Archiv

Ukraine-Krieg
Andrij Melnyk: "Was wir heute brauchen, sind schwere Waffen"

Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, forderte erneut mehr Engagement von der Bundesregierung. Es gehe darum, dass Berlin die Lehren aus dem Massaker von Butscha ziehe und endlich handele, sagte er im Dlf. Die Sanktionen müssten verschärft und schwere Waffen geliefert werden.

Andrij Melnyk im Gespräch mit Dirk Müller |
Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine, steht neben einem LKW mit Hilfsgütern für die Ukraine. Melnyk appelliert an Bundeskanzler Olaf Scholz, nach der Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Bundestag an diesem Donnerstag eine Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg abzugeben.
Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine, steht neben einem LKW mit Hilfsgütern für die Ukraine. (picture alliance/dpa)
Die mutmaßlich von russischen Soldaten verübten Kriegsverbrechen in der ukrainischen Kleinstadt Butscha bei Kiew haben weltweit Entsetzen ausgelöst. Auch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk zeigte sich erschüttert. Er kritisierte erneut die Bundesregierung und warf ihr vor, nicht genügend für die Ukraine zu unternehmen.
Melnyk kritisierte ebenfalls die engen Verbindungen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Russland in der Vergangenheit. Dieser hatte daraufhin das Scheitern seiner Russlandpolitik eingestanden. Im Deutschlandfunk-Interview sagte der Botschafter, dass die Entschuldigung Steinmeiers zwar ein erster Schritt sei. "Für uns ist wichtig, dass jetzt diesen Aussagen Taten folgen, und diese Taten fehlen", so Melnyk.
Er wünsche sich aber, dass der Bundespräsident nicht nur Reue zeige, sondern von der Bundesregierung verlangt, Lehren aus dem Massaker von Butscha zu ziehen. "Das bedeutet, dass die scharfen Sanktionen endlich eingeführt werden müssen, dass das Energieembargo endlich verhängt wird, dass alle Banken in Russland von SWIFT ausgeschlossen werden müssen", so Melnyk. Außerdem forderte er mehr Waffen für die Ukraine. "Was wir heute brauchen, sind schwere Waffen." Man könne keine Gegenoffensive mit einer Panzerfaust starten.

Mehr zu diesem Thema:

Das Interview im Wortlaut:

Dirk Müller: Herr Melnyk, hilft das der Ukraine weiter, wenn Sie immer wieder deutsche Spitzenpolitiker beleidigen?
Andrij Melnyk: Es geht darum, dass man immer wieder vor Augen führt, was keine zwei Stunden entfernt von Berlin geschieht, eine Hölle auf Erden, und darauf hinzuweisen ist meine verdammte Pflicht als Botschafter, auch den Deutschen klarzumachen, wir haben es mit einem Terrorregime zu tun, das Zivilisten tötet, Frauen und Kinder ermordet und dann auf Müllhalden verscharrt. Das mit milden Worten zu vermitteln, hilft leider gar nicht weiter.
Müller: Das heißt, Sie würden die Worte genauso wieder finden?
Melnyk: Ich glaube, es geht nicht um die Wortwahl. Es geht darum, dass die Politik hier in Berlin endlich begreift, worum es geht, und handelt.
Müller: Noch mal die Frage: Spinnennetz an Kontakten zu Russland – da bleiben Sie dabei? Auch bei Ihrer Aussage, dass Frank Walter Steinmeier viele Ansichten von Wladimir Putin mit Blick auf die Ukraine teilt?
Melnyk: Wir glauben, das was in den letzten über zwei Jahrzehnten hier in Deutschland geschehen ist, muss dringend aufgearbeitet werden, und zwar nicht nur politisch, sondern auch auf der Ebene der Gesellschaft und der Medien. Es muss wirklich alles aufgearbeitet und untersucht werden. Wieso konnte es so weit kommen, dass Deutschland energiepolitisch fast vollständig von diesem russischen Staat abhängig ist und die Ukraine als Geisel dieser Beziehungen geworden ist und dieses Leid mit zivilen Opfern ausbaden muss.

