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Epidemiologische Modellierung
Werkzeuge zur Pandemie-Prognose werden komplexer

Epidemiologische Modelle haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, den Verlauf der Corona-Pandemie zu prognostizieren. Auch in der Endemie können sie gute Dienste leisten, aber mitunter schwerer zu bedienen sein, so Forscher im Fachblatt "Science".

Von Piotr Heller | 03.02.2023
Eine Frau niest in ein Taschentuch.
Auch in der endemischen Phase können mathematische Modelle dabei helfen, die Zahl der Infizierten vorherzusagen (imago stock&people)
Die Covid-Lage mag sich in den meisten Ländern stabilisiert haben. Dennoch sollte man sie im Blick behalten, sagt der Epidemiologe Ben Cowling von der University of Hong Kong: „Es geht um Risikoabschätzung. Das machen wir für die Grippe schon lange. Wir könnten zum Beispiel fragen: Wie wahrscheinlich ist es, dass die Krankenhäuser in den nächsten Monaten vor einer Herausforderung stehen werden? Anders als bei der Grippe wissen wir bei Covid aber noch nicht, wann genau Krankheits-Wellen eintreten werden. Mit Modellen können wir das abschätzen.“
Und böse Überraschungen vermeiden. Die Modelle sind im Grunde mathematische Gleichungen. Man gibt ein, wie sich ein Virus verbreitet und wie stark es die Infizierten belastet. Dann berechnen sie beispielsweise, wie viele Plätze auf Intensivstationen nötig sein werden.
Ben Cowling und zwei seiner Kollegen weisen in ihrem Science-Kommentar nun aber auf ein Problem hin: Die Gleichungen sind unwahrscheinlich komplex geworden. Nehmen wir den Teil, der beschreibt, wie stark das Virus die Infizierten belastet. Diese Größe war am Anfang der Pandemie noch simpel. Jetzt hängt sie von vielen Faktoren ab: „Mit der Impfung hat sich die Zahl der Kombinationen verdoppelt: Man konnte sagen: War die Person bereits infiziert – Ja, Nein – und ist sie geimpft – Ja, Nein. Dann die zweite Dosis, dann die Booster, dann neue Varianten. All das verdoppelt die Kombinationsmöglichkeiten. Inzwischen sind es Tausende, wenn nicht sogar Millionen", sagt Adam Kucharski von der London School of Hygiene, der an dem Kommentar nicht mitgeschrieben hat, ihn aber lobt.

Wo bleiben die Überwachungsstrategien?

Durch diese Komplexität können sich an vielen Stellen Fehler einschleichen. Die Modelle werden unzuverlässig. Die Kommentar-Autoren Ben Cowling und Co. fordern daher, die Modelle jetzt zu vereinfachen: “Wir fragen uns: Kann man die Immunität einfacher beschreiben als über die Kombination aus Impfungen und Infektionen. Vielleicht gibt es da einen Biomarker? Das könnte vielleicht der Antikörperspiegel sein, aber auch etwas anderes.”

Nach dem müsste man jetzt suchen. Die Datenlage für den zweiten wichtigen Input der Modelle – die Verbreitung des Virus – ist derzeit auch nicht sicher. “Wir sind in so einer Übergangsphase und wir sollten jetzt darüber nachdenken, wie wir eine nachhaltige Covid-Überwachung hinbekommen. Meine Kollegen und ich machen uns Sorgen, dass es da noch keinen Fahrplan zu geben scheint", sagt Ben Cowling und schlägt vor, Überwachungsstrategien wie bei der Grippe zu entwickeln, wo etwa in Deutschland ausgewählte Arztpraxen Fälle ans RKI übermitteln und die Experten aus diesen Informationen die Grippewellen modellieren. So etwas könnte es auch für Covid-19 geben. Zudem regionale Leuchtturm-Labore, die die Varianten im Blick behalten.

Herausforderung Dunkelziffer

Doch die Autoren belassen es in ihrer Analyse nicht beim Blick auf die Covid-Modelle. Die Expertin Mirjam Kretzschmar vom Universitätsklinikum Utrecht, die an dem Kommentar nicht mitgeschrieben hat, unterstreicht: „Dass wir halt aus der Pandemie, wie sie jetzt gelaufen ist, lernen für eine eventuelle zukünftige Pandemie und uns überlegen, wie können wir in einer neuen Pandemie eben schneller und vielleicht besser auch mit solchen Modellen helfen und Daten analysieren?“

Die Autoren weisen minutiös auf die Herausforderungen der Modellierung hin und bieten Lösungen an. Etwa die Dunkelziffer: Wie viele Menschen sind wirklich infiziert? So etwas könnte man mit Studien lösen, bei denen man eine Zufallsstichprobe testet. Im Vereinigten Königreich gab es diese Studien. In Deutschland nicht. Eine große Unbekannte in den Modellen ist auch die Frage, wie die Menschen auf Maßnahmen reagieren. Die Autoren weisen darauf hin, dass es dazu nun massenweise Daten aus den letzten drei Jahren gebe, die man auswerten müsse.

Mirjam Kretzschmar: “Und  ich denke, das wird noch einige Jahre dauern, bis das alles ausgewertet ist,  modelliert, analysiert. Also da gibt es noch sehr viel zu tun. Und das passiert auch.”

Was auch ein Problem am Anfang der Pandemie war: Es gab oft keine klaren Zuständigkeiten bei der Datenerfassung, die Informationsströme waren nicht durchdigitalisiert – dadurch fehlte es an mancher Stelle an Input für die Modelle. All diese Fragen sollte man jetzt klären, findet auch Adam Kucharski: „Es geht die ganze Dinge, die eigentlich langweilig erscheinen.. So werden Entscheidungs- und Analysekapazitäten frei, um mit den Unwägbarkeiten umzugehen, die unweigerlich auftreten werden.“