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S-Bahn-Bau in München
Ohne Halt ins Planungschaos

Die Fertigstellung der zweiten Stammstrecke der Münchner S-Bahn rückt in immer weitere Ferne, frühestens 2035 soll das Projekt fertig werden. Dessen Kosten haben sich bereits verdoppelt. Streit herrscht darüber, wer die Verantwortung dafür trägt.

Von Michael Watzke und Lisa Weiß | 05.10.2022
Ausbau der S-Bahn,2.Stammstrecke in Muenchen, Tunnel,Tunnelbau.2.Roehre. S-Bahn am S-Bahnhof Donnersberger Bruecke in Muenchen Bahn,Zug.Pendler,Oeffentlicher Personennahverkehr (OEPNV).Stammstrecke, Zuege,Gleise,Bahnen,Muenchen. ?
Ausbau der S-Bahn Stammstrecke in München. (picture alliance / SvenSimon / Frank Hoermann / SVEN SIMON)
"Wir sind in einer Tiefe, wo vorher in München noch keiner gebaut hat", sagt Alexander Jambor, Ende 30. Bau-Ingenieur, Familienvater.
Mit Helm und Sicherheitsweste steht er in der größten Baugrube Münchens. Hinter ihm das Rathaus, die Türme der Marienkirche – und ein 30 Meter hoher Seilbagger. Jambor grinst so breit wie die Baggerschaufel:
"Mein täglicher Motivations-Schub! Man muss echt sagen, das ist eine gewaltige Baustelle, die wir hier hinter uns haben. Unterirdisch! 100 Meter Länge, knapp 50 Meter Breite. Ziemlich genau ein Fußballfeld. Und eben diese 50 Primärstützen, die in dem Fußballfeld stehen."

Ein S-Bahn-Tunnel quer durch München

Diese Pfeiler aus Beton und Stahl reichen fast 80 Meter in die Tiefe. Sie halten den massiven Deckel über der Grube, auf dem Kräne sich drehen und Stahlgitter verladen. Hier entsteht einer von drei unterirdischen Bahnhöfen der Zweiten Stammstrecke. Es ist ein S-Bahn-Tunnel quer durch München, sieben Kilometer lang, von West nach Ost. Er wird parallel zur ersten Stammstrecke verlaufen. Hier sollen irgendwann in ferner Zukunft Expresszüge durchrauschen wie durch ein Nadelöhr. Am Ende des Tunnels verteilen sich die S-Bahnen dann in alle Himmelsrichtungen.
Bau-Ingenieur Alexander Jambor auf der Baustelle des zukünftigen S-Bahnhofs „Marienhof“ in München
Bau-Ingenieur Alexander Jambor auf der Baustelle des zukünftigen S-Bahnhofs „Marienhof“ in München (Michael Watzke / Deutschlandradio)
Es ist ein besonderer Tag für Jambor, den Leiter eines Ingenieur-Teams, das die einzelnen Entwicklungsschritte der Baustelle Marienhof vorbereitet. Denn ein neuer Bau-Abschnitt beginnt:
"Jetzt kriegen Sie live die erste Schaufel mit!"
"Was heißt erste Schaufel?"
"Na, die erste Schaufel vom Aushub minus 2."
Aushub minus 2 bedeutet: Die 60 Bauarbeiter und Ingenieurinnen beginnen mit dem zweiten von fünf Untergeschossen der künftigen S-Bahn-Haltestelle Marienhof. Der Seilbagger greift in den frischen Sand in der Tiefe. In seiner Klappschaufel verschwindet Erdreich vom Gewicht zweier ausgewachsener Elefanten.
"Bei uns läuft’s echt gut gerade, echt planmäßig im Moment. Wir kriegen alles so hin, wie wir’s uns vorgestellt hatten", so Jambor.

