiert sich durch Funktion

Professorin Stefanie Diekmann, Medienkulturwissenschaftlerin an der Universität Hildesheim: „Figurentheoretisch kann man sicherlich sagen, dass Nebenfiguren bis zu einem bestimmten Grad zweidimensional bleiben, also wirklich sehr stark über ihre Funktionen und in Relation zu den Hauptfiguren definiert sind. Nebenfiguren sind eigentlich die Akteurinnen, die Informationen, Objekte einbringen, andere Personen auch hereinbringen.“

Die Funktion von Nebenfiguren: sie lenken das Interesse der Zuschauer auf die Hauptfigur, sie bestimmen die Blickrichtung, manchmal sehen wir die Geschichte geradezu durch ihre Augen. Und sie sind zuständig für das Timing: durch ihr Auftreten können sie eine Handlung beschleunigen, aber auch verzögern. „Nebenfiguren werden dort wichtig, wo es Handlung gibt.“

Und trotzdem, in der Realität gilt: wir möchten keine Nebenrolle spielen. Doch wie wird man zum Hauptdarsteller im eigenen Leben? Andrea Seier, Professorin am Institut für Theater, Film und Medien der Universität Wien: „Die Hauptfigur im eigenen Leben, würde ich sagen, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich selbst als Quelle der des eigenen Handelns versteht, als Ort, von dem das eigene Handeln ausgeht und mit Bedeutung versehen wird.“

Das heißt, man muss es sich zutrauen und selbst Entscheidungen treffen, die die eigene Lebenshandlung voranbringen. Nicht immer einfach. „Und da gibt es aber, denke ich, viele Situationen, in denen wir vielleicht gar nicht überzeugt sind davon, dass das der Fall ist, dass wir selbstbestimmt durchs eigene Leben, durch den eigenen Alltag uns bewegen.“

Verzettelt im Drehbuch des Lebens

Ein Beispiel für das Schwanken zwischen Haupt- und Nebenrolle hat Andrea Seier in der Literatur gefunden: eine Hauptfigur in dem Roman „Ja, ok, aber“ von Peter Licht, deren Zustand exemplarisch sein könnte für ein weitverbreitetes Lebensgefühl heute: „Diese Figur in Peter Lichts Roman mietet sich ein in einen Co-Working-Space und die Tätigkeit, der er nachgeht, kann man vor allen Dingen als Prokrastinieren beschreiben.“

Also: etwas, was man tun muss, immer wieder und wieder aufzuschieben, weil man nicht weiß, wo man anfangen soll. „Und dann gibt es eben eine sehr schöne Stelle, an der sich diese Figur mit dem eigenen Aussetzen von Handeln oder von Arbeit, in dem Fall beschäftigt. Und das auch sehr gut beschreibt, dass das Prokrastinieren darin besteht, dass es nicht ein Plot gibt, den Mann verfolgt, also eine Handlung, die ausgeführt wird, sondern dass es so viele Möglichkeiten gibt, Plots zu entwickeln, also Tätigkeiten nachzugehen. Und die Figur ‚der Mann mittleren Alters‘ lässt sich ablenken und wird dann plötzlich zur Nebenfigur in dem Projekt der Kolleginnen.“

Und doch können Nebenfiguren in der Realität in eine Hauptrolle rutschen – gerade, weil sie die Regie über ihr Leben anderen überlassen. Ein Beispiel ist der lebenslange Nebendarsteller Rudolf Schündler. Immer verkörperte er in seinem Kurzauftritten einen bestimmten Typus. Medienhistoriker Dennis Göttel: „Figuren, die versponnen sind, eigenbrötlerisch, skurril, auch komisch entrückt in einer gewissen Weise. Und was sich als ein anderes Moment quasi immer wieder ereignet ist das Überreizte, das Überhebliche, auch arrogante Tobsüchtige.“

Der typische "Mitläufer" - eine deutsche Hauptrolle?

Für Dennis Göttel verkörpert Rudolf Schündler damit einen Charakter, den Erich Fromm als „typisch deutschen Gesellschaftscharakter“ bezeichnet hat: „Und das schien mir sehr interessant zu sein, das mit meiner Wahrnehmung von Schündlers Figuren, von Schündlers Nebenfiguren in eine Korrespondenz zu setzen. Also einerseits dieses Aufbrausende, das Agressive, umgekehrt dieses oftmals auch Untertänige, das Verschrobene.“

Dass Rudolf Schündler auch in NS-Propagandafilmen mitgespielt hat und direkt nach Kriegsende wieder in den bundesrepublikanischen Unterhaltungsfilmen der 50er Jahre auftauchte, macht ihn so: „zu einer paradigmatischen Figur des Verdrängens.“ Also zu einer Charaktermaske des typischen „Mitläufers“. Was in der deutschen Geschichte ja fast schon wieder eine Hauptrolle wäre.