Donnerstag, 28. März 2024

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Kriegsfolgen und Völkerrecht
Deutschlands Umgang mit Reparationsansprüchen

Kann historische Schuld verjähren? Wie steht es um die Forderungen nach Reparation und Entschädigungen für die deutschen Verbrechen im zweiten Weltkrieg? Das sind Fragen, die die deutsche Politik immer wieder beschäftigen und einholen.

Von Patric Seibel | 27.10.2022
Beim Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1.9.1939 reißen Soldaten der deutschen Wehrmacht einen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze nieder.
Der deutsche Überfall 1939 und danach der gesamte zweite Weltkrieg haben in Polen zu ungeheuren Zerstörungen geführt - die polnische Regierung fordert dafür nun Reparationszahlungen in Höhe von 1,3 Billionen Euro. (picture-alliance / dpa)
Dass der Faktor Zeit eine ganz entscheidende Rolle für die Bewertung von historischen Ereignissen spielt, ist in der Geschichtswissenschaft eine grundlegende Position. Einerseits ist ein gewisser zeitlicher Abstand wichtig, um Vorgänge besser überblicken zu können. Hinzu kommt aber noch ein anderer zeitlicher Effekt: Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte ändern sich kulturelle Muster und damit auch die Maßstäbe für die Bewertung von Ereignissen. So kann beispielsweise eine Sensibilität für historisches Unrecht wachsen oder sogar erst entstehen.

Für Annette Vowinckel, Zeithistorikerin an der Humboldt-Uni Berlin, ist die deutsche Nachkriegsgeschichte ein gutes Beispiel für die kulturelle Wirkkraft der Zeit – ganz im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung: „Intuitiv würde man sagen: je weiter ein Ereignis in die Vergangenheit rückt, desto weiter ist man auch mental oder emotional oder politisch davon entfernt. Ich würde sagen: das ist ein Trugschluss, weil es bei bestimmten Ereignissen auch eine gewisse Zeit braucht, bis man anfängt, darüber zu sprechen und die Dinge historisch oder persönlich oder kollektiv zu verarbeiten. Der Fall der sogenannten Wiedergutmachung nach dem zweiten Weltkrieg ist vielleicht ein ganz gutes Beispiel.“

„Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Der Feldzug in Polen ist beendet. In einer zusammenhängenden Reihe von Vernichtungsschlachten wurde das polnische Millionenheer geschlagen, gefangen oder zersprengt.“

In sachlich-kühlem Ton meldet die Wehrmacht im Herbst 1939 den militärischen Sieg über Polen. Als der Krieg dann knapp 6 Jahre später vorbei ist, liegt das Land in Trümmern. Der Historiker Karl Heinz Roth arbeitet für die Stiftung für Sozialgeschichte in Bremen. Er ist Experte für Kriegsschäden im zweiten Weltkrieg:

„Deutschland hat in Polen den ersten Vernichtungskrieg des 2. Weltkriegs geführt. Während der ganzen Okkupationspolitik sind ungeheure Massenverbrechen begangen worden. Es sind ungeheure Zerstörungen erfolgt - beispielsweise die fast komplette Zerstörung von Warschau. Das besetzte Polen wurde gleichzeitig der Ort der Shoa, der Ort der Massenvernichtung der europäischen Juden.“

Aufschub für die Reparationsschulden

Sich diesen Verbrechen zu stellen, das gelingt im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland den Wenigsten, erklärt Annette Vowinckel: „Weil das Land voll war von ehemaligen Wehrmachtssoldaten, die eine militärische Niederlage erlitten hatten. Und um aus diesem kollektiven Bewusstsein heraus zu kommen, braucht es einen Grundkonsens, dass man sich mit seiner eigenen Geschichte kritisch auseinandersetzen muss. Das kommt uns heute selbstverständlich vor, das war es aber nicht in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg und zwar deshalb nicht, weil einfach so viele Leute den öffentlichen Diskurs mit dominiert haben, die eigene Aktien in der Geschichte hatten, die selbst beteiligt waren.“

Dazu kommt, dass Deutschland, anders als nach dem ersten Weltkrieg, nur einen Bruchteil der Reparationen zahlen muss. Auf der Londoner Schuldenkonferenz von 1953 erreicht der deutsche Verhandlungsführer Herman Josef Abs, unter Hitler einer der führenden Finanzmanager des Reichs, dass die deutschen Reparationsschulden gestundet werden. Der Aufschub gilt laut Vertragstext bis zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung oder bis zum Abschluss eines Friedensvertrags oder einem vergleichbaren Vertrag.