"Es bleibt dabei – wir sind nicht glücklich"

Das würde Markus Söder auch gern sagen. Der bayerische Ministerpräsident steht Ende September in einem Pressekonferenz-Saal, nicht weit von der Baustelle entfernt. Neben ihm sein Verkehrsminister Christian Bernreiter und der Chef der Deutschen Bahn, Richard Lutz.
Doch Söder grinst nicht – er blickt angespannt in die Kameras. "Es bleibt dabei – wir sind nicht glücklich. Aber es ist wichtig, in einer so wichtigen Frage besonnen und vernünftig zu agieren. Ich bin gegen Schwarze-Peter-Spiele. Das gilt ausdrücklich für alle Beteiligten. Weder mit dem Bund noch der Stadt München. Es hat auch keinen Sinn, nach Ausreden zu suchen."
Ausreden für das, was Bahn-Chef Lutz Minuten zuvor offiziell zugegeben hat, und was Kritiker ein Baudebakel in der Größenordnung des Berliner Flughafens nennen: Die zweite Stammstrecke der Münchner S-Bahn wird fast doppelt so teuer wie geplant – und die Bauzeit doppelt so lange. Statt neun Jahren Bauzeit sollen es nun 18 sein.

"Kosten erhöhen sich auf sieben Milliarden Euro"

"Die Gesamtkosten erhöhen sich auf sieben Milliarden Euro. Und auf Basis der aktuellen Planungen und Erkenntnisse gehen wir von einer Inbetriebnahme der zweiten Stammstrecke im Jahr 2035 aus", so Lutz.
Das sei die optimistische Annahme. Es könne aber auch noch zwei Jahre länger dauern. Bis 2037.
Söder weiß um die Brisanz des Projektes "Zweite Stammstrecke" und geht deshalb in Verteidigungsstellung:
"Bayern plant nicht und Bayern baut nicht. Wir planen und bauen nicht. Darum sind übrigens Vergleiche mit anderen Projekten wie Flughäfen nicht korrekt. Bau- und Planungsträger ist in dem Fall die Bahn."

Bayern zahlt 3,7 Milliarden Euro

Aber Bayern zahlt. 3,7 Milliarden Euro. Mehr als die Hälfte der Gesamtkosten. Und fast wäre es noch teurer geworden für den Freistaat – wenn der Bund nicht drei Milliarden Euro zuschießen würde. Das sind 60 Prozent der förderfähigen Projektkosten. Die zahlt Berlin nur, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis eines Bauvorhabens über dem Wert von 1 liegt – wenn also der Nutzen größer ist als die Kosten. Bei der zweiten Stammstrecke liegt der Wert mit 1,06 nur knapp darüber. So steht es in den Planungs-Unterlagen der Bahn. Und das, obwohl Georges Rey sagt:
"Nur mit einer zweiten Stammstrecke lassen sich die Pendler-Wunschlinien am besten befriedigen."
Georges Rey ist Bau-Ingenieur bei der Schweizer Verkehrs-Beratungsfirma "SMA und Partner AG" und für den Markt in Süddeutschland zuständig. Er sitzt in seinem Büro in Zürich, hinter ihm stehen Modelleisenbahnen in einer Vitrine. Rey hat das Projekt "Zweite Stammstrecke" von Anfang an begleitet:
"Die beiden Stammstrecken werden für eine Leistungsfähigkeit von 30 Zügen pro Stunde und Richtung ausgelegt, also praktisch eine Verdoppelung."
Tief unter Reys Büro fährt die Züricher S-Bahn durch ihre zweite Stammstrecke. Die Schweizer Metropole, ähnlich groß wie München, hat den rund zehn Kilometer langen Tunnel 2015 eingeweiht – pünktlich und im vorgesehenen Kostenrahmen. Was die Schweizer anders gemacht haben als München? Sie haben vor Baubeginn die Züricher Bürger befragt – und die haben mit 84 Prozent für die "Durchmesser-Linie" gestimmt, wie die Züricher die Stammstrecke nennen.

Widerstand der Bevölkerung

Georges Rey möchte München ungern kritisieren, schließlich berät er auch das bayerische Verkehrsministerium. Er glaubt aber, der Widerstand der Bevölkerung sei Teil des Problems:
"Die Möglichkeiten der Einsprache sind in Deutschland besser ausgebaut als in der Schweiz. Das ist dann auch schwierig kalkulierbar, gerade bei Planfeststellungs-Verfahren, wie lange so etwas dauert. Das sind für mich schwerwiegende Themen, und ich glaube, die werden sich auch in der Zukunft nicht groß verbessern."
Einer, der sich gegen diese Pläne wehrt, ist Walter Heldmann von der Bürgerinitiative "Haidhausen S-Bahn-Ausbau". Er sitzt auf einer Parkbank am Vorplatz einer Kirche, neben ihm auf einer Grünfläche spielen Kinder. Es wirkt ruhig hier, fast schon idyllisch. Eigentlich hätten hier im Viertel längst die Bulldozer anrücken und Teile Haidhausens in eine große Baustelle verwandeln sollen.
Walter Heldmann kämpft seit Jahren gegen den Tunnel, gegen die Baustellen vor der Haustür. Seit 40 Jahren lebt er in Haidhausen, hat die Planungen, die Umplanungen, das Hin- und Her hautnah mitbekommen. Wenn man ihn bittet, ein bisschen die Geschichte des Projekts zu erzählen, lächelt er und sagt:
"Jetzt fang ich aber wirklich bei Adam und Eva an."

