Der Politologe Herfried Münkler befürwortet im Interview der Woche die Lieferung schwerer Waffen und Munition an die Ukraine, um deren Durchhaltefähigkeit zu gewährleisten. Gebe man hingegen der Diplomatie Vorrang vor Waffenlieferungen, bedeute das in der gegenwärtigen Situation, den Russen in die Karten zu spielen, und damit letztlich Partei zu ergreifen, so der Politologe.
Warnung vor Misstrauen gegenüber deutscher Aufrüstung
Gleichzeitig warnt Münkler aber vor wachsendem Misstrauen gegenüber Deutschland. Wenn die Forderung nach der Zwei-Prozent-Haushaltsklausel für Verteidigungszwecke erfüllt wäre, würde Deutschland innerhalb der Nato zur stärksten konventionell gerüsteten Militärmacht nach den USA werden. Das könne bei den europäischen Nachbarn alte hegemoniale Befürchtungen wecken. Darauf müsse Berlin klug reagieren und entsprechend kommunizieren, so Münkler.
Putins Spaltungsstrategien
Der Politologe geht davon aus, dass Russland auch weiterhin versuchen wird, Nato und EU zu spalten. Einen Hebel hätte Putin in den guten Beziehungen zur Türkei und zu Serbien, aber auch in neuen Migrationsströmen. Um zu verhindern, dass diese Spaltung gelingt, brauche es eine ausgleichende Politik, bei der vor allem Berlin gefordert sei, so Münkler.
Neue globale Sicherheitsstruktur
Eine neue globale Friedensordnung werde nicht mehr in dem Maße wie in der Vergangenheit auf wirtschaftlicher Macht und auf wechselseitiger Abhängigkeit beruhen, sagt Münkler im Dlf. Er geht davon aus, dass künftig sehr viel stärker militärische Fähigkeiten eine Rolle in einer Weltordnung spielen werden, die dominiert wird von zwei großen, miteinander konkurrierenden Blöcken – den USA und Europa einerseits, sowie China und Russland andererseits.
Das Interview im Wortlaut:
Thilo Kößler: Herr Münkler, wann ist dieser Krieg in der Ukraine zu Ende?
Herfried Münkler: Ich glaube, das kann man nicht seriös beantworten. Darüber würde man spekulieren können. Was aber vielleicht eher beantwortbar ist, ist die Frage: wie. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass dieser Krieg zu Ende gehen kann? Und da gilt zunächst mal ganz klassisch, in dem Maße, in dem beide Parteien begreifen, dass die von ihnen verfolgten Kriegsziele für sie nicht erreichbar sind oder allenfalls unter ungeheuren Risiken mit unüberschaubaren Kosten erreichbar sind. Dann wächst die Bereitschaft gewissermaßen, sich irgendwo in der Mitte zu treffen, und das ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt vernünftige Verhandlungen geführt werden können, die mehr sind als nur ein Austauschen von Maximalforderungen.
Ertüchtigung der ukrainischen Armee
Kößler: Oder völlige Erschöpfung auf beiden Seiten.
Münkler: Ja, das ist die begleitende Seite des Aussichtsloswerdens der Erreichbarkeit von Kriegszielen, dass die eigenen Kräfte schwinden und dass man zusehen muss, möglichst schnell einen Krieg zu beenden, weil man mit jedem Tag oder jeder Woche in der eigenen Verhandlungsposition schwächer wird. Das ist eine Beschreibung, die angelehnt ist an die Clausewitzsche Unterscheidung von Zielen und Zweck. Zweck antwortet auf die Frage, was wir mit einem Krieg erreichen wollen, Ziele darauf, was wir in einem Krieg erreichen wollen.
