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Teilchenphysik
US-Experiment entkräftet Hypothese vom sterilen Neutrino

Neutrinos rasen in Unmengen durchs All. Und lange schien klar: Es gibt exakt drei Sorten dieser Elementarteilchen. Doch die Gewissheit wurde vor ein paar Jahren erschüttert. Eine vierte Sorte kam ins Spiel. Ein neues Experiment zeigt jetzt: Diese Hypothese lässt sich so nicht halten.

Von Frank Grotelüschen | 22.11.2021
Neutrinos - schnell wie das Licht und ungemein flüchtig.
Neutrinos - schnell wie das Licht und ungemein flüchtig. (imago images/Science Photo Library)
 
Es war im Juni 2018, als der US-Physiker Bill Louis auf einer Fachkonferenz in Heidelberg für den Knalleffekt sorgte: „Es gibt mehr als drei Sorten von Neutrinos. Eine solche vierte Neutrino-Sorte wäre ein neues Elementarteilchen. Es muss steril sein, es verrät sich ausschließlich durch seine Gravitation.“
Neutrinos sind die wunderlichsten unter den Elementarteilchen, schnell wie das Licht und ungemein flüchtig. Mit dem Rest der Materie reagieren sie nur per Gravitation und mittels einer weiteren Naturkraft – der sogenannten schwachen Kraft. Doch kennt das Lehrbuchwissen der Teilchenphysik, das Standardmodell, nur drei Sorten von Neutrinos. Gäbe es eine vierte, die lediglich auf die Gravitation reagiert und nicht auf die schwache Kraft, wäre das eine physikalische Revolution.

Physik jenseits des Standardmodells?

Für Bill Louis war es klar: "Damit haben wir einen deutlichen Hinweis auf eine neue Physik jenseits des Standardmodells.“ Den Hinweis hatte das Experiment MiniBooNE in Chicago geliefert: Ein Beschleuniger feuert Neutrinos auf einen 500 Meter entfernten, mit Mineralöl gefüllten Kugeltank. Dabei sollten sich im Fluge mehr Neutrinos in eine andere Sorte verwandelt haben als erwartet, erklärte Bill Louis 2018 – für ihn ein klares Indiz für ein viertes Neutrino.
Das MiniBooNE-Experiment widerlegte Messergebnisse über die Wandlungsfähigkeit von Neutrinos.
Das MiniBooNE-Experiment mit diesem Beschleuniger in Chicago versetzte die Physikwelt 2018 in Aufruhr. (fnal.gov)
Doch andere Fachleute reagierten verhalten, wie zum Beispiel Manfred Lindner aus Heidelberg: "Die Natur hat viele Mechanismen, einem etwas vorzutäuschen, was man gern glauben will.“ Gefragt war also ein zweites Experiment, das die Ergebnisse bestätigt oder aber widerlegt. Durchgeführt wurde es ebenfalls in Chicago, der Beschleuniger heißt dort MicroBooNE statt MiniBooNE.

Neues Experiment mit anderem Beschleuniger

„Das ist eine komplett neue Technologie. Das Experiment basiert auf einem riesigen Tank, so groß wie ein Schulbus, voll mit flüssigem Argon," erklärt Michele Weber von der Universität Bern, Mitglied des 200-köpfigen MicroBooNE-Teams. Wie beim früheren Versuch feuert auch hier ein Beschleuniger eine bestimmte Neutrino-Sorte auf einen Tank. Dieser Tank aber kann nicht nur ein charakteristisches Leuchten aufspüren, das gelegentlich beim Einschlag der Neutrinos entsteht, sondern deutlich mehr.
Michele Weber, Professor für experimentelle Teilchenphysik in Bern: „Die Spuren von allen Teilchen, die in diesen Wechselwirkungen produziert werden, können da gemessen werden. Wir können für jede Neutrino-Wechselwirkung wirklich sehen: Was für Teilchen wurden da produziert? Ist es wirklich ein Neutrino oder ist es etwas anderes? Das andere Experiment konnte nur diese Lichtblitze sehen und dadurch etwas interpretieren. Und wir konnten wirklich in 3D diese Ereignisse analysieren.“

Einfaches Modell vom vierten Neutrino unwahrscheinlich

Jahrelang sammelten die Fachleute Messdaten, jetzt präsentierten sie ihre ersten Analysen. Demnach haben sich wohl doch nicht mehr Neutrinos in eine andere Sorte verwandelt als eigentlich erwartet. Das ältere Experiment scheint widerlegt.
„Dieses einfache Modell von einem sterilen Neutrino ist wirklich sehr, sehr unwahrscheinlich geworden," so die Bilanz von Michele Weber. Der Teilchenphysiker weist aber darauf hin, dass es zumindest theoretisch doch noch ein Schlupfloch geben könnte für das sterile Neutrino, das allein die Gravitationskraft spürt: Es könnte derart schnell zerfallen, dass es selbst den hochempfindlichen MicroBooNE-Sensoren durch die Lappen geht.
Dunkle Materie, aufgenommen vom Hubble Space Teleskop und dem Chandra X-Ray Observatorium. Auf dem Bild sind Sterne zu sehen und eine Art lila-rosafarbenen Nebels.
Gibt es dennoch weitere Teilchen? Womöglich der ominösen dunklen Materie? (dpa / picture alliance / Landov)

Gibt es dennnoch weitere Teilchen?

Um solche Spekulationen zu prüfen, will das Team sein Experiment nun aufrüsten und mit zusätzlichen Detektoren bestücken. Denn auch wenn die Hypothese vom sterilen Neutrino höchst unwahrscheinlich ist, zeigen die MicroBooNE-Messdaten durchaus verdächtige Anomalien, die für Michele Weber und ihr MicroBooNE-Team nicht so recht ins Standardmodell passen wollen.
 „Es ist definitiv etwas, was vom Strahl herkommt und nicht von irgendwo anders. Es kann sein, dass da irgendetwas anderes auch noch produziert wird, was wir nicht wissen.“ Womöglich sind es Teilchen der ominösen dunklen Materie, die da entstehen, oder sogenannte Axionen – allesamt Teilchen, die komplett neu wären im Teilchenzoo und die den Horizont der Physik deutlich erweitern würden.