In Hornbostel, einem Dorf in der Lüneburger Heide, stapft Christian Seidel im Sommer 2016 über eine Wiese auf den Fluss Aller zu. Vorbei an Pferden und Rindern: "Das ist hier die Hornbosteler Hutweide, Naturschutzgebiet alles. Hier die Aller mit Flora-Fauna-Habitatsgebiet. Und da liegt die Schleusenanlage Bannetze." Christian Seidel zeigt er auf eine alte Schleuse, Baujahr 1912. Ein Relikt aus einer Zeit, als hier noch Erdöl gefördert wurde. Klein-Texas, so hieß die Gegend früher: "Das ist hier eine Schleuse mit 155 Metern Länge. Die ist für große Schubverbände erarbeitet worden, weil hier früher die ganzen großen Erdöl-Schiffe hoch- und runtergegangen sind."
Hochleistungs-Wasserrad für Flüsse mit niedrigem Gefälle
Der Ölboom ist längst vorbei, 1963 machte hier das letzte Bohrloch dicht. Seidel, Ingenieur an der TU Braunschweig, will die alte Schleusenanlage jetzt nutzen, um der Wasserkraft zu neuer Blüte zu verhelfen. Denn neben der Schleuse rauscht die Aller über ein Stauwehr, ein künstlicher Wasserfall, gerade Mal anderthalb Meter hoch. Ein idealer Standort für Seidels Projekt: der Prototyp eines neuartigen, hochmodernen Wasserrads.
Das sei das größte Wasserrad der Welt, sagt Seidel, "vom Schluckvermögen, also was an Wasser verarbeitet werden kann, und von der Leistung. Das ist tatsächlich ein Rekord. Da sind wir weltweit einmalig". Ein Wasserrad, das die Lücke schließen soll zwischen den alten, oft an Bächen gelegenen Wassermühlen und den Turbinen in jenen großen Wasserkraftwerken, wie man sie an Stauseen findet. Diese Turbinen sind zwar sehr effizient, funktionieren aber nur bei ausreichendem Wasserdruck. Christian Seidel: "Wenn wir uns unterhalb von vier Metern Fallhöhe bewegen, hat die Turbine im Bereich von drei bis vier Metern Fallhöhe eine wirtschaftliche Grenze und bei ungefähr zwei Metern Fallhöhe eine technische Grenze."
Prototyp mit einem halben Megawatt Maximalleistung
Bei einer Fallhöhe unter zwei Metern würde eine Turbine ins Stocken geraten oder stehen bleiben wie ein störrischer Esel. Doch bei vielen Stauwehren in Deutschland rauscht das Wasser nur ein bis zwei Meter hinab. Zu wenig für eine Turbine, aber noch brauchbar für die leichtgängigeren Wasserräder. Deren Nachteil ist ihre eher bescheidene Leistung. Um dieses Manko auszubügeln und deutlich mehr Leistung aus dem alten Patent herauszukitzeln, musste Seidels Team das Rad quasi neu erfinden. Heraus kam ein Gigant mit elf Metern Durchmesser und zwölf Metern Breite, bestehend aus 60 Metallschaufeln, dicht an dicht stehend nach oben gekrümmt. Seine Maximalleistung beträgt ein halbes Megawatt.
2016 begannen die Bauarbeiten an dem Prototyp in Hornbostel. Die Fundamente waren bereits fertig, dann aber geriet die Sache ins Stocken, sagt Seidel: "Die Gründe waren, dass sich unser Industriepartner, mit dem wir das zusammen umgesetzt haben, die Salzgitter AG, sich aufgrund der ganzen Klimakrise und Energiekrise auf ihr eigentliches Kernthema der Stahlerzeugung konzentrieren musste." Ende 2019 stieg das Unternehmen aus, damit verfiel zunächst auch ein Großteil der Fördergelder vom Bund und vom Land Niedersachsen. Doch Christian Seidel und seine Leute gaben nicht auf und suchten nach einem neuen Partner.
Das zog sich wegen Corona zwar hin, doch nun gibt es wieder Hoffnung, erklärt Christian Seidel: "Wir haben ein kommunales Energieversorgungsunternehmen gefunden, welches schon langjährig im Bereich Wasserkraft tätig ist." Um das Hightech-Wasserrad fertigzubauen zu können, muss das Konsortium nun die bereits bewilligten Fördergelder von Bund und Land erneut beantragen.
Doch zuletzt sind die Rohstoff- und Energiepreise stark gestiegen, entsprechend teurer dürfte das Projekt werden. Aktuelle Ergebnisse hätten gezeigt, dass die Teuerung bei 20 Prozent liege, sagt Seidel: "Das ist natürlich schade, aber es ist eben so, wie die derzeitige wirtschaftliche Situation sich abzeichnet." Demnach dürfte es bei den ursprünglich anvisierten Kosten von elf Millionen Euro nicht bleiben.
Potenzial bei Flüssen mit niedrigem Gefälle
Sollte sich das Hochleistungs-Wasserrad bewähren, könnte es dort eingesetzt werden, wo sich bislang kaum Wasserkraftwerke befinden, und zwar wo Flüsse nur über schwaches Gefälle hinabfließen. "Überall, wo Wasser ist, kann auch Potenzial gewonnen werden. Wir haben in Deutschland über 240 Flüsse, die über fünf Kubikmeter pro Sekunde Durchfluss haben." Theoretisch ließen sich damit zwei bis drei Gigawatt erschließen - immerhin die Leistung von zwei bis drei Atommeilern.
Und die Auswirkungen auf die Fische? Die sind nach Meinung von Christian Seidel kein nennenswertes Problem, denn: "Die fahren dann fahrstuhlmäßig, wie so ein Paternoster-Prinzip. Wir haben ein bis vier Umdrehungen pro Minute bei den Wasserrädern und ermöglichen dadurch einen sehr langsamen Abstieg. Wenn ich eine geringe Drehzahl habe, dann sinkt die Mortalitätsrate entsprechend ab." Läuft von nun an alles nach Plan, könnte das Riesen-Wasserrad in der Hornbosteler Hutweide 2024 fertig sein. Danach soll ein ausgiebiger Probebetrieb zeigen, wie sich das neue Design in der Praxis bewährt.