Wenn man das so beschreibt, ist auch klar, was das für uns als jetzt nicht unmittelbar Beteiligter heißt, nämlich Ertüchtigung der ukrainischen Armee, dass sie in der Lage ist, den Russen Verluste zuzufügen, Gegenoffensiven zu starten, russische Offensiven aufzuhalten, die dazu führen, dass die russischen Maximalziele nicht erreichbar sind. Und umgekehrt natürlich dann auch im Hinblick auf die Ukraine, nicht Waffenlieferungen einzubehalten. Das wäre ja dann gewissermaßen Putin in die Karten zu spielen. Sondern eher zu sagen, für den Fall, dass ihr euch auf einen Waffenstillstand unterhalb eurer Ziele, nämlich der Wiederherstellung der territorialen Integrität mindestens vom 23. Februar einlasst, erteilen wir Europäer euch Sicherheitsgarantien, die dazu führen, dass dieser Waffenstillstand nicht etwa eine Erholung der russischen Streitkräfte mit Umgruppierung wie der Auffüllung der Verluste darstellt, um bei nächster Gelegenheit den Krieg wiederaufzunehmen, sondern dass dann völlig andere politische und auch militärische Konstellationen herrschen.
"Diplomatie ist nicht einfach die Alternative zum Sprechen der Waffen"
Kößler: Es gibt bei der Frage, wie wir aus diesem Krieg herauskommen, zwei Denkschulen. Die einen setzen ihre Hoffnung auf Diplomatie, auf Verhandlungen, auf Kompromissbereitschaft aufseiten der Ukraine und auf gesichtswahrendes Entgegenkommen gegenüber Russland und Wladimir Putin. Die andere setzt auf den zivilen und militärischen Selbstbehauptungswillen der Ukraine und auf nahezu bedingungslose Unterstützung durch den Westen. Dafür plädieren auch Sie. Warum?
Münkler: Man kommt zur diplomatischen Lösung nicht, wenn man von vornherein die Frage des Kriegsverlaufes ausblendet. Ich habe mich sowohl was den Ersten Weltkrieg betrifft als auch, was den 30-jährigen Krieg betrifft, mit solchen Kriegen intensiv beschäftigt, und man kann in beiden Fällen sehen, dass Diplomatie nicht einfach die Alternative zum Sprechen der Waffen ist, sondern dass beides miteinander interagiert und sich auch gegenseitig unterstützen kann.
Kößler: Das heißt, der Kriegsverlauf entscheidet über die Aufnahme von Verhandlungen und einen möglichen Friedensschluss?
Münkler: Exakt.
Kößler: Und nicht andersherum, wie das die Verfechter der Diplomatie sagen.
Münkler: Nicht andersherum, ja, so wie das in Deutschland einige glauben, die sagen, wir müssen jetzt umschalten von Lieferungen von Waffen auf Diplomatie. Das heißt gewissermaßen der stärkeren Seite, und das ist nun mal die russische Seite, in die Karten zu spielen, also letzten Endes Partei zu ergreifen.
Selenskyjs Friedensplan
Kößler: Der Friedensplan von Wolodymyr Selenskyj sieht den vollständigen Abzug Russlands, die juristische Verfolgung aller russischen Kriegsverbrechen und internationale Sicherheitsgarantien vor. Die Reaktionen aus Moskau waren harsch, ein kategorisches Nein. Welche Chancen geben Sie der Initiative Selenskyjs?
Münkler: Das ist sozusagen eine Fortsetzung der Kriegsziele mit einer anderen Überschrift, indem darüber geschrieben wird "Friedensplan". Das ist sicherlich auch an die Europäer oder an bestimmte Leute adressiert und formuliert noch einmal, was im Prinzip für die Ukraine die Maximalforderungen sind. Das ist sicherlich auch richtig. Die russischen Maximalforderungen sind ja auch bekannt. Sie liegen relativ früh auf dem Tisch, und es ist jetzt der Kriegsverlauf, der darüber entscheidet, in welcher Weise beide Seiten bereit sind, unterhalb ihrer Maximalforderungen in Gespräche einzutreten. Das ist noch nicht erreicht.
Wir sind im Augenblick in einer Situation, in der beide Seiten ihre Maximalforderungen benennen, bei denen man im Falle der Ukraine natürlich sagen kann, dass es die Wiederherstellung des Status quo ante von nicht nur vor dem 24. Februar ist, sondern eigentlich vor 2014, also der Annexion der Krim und der Schaffung der kleinen Luhansk- und Donezk-Separatistengebiete. Man wird sehen, wie sich das auswirkt. Das Problem ist dabei, wenn die russische Seite ihre Forderungen in hohem Maße durchsetzen könnte, dass das Folgen hat im Hinblick auf einen Lernprozess für viele andere. Man muss sich nur die Konstellationen von 1938 ff. anschauen, wie die Vorstellung, wir saturieren den Aggressor, indem wir ihm entgegenkommen, nicht dazu geführt hat, dass er satt geworden ist, sondern dass er noch zusätzlichen Hunger bekam.