Diskutiert wird der Ausbau seit den 1990er Jahren

Genauer gesagt: 1972. Damals, pünktlich zu den Olympischen Spielen, wurde die erste S-Bahn-Stammstrecke in München eröffnet - das Kernstück war und ist ein Tunnel, durch den noch heute so gut wie alle S-Bahn-Linien fahren. Schon bald war klar: Die Stammstrecke wird zum Engpass. Und ab den 1990er Jahren wurde im Münchner Stadtrat diskutiert, wie man das Problem lösen kann – nach jahrelangen Diskussionen entschied sich die Stadt für einen weiteren Tunnel.
"Und dann hat man losgelegt. Und das war 2001 und da waren wir in Haidhausen noch im Tiefschlaf. Ich persönlich zumindestens. Ich hab also das gar nicht so richtig zur Kenntnis genommen, hab mir gedacht, ja dann bauens halt irgendwo ihren Tunnel", so Heldmann.
2005 wurden dann die Baupläne bei einer Bürgerversammlung in Haidhausen vorgestellt. Da sei ihm und vielen anderen dann bewusst geworden, wie viel für den zweiten Tunnel in Haidhausen umgegraben werden sollte, erinnert sich Walter Heldmann. Zusammen mit Freunden und Nachbarn hat er dann die Bürgerinitiative gegen den Tunnel gegründet und große Demos organisiert. Schließlich wurden die ursprünglichen Planungen verworfen.

"Die haben sich einfach verplant"

Der Protest der Bürger sei gesehen worden, sagt Heldmann, gibt aber auch zu:
"Also aber im Grunde genommen, lag’s mehr an den technischen Problemen. Die haben sich einfach verplant. So. Das war die erste Variante. Inzwischen ist man bei der vierten, inzwischen gab’s drei weitere Planungen, die zweite Planung wurde aufgestellt und wieder verworfen, aus anderen Gründen, ja. Die dritte Planung wurde auch verworfen, ja."
Mal sei der Platz für den Tunnelaufgang zu knapp kalkuliert gewesen, mal habe in den Planungen ein Bahnsteig an einem strategischen Haltepunkt gefehlt, mal seien es statische Probleme gewesen – die Baufirmen hätten Angst gehabt, dass alles zusammenbricht, zählt Heldmann auf.
Und dann war da ja auch noch das Sicherheitskonzept. Das musste überarbeitet werden, unter anderem wegen der langen Bauzeit. Für Walter Heldmann ist klar: Dieser Tunnel hat jetzt schon mehr Bauverzug als die Elbphilharmonie in Hamburg und der Pannen-Flughafen BER. Und das, obwohl der Tunnel noch gar nicht fertiggestellt ist.

"Ich möchte, dass wir im Kostenrahmen bleiben und im Zeitrahmen"

April 2017. Der erste Spatenstich am Münchner Marienhof. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt ist da, Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter. Und Bayerns damaliger Ministerpräsident Horst Seehofer, der in seiner langen Eröffnungsrede den bemerkenswerten Satz sagt:
"Ich möchte nicht, dass Bayern ein Beispiel bietet wie der Flughafen Berlin. Ich möchte, dass wir im Kostenrahmen bleiben und im Zeitrahmen."
Danach: gemeinsames Drücken auf den roten Knopf, Applaus, Blasmusik. Fünfeinhalb Jahre später steht Bau-Ingenieur Alexander Jambor an der gleichen Stelle, nur zehn Meter tiefer, und spricht von Magie:
"Bei mir im Projekt-Management ist immer dieses magische Dreieck: Kosten, Termine, Qualität. Das heißt, wir sollen a.) in den Kosten bleiben, b.) in den Terminen und c.) eine möglichst gute Qualität abliefern. Dieses magische Dreieck ist deswegen magisch, weil sich das natürlich alles widerspricht. Je teurer es wird, desto besser kriege ich die Qualität hin. Wenn ich schneller machen soll, leidet meistens die Qualität – oder es steigen die Kosten. Das Ganze im Gleichgewicht zu halten und zu schauen, dass die Baustelle das hat, was sie braucht – das ist mein Job."

