Um den Krieg in der Ukraine zu beenden, werden immer wieder Friedensverhandlungen mit dem Aggressor Russland gefordert: Der Philosoph Jürgen Habermas hat in einem Plädoyer für die Süddeutsche Zeitung argumentiert, dass sich der Westen für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland einsetzen soll. Auch die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und die "Emma"-Gründerin Alice Schwarzer haben in einem "Manifest für Frieden" an Bundeskanzler Olaf Scholz appelliert, sich für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu engagieren. Doch wie realistisch ist es, dass Frieden durch Verhandlungen mit Russland erreicht werden kann?
- Gibt es derzeit Initiativen für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland?
- Was spricht gegen die Möglichkeit einer Lösung durch Verhandlungen?
- Wie könnte es weiter gehen?
- Hat die Ukraine eine Chance, die russische Armee aus dem Land zu drängen?
- Was müsste sich in der Politik des Westens ändern?
- Von welchen Ländern wird Russland unterstützt?
- Wie wirken sich die Sanktionen gegen Russland aus?
Gibt es derzeit Initiativen für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland?
Im Moment sind keine Verhandlungen über einen Waffenstillstand oder eine wie auch immer geartete Friedenslösung in Sicht. Das liegt in erster Linie daran, dass Wladimir Putin immer noch auf einen kompletten Sieg über die Ukraine setzt, trotz der ungeheuren Verluste, die die russische Armee erlitten hat. Dies hat er vor wenigen Tagen in einer groß angekündigten Rede noch einmal bekräftigt.
Diese Einschätzung teilen fast alle Beobachter. Die russische Staatsführung zeigt ein Jahr nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine zum Beispiel aus Sicht des Bundesnachrichtendienstes keinerlei Verhandlungsbereitschaft. BND-Präsident Bruno Kahl sagte auf die Frage, ob er bei Putin irgendeinen Willen sehe, Frieden zu schließen: „Überhaupt nicht. Im Moment geht es ihm darum, auf dem Schlachtfeld die Entscheidung zu suchen und so viele Vorteile wie möglich dort zu realisieren — um dann irgendwann vielleicht einen Frieden zu seinen Bedingungen zu diktieren.“
Weiter sagte Kahl dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, Russland könne noch sehr viele Soldaten in den Krieg schicken. Im Herbst seien schon etwa 300.000 Männer mobilisiert und rekrutiert worden, die nun zum Teil noch ausgebildet würden, zum Teil aber schon im Gefecht stünden. „Das weitere Mobilisierungspotenzial Russlands ist ein Reservoir von bis zu einer Million Männern, wenn das als nötig erachtet wird im Kreml.“
Beim Unwillen, Gespräche oder Verhandlungen zu führen, gibt es zwei Ausnahmen. Es wird laufend über den Austausch von Gefangenen gesprochen; ebenso über die Umsetzung des Getreideabkommens, das sicherstellt, dass aus der Ukraine Weizen in den Nahen Osten geliefert wird.
Was spricht gegen die Möglichkeit einer Lösung durch Verhandlungen?
Die Ukraine steht mit dem Rücken zur Wand. Ihre Existenz als Staat und als Gesellschaft steht auf dem Spiel, das hat Wladimir Putin immer wieder bekräftigt. Russland hat schwere Kriegsverbrechen begangen, das ist vielfach dokumentiert. Der Angriffskrieg Putins trägt wegen seiner Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur genozidale Züge. US-Vizepräsidentin Kamala Harris kündigte auf der Sicherheitskonferenz in München an, die mutmaßlichen Täter von Massakern wie in Butscha zur Verantwortung zu ziehen: Man habe Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seine Absage an Verhandlungen vor einem Rückzug der russischen Truppen bekräftigt. Gespräche seien nur möglich, wenn Russland seine Soldaten abziehe, seinen Fehler eingestehe und es vielleicht eine neue Führung in Moskau gebe, sagt Selenskyj. „Nur dann kann die Situation gelöst werden. Nur dann sind Verhandlungen möglich.“
Ukrainische Politiker verweisen auch darauf, dass Russland einen etwaigen Waffenstillstand gepaart mit Gesprächen nur dafür nützen würde, sein Militär neu aufzustellen und Nachschub heranzuführen. Putin ist für sie nach seinen Lügen im Vorfeld des Angriffes vom 24. Februar 2022 kein glaubwürdiger Verhandlungspartner mehr. Sie befürchten vielmehr, dass Putin bei einem Erfolg seiner Invasion auch Staaten wie Moldawien und Georgien angreifen würde - und unter Umständen nach einer militärischen Erholungsphase sogar NATO-Staaten. Die Möglichkeit einer Verhandlungslösung tendiert deshalb derzeit gegen Null.