Kößler: Sie meinen das Münchner Abkommen.
Münkler: Das Münchner Abkommen und alles, was sich danach abgespielt hat, im Prinzip bereits der Anschluss Österreichs.
"Ein Signal, das in eine Welt von Kriegen führen würde"
Kößler: Die Alternative lautet Sieg oder Niederlage. Was würde eine Niederlage der Ukraine bedeuten?
Münkler: Eine Niederlage der Ukraine würde vermutlich zur Folge haben, dass die Kremlführung zum Ergebnis kommt, wir haben hier die Blaupause, die uns in die Lage versetzt, unseren imperialen Phantomschmerz zu stillen, indem wir das Imperium – sei es nun nach Zarengrenzen bemessen oder an denen der Sowjetunion – wiederherstellen. Das heißt dann, hier und da im Prinzip in ähnlicher Weise vorzugehen. Kurzum, das wäre ein verhängnisvolles Signal, das letzten Endes in eine Welt von Kriegen führen würde.
Kößler: Deshalb ist es notwendig, dass die Ukraine siegt?
Münkler: Deswegen ist es zunächst einmal notwendig, dass Russland seine Ziele nicht erreichen kann. Was ein Sieg der Ukraine bedeutet, das ist eine Interpretationsfrage. Im Augenblick würde ich sagen, ein Sieg der Ukraine ist schon dann gegeben, wenn sie in der Lage ist, sich gegen die russische Armee zu behaupten.
"Die Ukrainer brauchen schwere Waffen"
Kößler: Dafür braucht es Waffen aus dem Westen.
Münkler: Dafür braucht es ganz zweifellos Waffen.
Kößler: Auch schwere Waffen?
Münkler: Auch schwere Waffen und vor allen Dingen Munition, um die Durchhaltefähigkeit dieser Armee zu gewährleisten, und man kann auch sehen, wie die Russen darauf reagieren, indem sie zunehmend gegen die psychische Verfassung der ukrainischen Bevölkerung agieren, durch die Angriffe auf die Infrastruktur, aber auch gegen die Nachschubwege für die Versorgung der Front.
Eine Zeit lang war vor allen Dingen von Leopard-Panzern die Rede. Das ist jetzt ein bisschen in den Hintergrund getreten. Im Augenblick sind es eher Luftabwehrsysteme der unterschiedlichsten Art, und das ist ein flexibles Geschehen.
Kößler: Wenn es um alles oder nichts geht, dann ist die Frage, warum ist der Kanzler so zögerlich, wenn es um die Frage schwerer Waffen geht und der bedingungslosen Unterstützung der Ukraine? Man hat ihm Angst unterstellt. Könnte es auch Besonnenheit sein?
Münkler: Vermutlich ist es beides, und auch noch das Problem des Zusammenhaltens dieser Koalition mit ihren einander entgegenstrebenden Kräften. Aber wenn man das einmal hintanstellt und überlegt, was die Probleme sind, die dabei entstehen können, dann kann man sich relativ leicht vorstellen, dass dieselben, die jetzt sagen, die Deutschen sollen einmal vorangehen mit der Lieferung von bestimmten Waffensystemen, dann, wenn die Sache schiefgeht, sprich, wenn das russischerseits zum Vorwand einer nachhaltigen Eskalation genommen wird, dass dieselben dann sagen: Ja, wer war es? Die Deutschen, die sind an allem schuld. Also sozusagen dieses Vom-Ende-her-Denken oder auch von den Möglichkeiten, die die russische Seite hat, deutsches Agieren destruktiv in Europa einzusetzen, weil natürlich im Hintergrund das Problem steht: Die Integration Deutschlands in Europa ist gelungen auf der Grundlage dessen, dass die Deutschen wirtschaftliche Macht in politische Macht konvertieren dürfen, aber nicht militärische Macht in politische Macht. Und der Prozess, mit dem wir es jetzt zu tun haben, ist, wenn er länger andauert, einer, dass Deutschland, legen wir jetzt nur mal ein Zwei-Prozent-Kriterium der Militärausgaben im Hinblick auf das Bruttoinlandsprodukt zugrunde, nach den USA die militärisch stärkste Macht wird, jedenfalls im konventionellen Bereich der NATO.
