Freitag, 29. März 2024

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Lindner (Grüne) zum Ukraine-Konflikt
„Deutschland ist militärisch nicht tatenlos“

Die Debatte um Waffenlieferungen überstrahle, was Deutschland für die Ukraine tue, so Tobias Lindner, Staatsminister im Auswärtigen Amt, im Dlf. Dieser Tage würde etwa der Ukraine ein von Deutschland finanziertes Feldlazarett übergeben. Waffenlieferungen schloss der Grünen-Politiker aus.

Tobias Lindner im Gespräch mit Silvia Engels | 07.02.2022
Staatsminister Tobias Lindner (Grüne) im Bundestag
Staatsminister Tobias Lindner (Grüne) im Bundestag (picture alliance/dpa | Sven Braun)
Deutschland und Europa verstärken ab dem 7. Februar die Diplomatie in Bezug auf den Ukraine-Krise. Bundeskanzler Olaf Scholz ist in Washington und trifft dort US-Präsident Joe Biden. Außenministerin Annalena Baerbock reist in die Ukraine, wo sie mit Präsident Wolodymyr Selenskyj und Außenminister Dmytro Kuleba verabredet ist. Außerdem wird der französische Präsident Emmanuel Macron am 7. Februar in Moskau zu einem Gespräch mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin erwartet.
Deutschland steht wegen seiner bisherigen zurückhaltenden Haltung im Ukraine-Konflikt in der Kritik. Der Grünen-Politiker Tobias Lindner, Staatsminister im Auswärtigen Amt, verteidigte im Dlf das deutsche Vorgehen. Es sei grundsätzliche Politik der Bundesregierung, in Krisengebiete keine Waffen zu liefern. Das militärische Potenzial Russlands sei ohnehin nicht durch Waffenlieferungen aufhaltbar. Lindner betonte: „Im Falle einer erneuten militärischen Invasion würde Herr Putin, würde Russland einen hohen ökonomischen, strategischen und politischen Preis dafür bezahlen müssen.“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geht nach der Landung auf dem Flughafen in Washington die Gangway des Airbus A340 der Luftwaffe hinunter.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) trifft in Washington zu Gesprächen mit US-Präsident Biden ein. (dpa | Kay Nietfeld)

„Eng und solidarisch an der Seite der Ukraine“

Deutschland sei militärisch außerdem nicht tatenlos und übergebe der Ukraine dieser Tage ein von Deutschland finanziertes Feldlazarett. Lindner sagte, der Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock mache die enge Partnerschaft mit der Ukraine deutlich.
Des Weiteren, so Lindner, werde darüber nachgedacht, „einzelne NATO-Einheiten zu verstärken, unter anderem auch die sogenannte Vorne-Präsenz in Litauen.“ Über eine genaue Anzahl von Soldatinnen und Soldaten wolle er nicht spekulieren.

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Der Staatsminister äußerte sich auch zur Rolle von Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) in der Ukraine-Krise. Dieser hatte kürzlich für Unruhe und Empörung gesorgt mit seinem Vorwurf, die Ukraine betreibe im Konflikt mit Russland "Säbelrasseln". Der 77-Jährige engagiert sich seit vielen Jahren für die russische Energiebranche und ist Präsident des Verwaltungsrats bei der Nord Stream 2 AG. Der Staatskonzern Gazprom nominierte den mit Kreml-Chef Wladimir Putin befreundeten Altkanzler nun auch als Kandidaten für die Wahl in den Aufsichtsrat.
„Es ist, ehrlich gesagt, bitter, schon fast tragisch, welche Rolle hier der Altkanzler nach seiner Amtszeit spielt“, so der Grünen-Politiker. Schröder lasse zum jetzigen Zeitpunkt jegliches politische Gespür vermissen.
In der Debatte, ob Schröder sein staatlich bereitgestelltes Büro und die Arbeitsmittel entzogen werden sollten, wies Lindner darauf hin, dass Schröder diese Mittel nur seine Aufgaben als Altkanzler nutzen dürfe, nicht aber privatwirtschaftlich.  