Wie könnte es weiter gehen?
Alles spricht für einen langen Abnutzungskrieg, wie auch Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz erklärte. Das heißt, dass die Ukraine dringend auf weitere westliche Unterstützung angewiesen ist.
Das gilt in mehrerlei Hinsicht. Die Ukraine ist auf westliche Finanzhilfe angewiesen. Die Chefin des Internationalen Währungsfonds Kristalina Georgiewa bezifferte den Liquiditätsbedarf der Ukraine für 2023 auf drei bis vier Milliarden Dollar im Monat, also auf bis zu 50 Milliarden Dollar im Jahr. Davon ausgenommen sind die noch sehr viel höher geschätzten Kosten für den Wiederaufbau des Landes.
An der grundsätzlichen Bereitschaft, die Ukraine auch im kommenden Jahr nicht nur militärisch, sondern auch finanziell zu unterstützen, ließen die G-7-Finanzminister auf ihrer Herbsttagung 2022 keinen Zweifel: „Zusammen mit der internationalen Gemeinschaft und in enger Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, die Ukraine in den kommenden Monaten und Jahren zu unterstützen.“
In erster Linie benötigt die Ukraine jedoch militärische Unterstützung: Munition, schwere Waffen wie Schützen- und Kampfpanzer, aber auch Treibstoff, Winterbekleidung, Generatoren und Ersatzteile aller Art. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas machte auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Vorschlag, das Geld dafür in einen großen EU-Pool zu legen und der Industrie den Bau von Produktionsanlagen vorzustrecken, ähnlich wie bei der Beschaffung der Corona-Impfstoffe.
Zeitraubend ist die Sammlung von Kampfpanzern vom Typ Leopard 2. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bemüht sich derzeit, eine erste Tranche von 31 Panzern dieser Bauart zusammen zu stellen. Die Belieferung mit Waffen müsse schneller vonstatten gehen, mahnen viele Experten – und die ukrainische Regierung.
Hat die Ukraine eine Chance, die russische Armee aus dem Land zu drängen?
Das hängt im Wesentlichen von den westlichen Waffenlieferungen ab. Je besser die Waffen, je mehr Munition, desto größer die ukrainischen Erfolgsaussichten. Die Ukraine braucht zum Beispiel dringend weitreichende Raketenartillerie, mit der sie russischen Nachschub unterbrechen und russische Truppen angreifen könnte. Die derzeit gelieferte Raketenartillerie reicht nur circa 80 Kilometer weit. Nötig wären Präzisionsraketen bis zu 300 Kilometer Reichweite.
Vor allem braucht die Ukraine klassische 155-mm-Artilleriegranaten. Davon verfeuert die ukrainische Armee täglich bis zu 7000 Stück, die russische bis zu 20.000 Stück. Das Problem: Derzeit werden in Europa pro Monat nur 20.000 dieser Granaten hergestellt, also so viel, wie die Russen an einem Tag verschießen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderte deshalb auf der Sicherheitskonferenz dringend einen raschen Aufbau europäischer Produktionskapazitäten, ebenso die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas: Sie verwies darauf, dass in der russischen Rüstungsindustrie derzeit im Drei-Schicht-Betrieb gearbeitet werde. Ohne Munition könne die Ukraine den Krieg nicht gewinnen.
Was müsste sich in der Politik des Westens ändern?
Waffen müssten schneller geliefert und schneller produziert werden. Der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark hält sogar einen Sieg der Ukraine in sechs bis acht Monaten für möglich – das setzt jedoch ein deutlich höheres Tempo bei der Ausrüstung der Ukraine mit modernen Waffen voraus.
Von welchen Ländern wird Russland unterstützt?
Nur von wenigen Außenseitern wie Nicaragua, Nordkorea und Syrien. Ein sehr bedeutendes Land steht jedoch Russland zur Seite: China. Kurz vor dem Krieg haben beide Länder noch einen Partnerschaftsvertrag geschlossen. China weigert sich beharrlich, Russland für den Angriffskrieg zu verurteilen. Niemand erwartet von der angekündigten chinesischen Vermittlungsinitiative große Fortschritte, weil dies voraussetzen würde, dass China Russland zu Zugeständnissen drängen würde. Das erscheint wenig wahrscheinlich.