Aufrüstung mit kluger Kommunikation gegenüber den Nachbarn verknüpfen
Kößler: Das heißt, die Erkenntnis, dass wir mehr für unsere Verteidigung tun müssen und dass wir auch den Forderungen der Vereinigten Staaten nachkommen müssen, dieses Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, könnte insofern nach hinten losgehen, als es Befürchtungen weckt über ein zu starkes Deutschland in der viel zitierten Mittellage Europas? Könnte das auch bei unseren westlichen Nachbarn zu Besorgnis führen?
Münkler: Ja, bei unseren westlichen Nachbarn und natürlich auch bei den östlichen Nachbarn, nehmen wir nur Polen, die im Augenblick ja besonders laut sind im Hinblick darauf, dass die Deutschen jetzt endlich Waffen an die Ukraine liefern müssen. Aber wenn das dazu führt, dass neben der wirtschaftlichen Macht Deutschlands, wenn dazu dann auch noch, wir sprechen ja über Landes- und Bündnisverteidigung, es vor allen Dingen deutsche Fähigkeiten sind, eine entsprechende deutsche Rüstungsindustrie etc., dass dann schon die Vorstellung aufkommen kann, oh Gott, oh Gott, wir haben plötzlich innerhalb Europas einen Hegemon, der natürlich dann auch mehr zu sagen hat als andere. Das heißt nicht, dass man deswegen gar nichts machen darf, um das zu vermeiden, sondern man muss es mit entsprechender kluger Kommunikation gegenüber den Nachbarn verknüpfen.
Kößler: Genau das ist ja ein Spagat: auf der einen Seite die Ukraine zu unterstützen, auf der anderen Seite kein Misstrauen, kein neues altes Misstrauen zu wecken.
Münkler: Genau.
"Deutsches Militär wird wieder eine sehr viel stärkere Rolle spielen"
Kößler: Was ist Ihre Empfehlung? Wie sollte die Bundesregierung agieren?
Münkler: Vermutlich kommt die Bundesregierung nicht darum herum, den völlig veränderten sicherheitspolitischen Konstellationen Rechnung zu tragen und sehr viel mehr in den Militäretat hineinzutun, sehr viel größere Fähigkeiten aufzubauen, selbst auch, wenn man bedenkt, dass die Ukraine wahrscheinlich erst in einen Waffenstillstand einwilligt, wenn sie Sicherheitsgarantien der Europäer bekommt. Aber um Sicherheitsgarantien geben zu können, muss man auch die Fähigkeiten haben, sie einzulösen. Da braucht man etwas, um das entsprechend zu untersetzen. Wenn man das alles bedenkt, dann wird das dazu führen, dass im Verlauf der nächsten Jahre deutsches Militär wieder eine sehr viel stärkere Rolle spielt.
Kößler: Die Rückkehr des Militärischen in den politischen Diskurs auch.
Münkler: Ja, natürlich, und dann auch die Erwartung, dass das Militär sich äußert hinsichtlich von Fähigkeitslücken, von Erfordernissen und derlei mehr. Das heißt dann gerne bei einer nervösen Öffentlichkeit auch Militarisierung der Politik. Das ist so sicherlich nicht der Fall, sondern wir haben ja jetzt die Folgen dessen erlebt, wenn das Militär ganz hinten angestellt worden ist. Aber man muss das vorsichtig machen, man muss das mit den Nachbarn kommunizieren. Die Ringtausche, die da stattgefunden haben, also die Slowakei oder Polen oder was auch immer, gibt im Prinzip altes sowjetisches Militärgerät an die Ukraine ab und dafür bekommen sie Ersatz aus deutscher Produktion oder deutschen Beständen – das sind solche Schritte und Formen auch der Vertrauensbildung. Das kann man aber gewissermaßen nicht in dem Sinne machen, dass man von jetzt auf gleich mit einem U-Turn das Gegenteil des vorher Propagierten macht, sondern da muss man sich auch diplomatisch einschleichen.
Wie kann eine neue Friedensordnung aussehen?