Das Interview in voller Länge:
Silvia Engels: Bundeskanzler Scholz brachte gestern eine mögliche Aufstockung von Bundeswehrkräften im Baltikum ins Gespräch, zum Beispiel in Litauen. Ziehen die Grünen da mit?
Tobias Lindner: Es ist ja seit längerem in der NATO eine Diskussion darüber – und die Diskussion ist völlig berechtigt -, was heißt denn eigentlich die Aggression Russlands jetzt für unsere östlichen NATO-Bündnispartner. Deswegen ist es, wie der Bundeskanzler sagt: Es wird jetzt darüber nachgedacht, einzelne NATO-Einheiten zu verstärken, unter anderem auch die sogenannte Vorne-Präsenz in Litauen, an der Deutschland beteiligt ist. Da hatten wir schon immer schwankende Stärken unserer Kontingente und ich gehe davon aus, dass da in den nächsten Tagen eine Entscheidung ansteht, und es ist durchaus vorstellbar, dass Deutschland jetzt auch kurzfristig die Anzahl seiner Soldaten in Litauen erhöhen wird.

„Davon muss sich Russland nicht bedroht fühlen“

Engels: Rund 500 Bundeswehrsoldaten sind es ja, die im Rahmen einer von Deutschland geführten Kampfgruppe der NATO derzeit in Litauen stationiert sind. Wie hoch könnte diese Zahl werden?
Deutsche und niederländische Soldaten (r) stehen als gemischte Besatzung vor dem gepanzerten Truppentransporter "Boxer", der zur Ausrüstung des NATO-Gefechtsverbandes in Litauen gehört.
Derzeit seien etwa 500 deutsche Soldatinnen und Soldaten in Litauen stationiert, sagte Lindner (picture alliance / dpa / Carsten Hoffmann)
Lindner: Eine genaue Zahl, das wäre jetzt Spekulation. Aber Sie haben es ja zurecht gesagt: Im Moment reden wir über 500 Soldatinnen und Soldaten. Davon muss sich Russland nicht bedroht fühlen, aber es ist eine wichtige Rückversicherung für Litauen. Wir hatten in der Vergangenheit teilweise schon Kontingentstärken von 900, von 1000. Ohne jetzt spekulieren zu wollen, aber man redet im Prinzip über solche Kontingentstärken Pi mal Daumen.
Engels: Bislang war ja mit Russland vereinbart, solche Kampfgruppen in östlichen Regionen der NATO nur auf Zeit rotierend zu stationieren. Wie passt dieses neue Vorgehen dazu?
Lindner: Das ist ja genau das, was mit Russland vereinbart worden ist in der NATO-Russland-Grundakte von 1997, dass solange die Sicherheitslage unverändert ist – und ich glaube, darüber könnte man jetzt trefflich diskutieren, ob Russland tatsächlich die Sicherheitslage unverändert gelassen hat -, aber solange sie so ist, keine Truppen von nennenswerter Präsenz (da spricht man von Divisionen, von Einheiten jenseits der 10.000 Soldatinnen und Soldaten) dauerhaft zu stationieren.
Über was wir hier sprechen sind im Moment 500 Soldaten. Vermutlich kann man über 1000, 1200 sprechen und die noch nicht mal dauerhaft. Wenn Russland jetzt erzählen will, es fühlt sich dadurch bedroht, dann ist das Fake-Propaganda.
Engels: Aber ich verstehe Sie richtig? Wenn es zu dieser Aufstockung in Litauen kommt, dann werden die erst mal nicht rotieren, sondern da auch dauerhaft bleiben?
Lindner: Nein, es wird immer rotiert. Die sind ja fast schon fünf Jahre in Litauen engagiert. Die Rotation kommt daher, dass eine Bundeswehreinheit die Soldatinnen und Soldaten stellt und nach sechs Monaten etwa wieder zurück nach Deutschland verlegt, auch sein Gerät wieder mitnimmt und dann eine andere Einheit kommt. Es ist keine Einheit der Bundeswehr, aber auch von keinem anderen NATO-Land dauerhaft in Litauen oder in einem anderen baltischen Staat stationiert.
Engels: Soviel dazu. – Dann schauen wir auf die Fassette des Besuchs von Annalena Baerbock heute in Kiew. Die Ukraine wünscht sich ja von Deutschland Waffen zur Verteidigung gegen die Bedrohung durch Russland. Gestern Abend hat Bundeskanzler Scholz das in der ARD noch einmal abgelehnt. Was bleibt dann Außenministerin Baerbock heute überhaupt noch als Angebot für Kiew?
Lindner: Ich glaube, der Besuch von Annalena Baerbock heute in Kiew – das ist ja der zweite innerhalb eines Monats – macht sehr deutlich, wo wir stehen, nämlich eng und solidarisch an der Seite der Ukraine. Diese ganze Waffenlieferungsdebatte, die überstrahlt ja völlig, was Deutschland jetzt nicht nur für die Ukraine, auch für die osteuropäischen Partner tut, im Zivilen wie im Militärischen. Ich will jetzt einmal beim Thema Ukraine zwei Beispiele nennen. Die Ministerin wird die Kontaktlinie besuchen, wird sich auch wirklich vor Ort die Situation angucken. Es wird in diesen Tagen ein brandneues militärisches Feldlazarett, das Deutschland zu 100 Prozent finanziert hat, an die Ukraine übergeben werden. Ich könnte jetzt noch zahlreiche weitere Beispiele nennen. – Sie haben eben das Beispiel Litauen genommen, wo wir ja bereit sind, uns gegebenenfalls stärker zu engagieren. Das alles zeigt: Deutschland ist militärisch nicht tatenlos.