Baupreis-Steigerungen und Inflation

Auch bei Jambor schlagen Baupreis-Steigerungen und Inflation durch. Gefühlt wollten derzeit alle bauen, sagt der Ingenieur. Seit dem Ukraine-Krieg muss der Stahl für die Deckenplatten ersetzt werden, der ursprünglich aus den Asow-Stahlwerken in Mariupol geliefert werden sollte. Die hat Russland vor vier Monaten nach wochenlangen Kämpfen ausgebombt. Auf einigen Baustellen der zweiten Stammstrecke sind die Arbeiten ins Stocken geraten, aber darüber zerbricht sich Jambor nicht den Kopf:
"Ehrlich gesagt nicht, weil ich keine Zeit dafür habe. Bin voll ausgelastet. Wir sind hier auf der Insel der Glückseligen, weil wir den riesigen Vorteil haben, dass wir nicht unter rollendem Rad bauen müssen. Das heißt, wir haben hier keinen Eisenbahn-Betrieb."
Anders am Münchner Hauptbahnhof. Hier fahren weiterhin S-Bahnen, Fernzüge und U-Bahnen. Gleichzeitig sollen ein Stammstrecken-Bahnhof, eine zusätzliche U-Bahn-Linie und ein komplett neues Bahnhofsgebäude entstehen – ein höchst kompliziertes Unterfangen.

"Staatsregierung vertuscht und verheimlicht"

Ortstermin mit Markus Büchler, der bei den Grünen im Bayerischen Landtag für das Thema Mobilität zuständig ist. Auf der rechten Seite ist die Bahnhofshalle des Münchner Hauptbahnhofs. Büchler zeigt auf die Stelle, an der die aktuelle S-Bahn-Stammstrecke im Untergrund verschwindet:
"Ja, die zweite Stammstrecke, die kommt direkt neben die bestehende Stammstrecke. Die wird dann weiter links vorne, wird die abtauchen. Unterirdisch und am Hauptbahnhof einen neuen zusätzlichen Haltepunkt bekommen. So ist der Plan."
Ein Plan, den Büchler für unsinnig hält. Auch, weil Kosten und Bauzeit so explodiert sind. Er fordert: Man müsse das Projekt auf den Prüfstand stellen. Es werde immer wieder argumentiert, dass ein Rückbau Milliarden kosten würde. Aber in Wahrheit sei doch noch fast gar nichts gebaut, sagt der Grünen-Politiker. Dass die bayerische Staatsregierung jetzt von drei Milliarden Abbruchkosten spreche, sei völliger Unfug. Die Regierung solle das vorrechnen, so der Oppositionspolitiker. Denn für ihn sehe es so aus, als hätte sie sich das einfach mal schnell selbst zusammengereimt:
"Die Befürworter dieses Projekts, allen voran die bayerische Staatsregierung, die das auch maßgeblich durchgeboxt hat und die Finanzierung durchgeboxt hat, für dieses Projekt, für die damals 3,8 Milliarden, will das Projekt weiter unbedingt durchdrücken. Und deswegen rechnen sie jetzt die Projektabbruchkosten astronomisch hoch, damit es weiter vorangehen soll. Das ärgert mich wahnsinnig, das ärgert mich genauso, wie die Tatsache, dass die Staatsregierung schon seit zwei Jahren Bescheid weiß, dass das sehr viel teuer wird und sehr viel länger dauern wird, aber das vertuscht und verheimlicht."