Kößler: In der Analyse sind sich alle einig, dass mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine die europäische Friedensordnung der Nachkriegszeit in sich zusammengebrochen ist. Die Frage ist, wie wird eine neue Ordnung aussehen, und wie kann man zu dieser neuen Ordnung kommen? Halten Sie es für denkbar, mit Wladimir Putin zu einem neuen Agreement zu kommen?
Münkler: Im Augenblick ist nicht sichtbar, wer Putin nachfolgen würde. Das ist ja überhaupt ein Problem der russischen Politik, dass es im Unterschied zur alten Sowjetunion, wo es ein Politbüro und ein Zentralkomitee und alles Mögliche gab, es keine Vorstellung davon gibt, wie ein Nachfolger Putins ermittelt wird, wo der herkommen soll, in welcher Weise hier die Kräfte spielen. Insofern heißt ein Austausch der Kremlführung, insbesondere Putins, nicht unbedingt, dass die Sache einfacher wird. Sie kann auch sehr viel schwieriger werden.
Kößler: Wie sehen Sie eine mögliche neue Rolle Russlands? Wird es Teil Europas bleiben oder sehen Sie ein Abdriften in eine Allianz mit China? Das ist ja das, was Putin ganz offensichtlich anstrebt.
Münkler: Und was natürlich auch durch die Wirtschaftssanktionen, also die Entkoppelung des russischen Wirtschaftskreislaufes vom europäisch-atlantischen Wirtschaftskreislauf, beschleunigt wird. Ich glaube nicht, dass das unbedingt im russischen Interesse ist, denn die Russen sind dann der Juniorpartner Chinas. Also Xi Jinping ist derjenige, der auf dem Fahrersitz Platz genommen hat.
Kößler: Koch und Kellner.
Münkler: Genau, Koch und Kellner. Und die Russen sitzen allenfalls auf dem Beifahrersitz und dürfen ab und zu mal Bemerkungen machen. Es wird vermutlich darauf hinauslaufen, die Gespräche mit Putin zu führen. Es ist eine Frage des Vertrauens, das nicht mehr gegeben ist, und das führt zu der Frage, also der Hauptfrage, die Sie mir gestellt haben, nämlich wie wird diese Sicherheitsstruktur aussehen. Sie wird nicht mehr in dem Maße wie in der Vergangenheit auf wirtschaftlicher Macht und auf wechselseitiger Abhängigkeit, Verflechtung als vertrauensbildende Maßnahme beruhen und beruhen können, sondern es werden sehr viel stärker militärische Fähigkeiten eine Rolle spielen, diesen Preis für Zuwiderhandlungen gegen das System der Regeln auch einzufordern.
Kößler: Wird es eine neue Weltordnung neuer rivalisierender Blöcke sein?
Münkler: Ja, die Vorstellung, die ja vielleicht gar nicht bei den Russen und den Chinesen und den Amerikaner wohl auch nicht, die aber bei den Europäern und den Deutschen eine große Rolle gespielt hat, nämlich dass das rhetorische Wir der Menschheit in ein politisch handlungsfähiges Subjekt verwandelt wird, wie man das ja auch in den bestimmten Typus von Klimakonferenzen und anderem mehr sehen konnte, dass das vorerst ins zweite Glied tritt und dass wir es mit fünf großen Akteuren zu tun haben: USA und China, Russland und die Europäische Union, die dafür allerdings einiges tun muss, um politisch handlungsfähig zu sein, und Indien als dem Zünglein an der Waage, auf der einen Seite mit der Versicherung, man sei die größte Demokratie der Welt, auf der anderen Seite dahinter natürlich ein ziemlich unappetitlicher Hindu-Nationalismus, und die alten Verbindungen zu Russland oder zur Sowjetunion. Da sind eine ganze Reihe nicht im Spiel. Also Lateinamerika ist nicht dabei, Afrika ist nicht dabei, die islamische Welt ist nicht dabei, Südostasien ist nicht dabei. Aber man kann sehen, dass Scholz in Elmau genau die eingeladen hat, an dem G7-Treffen teilzunehmen.
Kößler: Das heißt, es ist ratsam, sich neue Partner zu suchen?