Diese Einschätzung wird gestützt durch den Besuch des chinesischen Top-Diplomaten Wang Yi in Moskau. Er und Putin kündigten bei ihrem Treffen an, die Partnerschaft ihrer beider Länder zu vertiefen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht Anzeichen dafür, dass China Russland in dessen Krieg gegen die Ukraine unterstützen könnte.
Auf die Frage, ob der NATO Hinweise vorlägen, dass Peking bereit sein könnte, Moskau Waffen oder andere Unterstützung zukommen zu lassen, sagte er in einem Interview der Nachrichtenagentur AP: „Wir haben einige Anzeichen gesehen, dass sie dies planen könnten, und natürlich haben die NATO-Verbündeten, die Vereinigten Staaten, davor gewarnt, weil das etwas ist, das nicht passieren sollte. China sollte Russlands illegalen Krieg nicht unterstützen.“
Die Volksrepublik rief er dazu auf, von Verstößen gegen das Völkerrecht abzusehen. Das westliche Militärbündnis werde die Ukraine hingegen so lange unterstützen, wie es nötig sei. Zuvor hatte US-Außenminister Antony Blinken gesagt, dass jede Beteiligung Chinas an den Kriegsanstrengungen Moskaus ein „ernstes Problem“ wäre.
Wie wirken sich die Sanktionen gegen Russland aus?
Die russische Wirtschaftsleistung ist zum Jahresende 2022 um rund fünf Prozent geringer ausgefallen als im Vorjahr, schreibt Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik in einem Artikel für den Tagesspiegel. Es sei aber deutlich geworden, „dass es nicht leicht ist, Russland wirtschaftlich in die Knie zu zwingen“. Russland sei durch Überschüsse in der Handelsbilanz und im Haushalt resilient. Der „Ressourcenreichtum und eine disziplinierte Haushaltspolitik machen es schwierig, den Kreml kurzfristig auszuhungern.“
China sei zu Russlands wichtigstem Versorger aufgestiegen, so Janis Kluge weiter, und sei das einzige verbliebene große Industrieland, das noch weitgehend uneingeschränkt mit Russland Handel treibt. Nach Einführung der Sanktionen seien die Importe aus China zunächst stark eingebrochen, sie hätten zum Jahreswechsel aber neue Rekorde erklommen.
Das alles könne aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die westlichen Sanktionen Russland über kurz oder lang wirtschaftlich schwer träfen: Der Effekt seien höhere Haushaltsdefizite, ein schwächerer Rubel, ansteigende Inflation und kaum noch Überschüsse im Handel.
Kein Winter der Kälte in Westeuropa
Es ist Putin nicht gelungen, den Westen zu spalten, sieht man mal von Grenzgängern wie Erdogan und Orban ab. Doch der transatlantische Schulterschluss steht, wie alle sich auf der Sicherheitskonferenz bescheinigten. Es ist Putin nicht gelungen, Westeuropa in einen Winter der Kälte und der Unzufriedenheit zu schicken und damit die Unterstützerfront für die Ukraine zu schwächen.
Im Gegenteil, der Krieg ist für den Autokraten im Kreml bislang ein Debakel, wie es der amerikanische Außenminister Antony Blinken richtig einstufte: 200.000 tote und verwundete russische Soldaten. Eine Million Russen haben ihr Land verlassen, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen, viele von ihnen sind talentiert und gut ausgebildet. Tausende von westlichen Unternehmen haben Russland verlassen, und die russische Wirtschaft ist dank der Sanktionen auf dem Weg in die Krise. Und auch wenn Putin hier und da seine Energieträger zu Schnäppchenpreisen verkaufen kann: Die regelmäßigen hohen Einnahmen aus dem Geschäft mit Europa, insbesondere mit Deutschland, sind verloren, und das auf Dauer.
Die NATO steht mittelfristig stärker da als vor dem Krieg. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius gelobte auf der Sicherheitskonferenz erneut, Deutschland werde das Zwei-Prozent-Ziel bei der Finanzierung des Wehretats erreichen. Finnland und Schweden streben in die NATO – zwei Länder, die militärisch gut aufgestellt sind und deshalb einen Nettogewinn an Sicherheit für das Bündnis darstellen. Vieles ist unfertig, und die Ukraine muss noch lange unterstützt werden.
Die scharfen Äußerungen des obersten chinesischen Außenpolitikers Wang Yi gegenüber den USA in München zeigen: Mit der Eindämmung eines immer aggressiver auftretenden China wird sich die Sicherheitskonferenz in den kommenden Jahren beschäftigen müssen.