Sonntag, 28. April 2024

Forum neuer Musik 2023
In der deutschen Nachkriegszeit

In der Krisenwahrnehmung der Gegenwart strecken sich uns beredte Jahreszahlen deutscher Geschichte entgegen: 1923, 1933, 1943, 1953. Das diesjährige Forum befragt und kommentiert musikalische Zeugnisse aus jener Zeit. Was haben sie uns heute zu sagen? Eine Übersicht über das Radio-Festival.

04.11.2023
    Im Schriftzug "Forum neuer Musik" erscheint ein blau verpixeltes Bild, auf dem man Menschen vor Kriegsruinen erkennen kann.
    Das Forum neuer Musik 2023 beschäftigt sich mit der Musik der Nachkriegszeit (Deutschlandradio/Anja Enders)
    Realitätsflucht, mangelnde Trauer, ja allgemeine Gefühlskälte konstatieren Zeitzeugen, die das Deutschland nach 1945 beschreiben. Die zweifellos traumatisierte Bevölkerung ist jetzt mit dem Weiterleben beschäftigt: mit Wiederaufbau, Wiedereingliederung der aus Krieg und Lagerhaft Heimkehrenden, mit Klärung oder Vertuschung des eigenen Tuns in Nationalsozialismus und Krieg. Viele Deutsche sehen sich selbst als Hauptopfer des Kriegs. 

    Annäherung an eine verschlossene Zeit

    Wir nähern uns dieser uns heute fernen, verschlossenen Zeit über ihre musikalischen Äußerungen. Das Forum 2023 besichtigt ernste und Unterhaltungsmusik, die vor, während und nach der NS-Diktatur in Deutschland entstand und deren Urheber eher Angepasste, innerlich Emigrierte, auch Mitläufer waren.
    Was sagen ihre Musikwerke aus, was verschweigen sie? Und was an Unerledigtem spricht aus ihnen, wenn wir sie heute hören und re-politisieren?
    Ein blauer Streifen, der sich rechts etwas verdunkelt.

    Förderung und Forumsstruktur

    Zum 15. Mal wird das Forum von der Kunststiftung NRW gefördert. Und es ist Teil der Deutschlandradio-Denkwerkstatt 2023 "Die wehrhafte Demokratie". Es wird als Radio-Festival produziert und in acht Sendungen ausgestrahlt: im Programm des Deutschlandfunks sowie Online.
    Ein blauer Streifen, der sich rechts etwas verdunkelt.

    Künstlerische Projekte

    Studierende der Musikhochschulen Hannover und Mannheim spiegeln das Jahrzehnt ab 1923 in einem explosiven Liederprogramm. Die Frankfurter Oliver Augst und Marcel Daemgen dekonstruieren Filmschlager und Lieder der 1930er bis 1950er Jahre. Olaf Reitz und das Essener E-MEX Ensemble verbinden scheinbar wirklichkeitsferne Klavierwerke und Lieder mit Berichten aus einer höchst widersprüchlichen gesellschaftlichen Realität. Im Auftrag des Deutschlandfunks schreibt der israelisch-deutsche Komponist Eres Holz eine große Ensemblemusik, die verdrängte Kriegserfahrungen thematisiert.
    Ein blauer Streifen, der sich rechts etwas verdunkelt.

    Radioforum

    Die künstlerischen Projekte werden von musikjournalistischen Formaten flankiert. Zur Debatte stehen Komponisten von Hitlers „Gottbegnadeten-Liste“, Frauenfiguren in Opern der Nachkriegszeit, Anfänge kompositorischer Reflexion von Vernichtung und Trauma, musikpolitische Experimente in der Frühzeit der DDR. Eine Sendung gilt der Zusammenarbeit von Karlheinz Stockhausen und Recha Freier.
    Ein Mann mit Hut steht in der Einöde einer Ruinenlandschaft.
    Ruinen sind die Städte und die Beziehungen zwischen den Menschen. (Unsplash/ Library of Congress)
    Ein blauer Streifen, der sich rechts etwas verdunkelt.
    Einladung: Zwei Abende live im Deutschlandfunk Kammermusiksaal
    Konzert Donnerstag, 26.10.2023 / 19:30 Uhr / Deutschlandfunk Kammermusiksaal (Köln)
    Auf der verzweifelten Suche nach Normalität 
    Musikalisch-literarischer Abend mit Olaf Reitz, Amira Elmadfa, Martin von der Heydt, Eres Holz und dem E-MEX Ensemble
    Leitung: Christoph Maria Wagner

    Welche Gefühlslagen kursieren – angesichts der Ruinen, der Lager, angesichts Hitlers Ende und der Gegenwart der Besatzungsarmeen? Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefe“ bringen das eindrucksvoll auf den Punkt. Verbunden mit Texten von Hannah Arendt, Inge Müller und Hans Magnus Enzensberger artikuliert sich deutsche Nachkriegswahrnehmung als bestürzend unabgegolten, ja aktuell. Auch scheinbar harmlose Kompositionen von Hermann Reutter, Boris Blacher und Ernst Hermann Meyer werden in solchem Zusammenhang plötzlich beredt. Der Abend mit Schauspieler Olaf Reitz, Mezzosopranistin Amira Elmadfa und dem E-MEX Ensemble mündet in die Uraufführung eines Ensemblewerks des israelisch-deutschen Komponisten Eres Holz, das verdrängte Kriegserfahrungen thematisiert.