Opposition wirft Söder vor, die Kosten-Explosion verschwiegen zu haben

Die Opposition wirft Ministerpräsident Söder von der CSU vor, er habe die Kosten-Explosion deshalb verschwiegen, weil er vor zwei Jahren Bundeskanzler-Kandidat der Union werden wollte und keine schlechten Nachrichten gebrauchen konnte. Söder bestreitet das:
"Die Indizien, die es gab, und die Einzelgespräche, ja, die gab es. Daraufhin hat der Freistaat Bayern auch immer wieder gehandelt, hat nachgefragt und wollte die Zahlen klären. Deswegen gab es Kommunikation mit dem Verkehrsminister, damals Scheuer. Und es war immer das gleiche: Es gab keine Bestätigung und keine Zeit- und Kosten-Achse, die vorgegeben wurde. Erst jetzt ist es da."

"Controlling wird effektiviert und auf neue Beine gestellt"

Aber Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, ein CSU-Parteifreund Söders, hatte schon 2019 eine exorbitante Kostensteigerung angekündigt. Die bayerische Staatsregierung reagierte aber nicht, obwohl sie Hauptzahler der zweiten Stammstrecke ist. Erst jetzt, nach der Verdoppelung der Kosten, kündigt Söder an:
"Der Freistaat Bayern wird ein strengerer Begleiter werden. Das muss sein, gerade in dieser Phase. Es geht um sehr viel Steuergeld. Strenger Begleiter heißt: das Controlling wird effektiviert und auf neue Beine gestellt."
Sogar ein Landtags-Gremium soll es geben, das die Staatsregierung ab jetzt kontrolliert. Das haben die Freien Wähler durchgesetzt, Söders Koalitions-Partner.

Ausbau des Südrings als Alternative

Markus Büchler von den Grünen reicht das nicht. Er fordert die Staatsregierung auf, den Ausbau des Südrings als Alternative zum zweiten Tunnel zu prüfen – das ist die Trasse, die nicht durch die Innenstadt führt:
„Auf der verkehren bereits Züge, also wer mal von München nach Wien gefahren ist beispielsweise oder nach Salzburg, der ist darauf gefahren. Da fahren die Züge vom Münchner Hauptbahnhof in einem Halbbogen um die Innenstadt herum. Und diese zwei Gleise könnte man ertüchtigen und ausbauen, zum Beispiel auf vier Gleise, so dass die S-Bahn da zwei bekommt und könnte mit einem Bruchteil der Kosten und einem Bruchteil der Bauzeit hier was Gutes für die S-Bahn tun.“
Natürlich, mit einem zweiten Tunnel könne man zwar mehr S-Bahnen direkt in die Innenstadt schicken, sagt Büchler, im Störungsfall auch ausweichen auf den zweiten Tunnel. Nur: Die meisten Störungen bei der S-Bahn gibt es nach Büchlers Aussage gar nicht im Tunnel, sondern außerhalb. Und außerdem wollten die meisten Fahrgäste überhaupt nicht in die Innenstadt, sondern zum Beispiel von einem Stadtviertel in eine Umlandgemeinde, argumentiert der Grünen-Politiker. Durch die Innenstadt fahren sie, weil es eben derzeit anders nicht geht. Sein Fazit: Man muss den Nahverkehr an die Menschen anpassen. Anstatt am Projekt zweiter Stammstreckentunnel festzuhalten:
„Ob das Projekt tatsächlich kommt und tatsächlich realisiert wird, da würde ich mal ein dickes Fragezeichen dahinter machen.“

"Stammstreckentunnel ist eine Art Heiliger Gral"