Bis sich das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik ändert und über die NS-Verbrechen geredet wird, dauert es Jahrzehnte. Auch, weil viele Täter und Mitläufer in Justiz, Verwaltung und Politik saßen, sagt Karl Heinz Roth: „Bis zur Sozialrevolte, zur Studentenbewegung der späten 60er-Jahre herrschte ein Restaurationsklima, in dem es eine apologetische Tendenz gab, die Kriegsverbrechen herunterzuspielen und die Kriegsverbrecher zu rehabilitieren. Das ist völlig evident und auch in der historischen Forschung aufgeklärt worden.“
Bundeskanzler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau, das den Helden des Ghetto-Aufstandes vom April 1943 gewidmet ist.
Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970 - ein Symbol für die veränderte deutsche Sicht auf die Kriegsschuld (picture-alliance / dpa / Bildarchiv)

Zahlungen werden als "freiwillig" deklariert

Ein wichtiges Datum für den Kulturwandel im Umgang mit den deutschen Verbrechen ist der 7. Dezember 1970, so Karl-Heinz Roth: „Dann kam der Kniefall von Willy Brandt vor dem Denkmal der Opfer des jüdischen Aufstands von Warschau. Und der hat natürlich zusammen mit vielen anderen Entwicklungen, beispielsweise den Spätfolgen der Frankfurter Auschwitzprozesse, dann aber auch mit den Aufklärungsarbeiten einer kritisch engagierten Geschichtswissenschaft, der hat dann zu einer Veränderung geführt.“

Der Historiker schränkt allerdings ein: materiell habe sich trotz veränderter Rhetorik nichts getan: „Wir haben auf der einen Seite den Kniefall, auf der anderen Seite aber interne Diskussionen in der neuen Bundesregierung von 1969/79, bei der Eröffnung der neuen Ostpolitik: Was machen wir, wenn aus Osteuropa und aus Ostmitteleuropa Reparations- und Entschädigungsforderungen kommen? Da gab es gutachtliche Stellungnahmen und man hat sich dann darauf verständigt, überhaupt keine Reparationsleistung zu zahlen, sie abzulehnen. “

Als weiterer Meilenstein auf dem Weg, sich zumindest verbal zur deutschen Schuld zu bekennen, gilt die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985, dem 40. Jahrestags des Kriegsendes:

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.“

In den folgenden Jahrzehnten setzt eine intensive Gedenk- und Erinnerungskultur ein. Zugleich betonen die jeweiligen Bundesregierungen bei den Zahlungen an die geschädigten Länder den humanitären und freiwilligen Charakter der Überweisungen, und zwar auch schon im Rahmen der sogenannten Globalabkommen der 1960er Jahre.

"2+4-Vertrag" zur Umgehung der Reparationsfrage

Dann kommt die deutsche Vereinigung. Und damit der historische Augenblick, in dem laut dem Londoner Abkommen von 1953 die deutschen Reparationsschulden fällig werden. Doch die Regierungen der Bundesrepublik und der DDR schließen mit den vier einstigen Alliierten; USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion keinen formellen Friedensvertrag. Sondern den sogenannten 2+4–Vertrag. In diesem wird die Reparationsfrage einfach nicht erwähnt. Länder wie Polen oder auch Griechenland gehen leer aus.
Für Karl-Heinz-Roth ein klarer Rechtsbruch, denn nach internationalem Recht dürfen Verträge zwischen Staaten nicht zu Lasten unbeteiligter Länder gehen: „Inzwischen sind auch erhebliche Teile der damaligen Geheimdokumente zugänglich geworden; seit Ende der 90er-Jahre war das schon der Fall - und aus ihnen kann man sehen, wie die deutsche Bundesregierung, unterstützt von den USA, immer darauf gedrängt hat, diesen abschließenden Vertrag nicht als Friedensvertrag anzusehen, weil in einem Friedensvertrag quasi automatisch die Reparationsfrage mit angegangen werden muss.“

Unter Völkerrechtlern ist die Frage der Reparationsansprüche umstritten und Deutschland hat sich in dieser Frage nicht der Rechtsprechung des internationalen Gerichtshofs unterworfen. Das bedeutet: In Fragen von Reparationsansprüchen kann der Internationale Gerichtshof keine Urteile gegen Deutschland fällen. Die deutsche Position hält Stephan Lehnstaedt, Historiker und Professor für Holocauststudien am Touro-College Berlin für diskussionswürdig: „Das ist zutiefst widersprüchlich, weil es den Eindruck vermittelt, mindestens im Ausland und eben nicht nur in Polen, die Deutschen sind immer gut, um Verzeihung zu bitten, aber das darf nichts kosten; und dieser Eindruck ist schon sehr naheliegend.

