Die Kunst, Unsichtbares zu sehen - Versuch über das Spurenlesen
Von Anna Marie Goretzki
Spurenlesen ist eine Schule der Wachsamkeit, eine Wahrnehmungskunst. In dieser Kunst entsteht ein besonderes Mensch-Natur Verhältnis. Denn etymologisch ist das Spurenlesen verwandt mit dem „Spüren“. So öffnet sich ein besonderer Erlebnisraum.
„Wölfe werde ich nicht zu Gesicht bekommen, aber ich würde ihnen dennoch begegnen“, sagt Paul Wernicke, als wir vor meiner Teilnahme an seinem „Wolfstracking“ telefonieren. Wegen einer Recherche melde ich mich für einen Workshop übers Spurenlesen bei ihm an. Es ist ein eisiger Februarnachmittag, als ich meine Ausbildung zur Spurenleserin beginne. Dass sich an diesem verschneiten Tag das Fenster zu einer ganz neuen Welt öffnet, zu einer gänzlich neuen Perspektive auf die Welt, ahne ich noch nicht.
Es geht um die Aufmerksamkeit für winzige, scheinbar unbedeutende Details. Es geht darum, sich in nicht-menschliche Wesen hineinzuversetzen. Oder wie der Philosoph und Spurenleser Baptiste Morizot schreibt: „Nach und nach seine Art zu leben, seine Art zu sein, seine Art zu denken, seine Art zu wünschen, seine Art zu fühlen“ zu erkunden. Es ist die Kunst, die Zeit zu verlangsamen oder gar rückwärts laufen zu lassen, denn Spuren führen immer in die Vergangenheit. Auch in unsere eigene.
Spurenlesen gleicht einem Essay, einem Versuch, zu verstehen, eine Annäherung an das unsichtbare Leben.
Anna Marie Goretzki, geboren in Hessen, ist Journalistin, Ethnologin und Feature-Autorin. Seit Kurzem lebt sie in einem Dorf in Brandenburg und ist über die Wölfe in ihrer Umgebung zum Spurenlesen gekommen. In ihren Beiträgen für öffentlich-rechtliche Medien widmet sie sich dem Klimawandel, ökologischen Themen, den menschlichen Naturverständnissen und anderen gesellschaftlich relevanten Fragen.