Am Bahnhof Solln im Münchner Süden wartet Andreas Barth vom Fahrgastverband Pro Bahn. Hier halten eine S-Bahn-Linie und einige Regionalzüge, hier verläuft auch die Ausweichstrecke für den Güter- und Fernverkehr Richtung Süden. Für Andreas Barth ist der Bahnhof Solln einer der Bahnhöfe, die unter dem Fokus auf das Großprojekt zweiter Stammstreckentunnel leiden: Die Bahnsteige in Solln sind zur kurz für längere Züge, außerdem ist die Strecke eingleisig – Verspätungen seien die Regel, sagt Barth. Weil aber der Stammstreckentunnel eine Art Heiliger Gral sei, kämen nötige Ausbauten wie hier in Solln zu kurz. Und müssen außerdem darauf warten, bis der Tunnel in Betrieb ist:
„Die Untersuchungen, die in Auftrag gegeben werden, wo der Freistaat Bayern sagt, er möchte mal ein Gutachten, ist das rentabel, wird immer gesagt, das wird nur unter der Annahme gemacht, der zweite S-Bahn-Tunnel wäre da. Und da sagt man danach: Wir haben das in Abhängigkeit vom zweiten Tunnel gemacht und jetzt geht’s davor nicht. Und damit wird eine künstliche Abhängigkeit geschaffen und zementiert, die natürlich auch dafür sorgen soll, dass es dort Rückenwind bekommt, nach dem Motto, liebe Leute, die ihr hier und dort im Großraum München wohnt, für euch wird’s erst besser, wenn da ein Tunnel ist, macht mal gefälligst Druck.“
Aber man brauche jetzt bessere Verbindungen an den Außenästen der S-Bahn, mehrgleisigen Ausbau, oder auch nachts mehr Nahverkehr, fordert Barth. Doch der zweite Tunnel sei einfach so teuer, dass das Geld für solche Projekte fehle, glaubt er. Die Deutsche Bahn hat zwar jetzt, als sie offiziell bestätigt hat, dass es mit dem zweiten Tunnel noch bis 2035 dauern wird, noch einmal versichert: Man wolle die Situation der Fahrgäste schon vorher verbessern, unter anderem einige Außenstrecken ausbauen. Andreas Barth ist dafür, sich jetzt die Alternative, die S-Bahnen über den Südring zu leiten, noch einmal anzuschauen. Dass das passiert, glaubt er nicht wirklich:
„Jetzt stehen wir halt da, dass wir einen halb gebauten Tunnel haben, für den auch schon viel Geld geflossen ist – da ist eigentlich gar nicht mehr so der Blick drauf, was wäre die Alternative in der Münchner Innenstadt.“

Nachdenken, ob man nicht das Projekt pausiert

Der Freistaat solle wenigstens darüber nachdenken, wie er mit diesen enormen Kostensteigerungen umgehen will, fordert Barth. Darüber nachdenken, ob man nicht vielleicht doch das Projekt wenigstens pausiert – auch wenn dadurch möglicherweise Zuschüsse vom Bund verloren gehen.
Andreas Barth zögert einen Moment, sagt dann: Der Tunnel und der Südring für die zweite Stammstrecke müssen sich ja auch nicht gegenseitig ausschließen:
„Der Großraum München hat sich so massiv weiterentwickelt in den letzten 15, 20 Jahren. Als wir angefangen haben mit der Diskussion, waren wir in München bei 1,2/ 1,3 Millionen Einwohner. Jetzt reden wir von einer Stadt mit 1,5/1,6 Millionen Einwohner, mit der Perspektive von 2 Millionen Einwohnern. Natürlich braucht die mehr Nahverkehr. Vielleicht werden wir eines Tages sagen, wir sind dankbar, dass wir einen Südring und einen zweiten Tunnel bekommen haben.“
Georges Rey, der Bahn-Experte aus Zürich, hält den Südring für nicht erforderlich. Der Schweizer Verkehrsplaner glaubt, dass die zweite Stammstrecke sogar schon vor ihrer Fertigstellung für Entlastung sorgen kann:
„Ich denke, wenn Marienhof und Hauptbahnhof fertig sind, kann man aus meiner Sicht von Westen schon Linien in die zweite Stammstrecke hereinfahren lassen. Um die Infrastruktur, die schon bereitsteht, nutzen zu können. Weil wir haben ja ein westlastiges S-Bahn-Netz mit mehr Linien im Westen als im Osten. Und das könnte uns helfen, jetzt im Westen schon Verbesserungen zu ermöglichen.“

"Wir versuchen, immer die technisch beste Lösung zu finden"

Für Bau-Ingenieur Alexander Jambor ist das alles noch Zukunfts-Musik. Er bereitet die nächsten Schritte auf der Baustelle Marienhof vor: den Aushub des Untergeschosses 2 und die Betonage der Zwischendecke. Er freut sich auf die Herausforderungen:
„Dazu sind wir Ingenieure. Wir versuchen, immer die technisch beste Lösung zu finden. Wenn man als Ingenieur schwierige Herausforderungen ablehnt, dann hat man leider seinen Beruf verfehlt.“
Neulich hat Jambor seinen Kindern die Baustelle gezeigt. Sie sind drei und fünf. Wahrscheinlich werden sie volljährig sein, bis die zweite Stammstrecke fertig ist.