Münkler: Genau. Das ist zwischen den beiden vermutlich großen Blöcken, die es geben wird, USA und Europa, China und Russland. Das ist sozusagen kein Best-Case-Szenario, aber es ist auch kein Worst-Case-Szenario, dass es zwischen denen eine Konkurrenz gibt um die zweite Reihe. Da haben die Europäer im Prinzip, wenn Sie sich ein bisschen in die Geschichte hineinbegeben, durchaus Erfahrungen damit, wie solche Systeme funktionieren können. Das ist vermutlich das Beste, was man bekommen kann, wenn man nicht in eine völlig anarchische Situation hineingeraten will.
"Destruktive Politik ist viel einfacher als konstruktive Politik"
Kößler: Was bringt das neue Jahr, wenn es keinen Frieden in der Ukraine bringt? Wird die Putin-Strategie der Destabilisierung weitergehen und wird die Wehrhaftigkeit des Westens oder der Demokratien weiter auf dem Prüfstand stehen?
Münkler: Ja, destruktive Politik ist immer viel einfacher als konstruktive Politik. Das wird sich auch beim Wiederaufbau der Ukraine, wenn es denn dazu kommt, zeigen, dass es Jahre, Jahrzehnte dauern wird, um das wiederherzustellen, was innerhalb von wenigen Monaten kaputt gemacht worden ist. Und insofern hat die Macht, die gewissermaßen die Rolle des Destruktiven spielt, kurzfristig erhebliche Vorteile, und das wird Putin weiter betreiben, versuchen, die Europäer gegeneinander auszuspielen. Da hat er eine Reihe von Optionen. Eine ist seine, in Anführungszeichen, Männerfreundschaft mit Erdogan. Eine andere ist die Unterstützung der Serben und natürlich dann auch das, was Lukaschenka in der Vergangenheit versucht hat: Migrationsströme einzusetzen, um auf diese Weise die Europäer gegeneinander auszuspielen.
Kößler: Alles Hebel der Spaltung.
Münkler: Alles Hebel der Spaltung, denn da bedarf es einer klugen und ausgleichenden Politik, bei der vor allen Dingen Berlin gefordert ist, um zu verhindern, dass diese Spaltung sowohl des europäischen Zweiges der NATO als auch der Europäischen Union gelingt.
"Die Visegrád-Connection ist zerfallen"
Kößler: Eben das ist die Frage nach der Einheit des Westens. Es wird ja immer gesagt, der Westen habe sich so geschlossen gezeigt. Niemand hätte das vermutet, am wenigsten Wladimir Putin. Das mag stimmen für die NATO mit Blick auf zum Beispiel neue Beitritte Schweden und Finnland. Stimmt das aber auch mit Blick auf die Europäische Union? Dort sind doch Spaltungstendenzen sichtbar.
Münkler: Was Putin offenbar unterschätzt hat, ist das, was man vielleicht die Produktivität von Feindschaft nennen kann. Wenn der Feind sehr groß und wenn der Feind sehr bedrohlich ist, dann spielen plötzlich eine Reihe von Gegensätzen keine große Rolle mehr. Also die Visegrád-Connection, dieses Bündnis vor allen Dingen zwischen Polen, Ungarn, aber auch Slowakei und anderen, die ist zerfallen. Auch die USA und Europa sind wieder näher zusammengerückt. Wie lange das hält, ist schwer zu sagen. Das hängt auch von Wahlausgängen in den USA ab. Das ist die eine Frage der Geschlossenheit des Westens, also sozusagen Washington und Brüssel, USA und EU.
Das andere ist, die Fliehkräfte in der Europäischen Union sind natürlich da, und sie werden sicherlich schnell wieder stärker werden, sobald dieser Krieg zu Ende ist, eher in einem Waffenstillstand, nicht in einem stabilen Frieden. Und dann wird man sehen. Aber das Vernünftigste wird sein, wenn die Europäer die Frage der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Form eines weiteren Kreises organisieren, also nicht auf der Grundlage der 27. Da sind zu viele Vetospieler mit dabei, sondern nun zu sagen na ja, gut, wir haben den Schengen-Raum, der ist nicht identisch, wir haben den Euro-Raum, der ist nicht identisch. Wir schaffen gewissermaßen so etwas wie eine gemeinsame europäische Strategie in diesem Bereich, und da können einige mitmachen und dann gut.
Kößler: Herr Professor Münkler, ich bedanke mich für dieses Gespräch.
Münkler: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.