„Es ist Politik der Bundesregierung, in Krisengebiete keine Waffen zu liefern“

Engels: Nun ist es auf der anderen Seite aber so, dass die Ukraine sehr, sehr deutlich gemacht hat, dass sie da auf mehr hofft. Sie hat eine konkrete Liste mit dem Wunsch nach Waffensystemen übermitteln. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hat auch noch mal bekräftigt, „wir brauchen modernste Waffen, Deutschland könne das liefern“. Damit lassen Sie die Ukraine auflaufen?
Lindner: Es ist Politik der Bundesregierung, es war Politik auch der Vorgängerregierung, muss man dazu sagen, in Krisengebiete keine Waffen zu liefern. Man muss jetzt in dieser Situation, glaube ich, auch mal realistisch auf die Situation draufschauen. Wenn wir uns das russische militärische Potenzial, das Russland im Grenzgebiet zusammengezogen hat, anschauen, dann wird man nicht durch Waffenlieferungen irgendwie in der Lage sein, Russland da ernsthaft aufhalten zu können, sondern wenn wir Druck auf Moskau ausüben können – und daran arbeitet die Bundesregierung als größte Wirtschaftsnation in der Europäischen Union -, wenn wir Druck auf Moskau ausüben können, dann dadurch, dass wir sehr deutlich machen, im Falle einer erneuten militärischen Invasion würde Herr Putin, würde Russland einen hohen ökonomischen, strategischen und politischen Preis dafür bezahlen müssen.
Karte zeigt die Ostukraine mit dem von Separatisten kontrolliertem Gebiet und der Minsker Sicherheitszone
Ukraine-Russland-Konflikt (dpa-infografik / Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Engels: Kann man das eigentlich – das hören wir ja nun schon seit Tagen – mal etwas konkreter fassen? Was wäre der Preis?
Lindner: Man kann es konkreter fassen, aber wir wollen es bewusst nicht konkret fassen. Über was wir hier sprechen, ist im Prinzip ökonomische Abschreckung. Natürlich wäre es jetzt für Moskau ein Einfaches, wenn die Europäische Union, wenn die Vereinigten Staaten quasi mit einem spitzen Stift exakt die roten Linien zeichnen würden, so nach dem Motto: Russland, wenn ihr das macht, passiert genau jenes, diese Sanktion wird es geben, jene wird es vielleicht nicht geben. Wenn man das macht, dann gibt man Herrn Putin natürlich die beste Gelegenheit, darum herumzunavigieren. Deswegen diesen Satz, den Sie heute nicht zum ersten Mal gehört haben. Das ist richtig. Aber klar ist, es liegen alle Optionen auf dem Tisch. Das ist, glaube ich, in den letzten Tagen auch in Bezug auf Nord Stream 2 noch mal sehr deutlich geworden.
Engels: Auf Nord Stream 2 kommen wir gleich noch zu sprechen. Schauen wir erst noch mal auf den Besuch der Bundesaußenministerin in Kiew. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP, Ihre Koalitionsfreundin, steht ukrainischen Forderungen nach Waffenlieferungen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Sie habe aber kein Verständnis für „stete verbale Entgleisungen seitens manch ukrainischer Stimmen uns gegenüber.“ – Muss Annalena Baerbock auch solche Entgleisungen fürchten und haben Sie so etwas auch schon als Kritik anzumerken?
Lindner: Frau Baerbock, glaube ich, fürchtet sich vor nichts. Das ist gar nicht der Punkt. Es ist jetzt auch nicht meine Aufgabe, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses zu kommentieren. Aber ich will es mal so formulieren: Diese ganze Debatte über Waffenlieferungen, wo Länder verschiedene Positionen haben, wo die Ukraine eine Position hat, wo nicht nur übrigens Deutschland in der Europäischen Union eine zurückhaltende Position hat, sondern auch andere Länder, wo wiederum andere auch schon in der Vergangenheit sich anders entschieden haben, diese ganze Diskussion überschattet leider in der Öffentlichkeit das, was Deutschland, was aber auch andere europäische Staaten sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich tun, um solidarisch zur Ukraine zu stehen, und was sie tun, um eine Eskalation zu vermeiden. Deswegen ist die Diskussion eigentlich so schädlich, weil da ein Bild gezeichnet wird, so nach dem Motto, solange ihr keine Waffen liefert, tut ihr ja gar nichts. Das Gegenteil ist, ehrlich gesagt, der Fall.