    Ausstrahlung am: 27.11.2023, 21:05 Uhr, Musik-Panorama 

    Konzert Samstag, 28.10.2023, 19:30 Uhr / Deutschlandfunk Kammermusiksaal (Köln)
    Davon_geht_die_Welt_nicht_unter
    Lieder Schlager der Angepassten – neu interpretiert
    Mit: Oliver Augst (Gesang), Marcel Daemogen (Elektronik), Sophie Agnel (Inside Piano), Jörg Fischer (Schlagzeug)

    Seit 25 Jahren arbeiten Oliver Augst und Marcel Daemgen an ihrem Projekt „Archiv Deutschland“. Liedgut verschiedener Epochen und politisch-ästhetischer Sphären wird künstlerisch dekonstruiert und auf verschüttete Kernaussagen hin untersucht. In diesem Fall werden bekannte Lieder und Schlager der 1930er bis 1950er Jahre neu interpretiert und um Wirklichkeit, die sie beschweigen, ergänzt: Ein Programm zwischen neuer Musik, Pop und Improvisation: verstörend, dunkel, manchmal auch tanzbar.

    Ausstrahlung am: 26.11.2023, 22:05 Uhr, Konzertdokument
    Ein blauer Streifen, der sich rechts etwas verdunkelt.
    Übersicht aller Sendungen: Das Forum 2023 im Radio
    04.11.2023, 22:05 Uhr, Atelier neuer Musik
    Vernichtung, Trauer, Traumata
    bei Karl Amadeus Hartmann, Rudolf Mauersberger, Hans Werner Henze
    Von Egbert Hiller
    Die Sendung betrachtet Hartmanns „Klaviersonate 27. April 1945“, Mauersbergers „Dresdner Requiem“, Henzes Funkoper „Der Landarzt“ nach Kafka und die ost-west-deutsche Kollektiv-Komposition „Jüdische Chronik“.

    11.11.2023, 22:05 Uhr, Atelier neuer Musik            
    Wandlung der „Gottbegnadeten“
    Ottmar Gerster, Karl Höller, Gottfried Müller
    Von Klaus Gehrke
    Die so genannte „Gottbegnadeten-Liste“ des NS-Staats bewahrte Künstler vor dem Fronteinsatz. Nach Kriegsende mussten sich die einst Bevorzugten neuen gesellschaftlichen Verhältnissen stellen. Die Sendung beleuchtet verschiedene individuelle Strategien dabei.

    18.11.2023, 22:05 Uhr, Atelier neuer Musik
    Retterin, Nutznießerin, Anklägerin                
      
    Frauenfiguren in deutschen Nachkriegsopern
    Von Ingo Dorfmüller  
    Vier von ihnen haben viel Zukunft vor sich, eine hat alles verloren: nur sie verurteilt den Krieg. Die Sendung vergleicht weibliche Opernfiguren bei Boris Blacher, Carl Orff, Rolf Liebermann und Paul Dessau.

    25.11.2023, 22:05 Uhr, Atelier neuer Musik
    Michaels andere Reisen
    Karlheinz Stockhausen trifft Recha Freier
    Von Georg Beck
    Stockhausens Oper „Michaels Jugend“, 1979 in Israel uraufgeführt, erzählt von Diktatur und Gewalt. Für die Initiatorin, Auftraggeberin und Shoah-Überlebende Freier und den Komponisten, der in Krieg und NS-Zeit beide Eltern verlor, ein Versuch, erlittene Traumata im Dialog künstlerisch zu artikulieren.

    26.11.2023, 21:05 Uhr, Konzertdokument             
    1923–1933: Tanz auf dem Vulkan. Lieder von Eisler, Wolpe, Trunk, Strauss u.a.   

    Mit Studierenden der Hochschulen Hannover und Mannheim       
    Leitung: Jan Philip Schulze, Axel Bauni
    Studierende der Liedklassen der Musikhochschulen in Hannover und Mannheim erarbeiteten ein explosives Lieder-Programm. Es verdeutlicht künstlerische Positionen für und gegen den Nationalsozialismus inklusive Mitläufertum. Eine Kooperation zwischen der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und dem Deutschlandfunk.

    26.11.2023, 22:05 Uhr, Konzertdokument
    Davon_geht_die_Welt_nicht_unter: neu interpretiert
    Mit Oliver Augst (Gesang), Marcel Daemgen, Elektronik), Sophie Agnel (Inside Klavier), Jörg Fischer (Schlagzeug)
    Oliver Augst und Marcel Daemgen dekonstruieren Lieder und Filmschlager der 1930er bis 1950er Jahre. Sie untersuchen ihr Material auf verschüttete Kernaussagen hin und ergänzen die Titel um jene Wirklichkeit, die diese beschweigen.

    Aufzeichnung aus dem Deutschlandfunk Kammermusiksaal vom 28.10.23 (siehe Live-Konzert)

    27.11.2023, 21:05 Uhr, Musik-Panorama 
    Auf der verzweifelten Suche nach Normalität

    Musikalisch-literarischer Abend mit Olaf Reitz, Amira Elmadfa, Martin von der Heydt, Eres Holz und dem E-MEX Ensemble. Leitung: Christoph Maria Wagner
    Zwischen Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefen“ und Eres Holz‘ neuer Ensemblemusik entfaltet sich ein Panorama bestürzender Texte und Kompositionen. Vermeintlich Harmloses wird plötzlich beredt und rückt die Nachkriegszeit in ihren Widersprüchen emotional nah. 

    Aufzeichnung aus dem Deutschlandfunk Kammermusiksaal vom 26.10.23 (siehe Live-Konzert)

    28.11.2023, 22:05 Uhr, Musikszene              
    Vision vom neuen Menschen
    Musikpolitische Entwürfe der frühen DDR
    Von Gisela Nauck

    Unter dem Motto „Die Kunst dem Volke“ wagt man sich in den 1950er Jahren an soziokulturelle Experimente: Kultur soll nicht mehr marktorientiert funktionieren, sondern für alle gestaltbar und zugänglich sein. Restriktive Kulturpolitik wird diese Versuche alsbald ersticken.