Donnerstag, 28. März 2024

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Kommentar zum Wahlrecht
Vertrauen in das parlamentarische System steht auf dem Spiel

Wahlgesetze müssen einfach, klar und nachvollziehbar sein, kommentiert Günter Bannas. Die Auseinandersetzungen über Wahlen und Wahlrechtsreform drohten das Vertrauen in das parlamentarische System zu unterminieren. Darauf warteten Demokratiegegner.

Ein Kommentar von Günter Bannas | 04.02.2023
Plenarsitzung im Deutschen Bundestag
Im Bundestag gibt es heftigen Streit um eine Reform des Wahlrechts (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
Von drei Seiten aus ist das Wahlsystem in Deutschland ins Gerede gekommen. Im Land Berlin müssen die Wahlen vom September 2021 wiederholt werden. Im Bundestag streiten die Parteien über eine Wahlrechtsreform, die das Ziel hat, die Zahl der Abgeordneten künftig zu begrenzen. Das Bundesverfassungsgericht ist seit Jahren immer aufs Neue mit Wahlrechtsfragen befasst.

Chaos in der Hauptstadt

Mittlerweile schon fast eineinhalb Jahre liegt das schier unbeschreibliche Chaos in der Hauptstadt zurück, das entstanden war, als gleichzeitig Wahlen zum Bundestag, zum Abgeordnetenhaus und zu den kommunalen Bezirksparlamenten abgehalten wurden. Ein Volksentscheid zur Wohnungspolitik und – nicht zuletzt – der Berlin-Marathon kamen hinzu. Die Berliner Landesverfassungsrichter entschieden im Rahmen ihrer Zuständigkeit, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksversammlungen müssten vollständig wiederholt werden.
Ganz anders die Mehrheit des Bundestages. Die Ampelkoalition setzte durch, im Land Berlin müsse die Bundestagswahl nicht komplett, sondern nur in wenigen Wahlbezirken wiederholt werden. Dieser Widerspruch findet jetzt seine Fortsetzung in Karlsruhe. Die Verfassungsrichter wiesen Eilanträge gegen die Wiederholung der Berliner Landeswahlen zurück, wollen aber in der Hauptsache erst später entscheiden, also deutlich nach dem Wahltermin am Sonntag nächster Woche. Nur für Juristen ist das nachvollziehbar.
Kurios ist es doch, was wiederum den Blick auf die Bundestagswahl in Berlin lenkt. Denn die Richter in Karlsruhe haben auch über Wahlprüfungsbeschwerden von Union und AfD zu entscheiden, die eine komplette Wiederholung der Bundestagswahl im Land Berlin zum Ziel haben. Das könnte – nicht ganz nebenbei - zum Ausscheiden der Linkspartei aus dem Bundestag führen, die nur wegen ihrer drei gewonnenen Direktmandate dort in Fraktionsstärke vertreten ist. Zwei davon hat sie in Berlin erzielt.
Auch Mitglieder anderer Fraktionen könnten nachträglich betroffen sein. Ob das Bundesverfassungsgericht die vollständige Wiederholung der Landeswahlen billigt, gleichzeitig aber eine Komplettwiederholung der Bundestagswahl in Berlin ablehnt? Gleiches ungleich behandelt? Kaum zu glauben. Auffällig aber ist schon jetzt, dass sich die erforderliche Wiederholung der Bundestagswahl in der Hauptstadt – in welchem Umfang auch immer – immer weiter hinauszögert.

Weiteres Verfahren steht bevor

Bald schon steht dem Bundesverfassungsgericht ein weiteres Wahlrechtsverfahren ins Haus. Hintergrund sind die Überhangmandate für Parteien, die in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt haben, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Diese müssen mit Mandaten für die anderen Parteien ausgeglichen werden, was die Zahl der Abgeordneten im Bundestag auf nun 736 in die Höhe getrieben hat. SPD, Grüne und FDP wollen das ändern. Überhang- und Ausgleichsmandate sollen abgeschafft werden. Parteien sollen nur noch so viele Direktmandate behalten können, wie ihnen nach den Zweitstimmen zukommen, die deshalb künftig Hauptstimmen heißen sollen.
Die Folge: Wahlkreissieger mit besonders schlechten Ergebnissen kämen nicht mehr in den Bundestag. Dagegen hat die Union den Gang nach Karlsruhe angekündigt: Wahlkreisgewinnern dürfe das Parlamentsmandat nicht verweigert werden. Auch solchen, die gerade einmal 25 Prozent der Stimmen erhielten? Sind das wirklich Wahlsieger? Nur der Koalitionsvorschlag garantiert eine dauerhafte Begrenzung der Zahl der Bundestagsabgeordneten.
Politik und Justiz aber sollten in allen Fällen aufpassen. Wähler sind keine Rechtsexperten. Wahlgesetze müssen einfach, klar und nachvollziehbar sein. Die Auseinandersetzungen darüber drohen das Vertrauen in das parlamentarische System zu unterminieren. Die Demokratiegegner warten nur darauf.
Günter Bannas
Günter Bannas
Günter Bannas, geboren 1952 in Kassel, aufgewachsen in Köln. Studium der Volkswirtschaftslehre und der Politischen Wissenschaften. Praktikum und freie Mitarbeit beim Deutschlandfunk. Ab 1979 Redakteur und Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Frankfurt und Bonn. Leiter des Bonner Büros der Süddeutschen Zeitung. Ab 1999 Leiter des Parlamentsbüros der FAZ in Berlin. Seit 2018 Autor (u.a. „Machtverschiebung"), Publizist (u.a. bei „Der Hauptstadtbrief) und Gastkommentator beim Deutschlandfunk.