Polnische Forderungen von der Höhe her "plausibel"

Wie sehr setzt sich die deutsche Gesellschaft also eigentlich wirklich mit den Verbrechen der NS-Zeit auseinander? Annette Vowinckel gehört zu denjenigen, die bemängeln, dass die Verbrechen der Vergangenheit hinter der Fassade einer routinierten Erinnerungskultur zu verschwinden drohen: „Ich glaube, die große Gefahr in Deutschland ist, dass wir an so einem Punkt sind, an dem vieles, was diese Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung betrifft, eigentlich zu Floskeln erstarrt. Das sind so politische Äußerungen, wo man weiß, die werden von jedem erwartet, der irgendwo einen Kranz niederlegt und das wird dann auch gebetsmühlenartig wiederholt. Was das dann aber eigentlich heißt, ist eine Frage, die offener ist, als es das lange Zeit gewesen ist.“

Aktuell hat Polen seine offenen Reparationsforderungen gegenüber Deutschland angemeldet. Das Gutachten einer Expertenkommission kommt auf eine Schuld in Höhe von 1,3 Billionen Euro. Karl-Heinz Roth, der selbst ein Grundlagenwerk zu den Reparationsforderungen vorgelegt hat, hält die Rechnung für plausibel. Von der Gesamtsumme in Höhe von 1,3 Billionen Euro müsse allerdings, so Karl-Heinz Roth, der Wert der abgetretenen deutschen Ostgebiete, sowie die bereits geleisteten Reparationen abgezogen werden – umgerechnet eine Summe von 160 Milliarden Euro. Eine Restschuld von mehr als einer Billion allerdings bliebe.

Diese Rechnung bestätigt auch Stephan Lehnstaedt. Insgesamt habe Polen damit etwa 13 Prozent seiner Forderungen erhalten – das sei etwa eine ähnliche Größenordnung, wie bei den Reparationszahlungen an die Westalliierten, rechnet Lehnstaedt vor. Einen großen Unterschied gebe es dagegen beim Umgang mit den Überlebenden: „Und da sehen wir, dass die Überlebenden in Polen grotesk schlechter gestellt sind. Über den Faktor zehn können wir reden. Die sind wirklich benachteiligt worden. Viele von ihnen haben gar nichts erhalten, viele haben erst im Rahmen der Zwangsarbeiterentschädigungen 2001 kleine Einmalzahlungen, der Durchschnittsbetrag liegt da bei 4.000 Euro, bekommen, und längst nicht alle haben was bekommen. Und das ist der große Unterschied.“

Diesen Überlebenden könnte – so gewollt - schnell geholfen werden, sagt Lehnstaedt, die Namen seien bekannt, es handle sich um rund 20.000 Personen im höheren Alter - und es würden täglich weniger.

Gesellschaftlicher Dialog könnte "sehr wohl zu Zahlungen führen"

Schwieriger sei es bei den eigentlichen Reparationen, meint der Historiker; vor allem angesichts der Höhe der geforderten Summe. Aber es müsse ein gesellschaftlicher Dialog zwischen beiden Ländern in Gang kommen, denn vor allem hier in Deutschland sei viel zu wenig über Reparationsansprüche bekannt:

„Dann haben wir diesen Bericht und die deutsche Reaktion ist eher: Ihr spinnt; 1,3 Billionen – aber vielleicht wäre es mal angemessen, etwas zu sagen im Sinne von: Wow - das ist der Schaden, den wir damals angerichtet haben? Kaum zu glauben! Oder vielleicht auch mal wahrzunehmen, wie kommen die Polen auf diese Summe? Also, wie gesagt, dieses Summe ist überhaupt nicht absurd, diese gigantische Summe, die ist realistisch. Und ich glaube, dass wir hier einen Dialog brauchen, der am Ende sehr wohl zu Zahlungen führen kann, aber wo es eben darum geht, die gegenseitigen Positionen auch wahrzunehmen.“

Ob die Diskussion um Reparationszahlungen an Polen und auch an Griechenland tatsächlich beginnt, das ist eine politische Frage. Historiker:innen können dazu nur Anregungen aus der Forschung geben. Ein Beispiel, dass Ansprüche auf Entschädigungen über einen sehr langen Zeitraum zunächst kein öffentliches Thema waren und es dann doch wurden, nennt Anette Vowinckel: Sie verweist auf die Ansprüche der Nachfahren der Herero und Nama. An Angehörigen dieser namibischen Bevölkerungsgruppen verübten deutsche Kolonialtruppen zwischen 1904 und 1908 Kriegsverbrechen und Völkermord.

„Wo oft das Argument gebracht wird, das ist doch schon so lange her, das muss man doch mal ruhen lassen - und da braucht es dann letztendlich eine politische Kraft, um so was auf die Agenda zu setzen. Und der Erfolg ist letztendlich unabhängig davon, wie lange ein Ereignis zurückliegt.“