„Druck vor allem auf der ökonomischen Seite“

Engels: CDU-Chef Merz hatte sich gestern in der „Bild am Sonntag“ zumindest für eine gemeinsame europäische Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine ausgesprochen. Es sei zumindest für ihn denkbar, hier auch eine deutsche Rolle mitzusehen. Ist das ein denkbarer Weg?
Lindner: Für Herrn Merz scheint ziemlich vieles denkbar zu sein. Ich glaube, vor zwei Wochen war er noch bereit, erst mal über Sanktionen nachzudenken und gewisse Dinge auszuschließen in der Öffentlichkeit. – Noch mal, um es ganz deutlich zu sagen: In der gegenwärtigen Situation reagiert Moskau auf eine Form von Druck, und das ist Druck vor allem auf der ökonomischen Seite auf der Sanktionsseite. Jetzt muss es darum gehen, Europa und die Vereinigten Staaten da geschlossen zu halten und da ein schlagkräftiges Paket hinzubekommen.
Sigmar Gabriel (SPD): „Wenn Russland die Ukraine attackiert, wird es Nord Stream 2 nicht geben“
Engels: Dann schauen wir noch auf das Stichwort Nord Stream 2. Die SPD, aber auch die Ampel-Koalition insgesamt muss sich in diesem Zusammenhang ja etwas vermehrter jetzt mit der Rolle von Altkanzler Gerhard Schröder auseinandersetzen. Neben dessen Kritik an der Ukraine und seiner bekannt engen Verbindung zur Erdgas-Pipeline wurde er am Freitag vom russischen Staatskonzern Gazprom für den Aufsichtsrat nominiert. Muss die Ampel-Koalition hier nun Konsequenzen ziehen, zum Beispiel durch Entzug von Büro und Personal, wie es Altkanzlern als staatliche Amtsausstattung eigentlich zusteht?
Lindner: Es ist, ehrlich gesagt, bitter, schon fast tragisch, welche Rolle hier der Altkanzler nach seiner Amtszeit spielt. Um ehrlich zu sein: Ich kann nicht verstehen, wie ein Mensch, der sieben Jahre Bundeskanzler war, jegliches politisches Gespür so vermissen lässt und gerade jetzt zu dem Zeitpunkt auch noch erklärt, dass er in den Aufsichtsrat von Gazprom gehe. Es gibt die klare und unmissverständliche Haltung, dass der Altkanzler das Büro und die Arbeitsmittel, die ihm für seine Aufgaben als Altkanzler zur Verfügung gestellt werden, auch nur hierfür einsetzt.
Altkanzler Gerhard Schröder umarmt den russischen Präsidenten Wladimir Putin
Altkanzler Gerhard Schröder umarmt steht wegen seiner Aussagen zur Ukraine in der Kritik (picture alliance/dpa | Alexei Druzhinin)
Engels: Sollte man ihm das entziehen?
Lindner: Herr Schröder bekommt aus Steuergeldern bezahlt Büroräume, bekommt Arbeitskräfte für die Aufgaben, die er als Altkanzler hat, nicht für die Aufgaben, die er irgendwie privatwirtschaftlich wahrnimmt. Ich hoffe, dass er sich darüber im Klaren ist, dass er diese Aufgabentrennung beibehalten sollte.
Engels: War das jetzt ein klares Ja für den Entzug?
Lindner: Der Bundesrechnungshof hat sich in der Vergangenheit bereits Fälle angeguckt, nicht nur bei Altkanzlern, auch bei Altbundespräsidenten, und ich hoffe, dass Herrn Schröder auch dieser Bericht bekannt ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.