"Man hat die ukrainische Kultur nicht auf dem Radar"

Müller: Darf ich das noch mal wiederholen? Für Wladimir Putin – das ist das Zitat, was Sie im Interview gegenüber dem Berliner Tagesspiegel an diesem Wochenende gegeben haben – gibt es kein ukrainisches Volk, keine Sprache, keine Kultur und daher auch keinen Staat. Steinmeier scheint, den Gedanken zu teilen, dass die Ukrainer eigentlich kein Subjekt sind. – Bleiben Sie dabei?
Melnyk: Ich glaube, dass auch die Entscheidung mit diesem Konzert für viele ein bisschen wunderlich erschien, nämlich russische Künstler einzuladen, und Ukrainer sollen da herumsitzen und klatschen. Auch das ist ein Zeichen dessen, dass man die ukrainische Kultur gar nicht auf dem Radar hat.
Müller: Das ist ein Benefizkonzert in Berlin, veranstaltet beziehungsweise unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten, was Sie ansprechen.
Melnyk: Ja, das stimmt.
Müller: Das meinen Sie jetzt?
Melnyk: Ja.
Senegal, Dakar: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußert sich bei einem Besuch der Insel Gorée zu seiner Reise und die Krise in der Ukraine.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Fehler in seiner Russland-Politik eingestanden (Bernd von Jutrczenka/dpa)
Müller: Aber noch mal die Frage: Steinmeier teilt die Gedanken, die Ansichten von Wladimir Putin mit Blick auf die Ukraine – letzter Versuch meinerseits -, bleiben Sie dabei? Davon sind Sie überzeugt, dass das so ist?
Melnyk: Ich glaube, dass dieses Thema in der Tat in allem Ernst auch hier in der Öffentlichkeit diskutiert werden kann, und es hilft nichts, wenn man auf Tauchstation geht und sich wegduckt.

"Endlich schärfere Sanktionen einführen"

Müller: Jetzt haben Sie das am Wochenende getan mit diesen klaren Worten, wie auch immer das zeitlich koordiniert ist. Gestern sagt Frank Walter Steinmeier, ich habe mich geirrt, wir haben an Brücken festgehalten, vor denen unsere Partner uns gewarnt haben. Ein klares Eingeständnis des politischen Versagens, wie auch immer definiert, des Bundespräsidenten. Nehmen Sie das an?
Melnyk: Ich glaube, das ist ein erster Schritt. Für uns ist wichtig, dass jetzt diesen Aussagen Taten folgen, und diese Taten fehlen. Ich würde mir schon wünschen, wie viele meiner Landsleute, dass der Bundespräsident jetzt nicht nur diese Reue zeigt, sondern dass er auch von der Bundesregierung als Staatschef verlangt, die Lehren zu ziehen aus dem Massaker von Butscha, aus anderen Gräueltaten, die wir Tag und Nacht jetzt in der Ukraine erleben. Das bedeutet, dass die scharfen Sanktionen endlich eingeführt werden müssen, dass das Energieembargo endlich verhängt wird, dass alle Banken in Russland von SWIFT ausgeschlossen werden müssen, dass nicht nur Energieträger, sondern auch Metalle und andere Rohstoffe …
Müller: Noch weitere schärfere Sanktionen?
Melnyk: Darum geht es! Es geht darum, dass man heute handelt. Und auch das Thema Waffen: Wir haben gerade in Ihrem Beitrag gehört, das Thema Waffen, da gibt es leider Gottes immer noch keine Bewegung. Und ich glaube, zumindest jetzt sollte das Staatsoberhaupt eine führende Rolle spielen und diese Fehler der Vergangenheit korrigieren.
Müller: Herr Melnyk, lassen Sie mich das noch sagen. Die Richtlinienkompetenz, wissen Sie genauso gut wie ich, in der deutschen Politik hat der Bundeskanzler. Was werfen Sie Olaf Scholz vor?
Melnyk: Ich glaube, dass man immer noch viel zu lange zögert. Ich glaube, wenn dieses schaurige Massaker von Butscha kein Wendepunkt werden soll, was, bitteschön, sollte noch geschehen, wie viele neue Gräueltaten, bevor man handelt. Deswegen möchte ich auch an die deutsche Bevölkerung appellieren, an unsere Freunde: Bitte helfen Sie uns, den Bundeskanzler zu überzeugen, dass er das Thema Sanktionen, das Thema, wirklich alles in die Hand zu nehmen, zur Chefsache erklären sollte und hier zu handeln.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie kann man weiter schauen und zusehen, dass Frauen und Kinder missbraucht, vergewaltigt werden, und diesen russischen Terrorstaat nicht von allen Geldströmen aus Deutschland, aus der EU abzuschneiden. 600 Millionen Euro pro Tag für die Kriegsmaschinerie Putins, das ist nicht wenig!
"Sauberer Krieg ist eine Illusion": Mutmaßliche Kriegsverbrechen in der Ukraine
Müller: Herr Melnyk, wenn es eine internationale Untersuchung geben sollte, wird die Ukraine das vorbehaltlos unterstützen?
Melnyk: Ja! Da gibt es keine Frage. Ganz im Gegenteil! Wir haben die Ermittler aus Den Haag eingeladen, dass sie so schnell wie möglich in die Ukraine reisen, um sich ein Bild zu machen und die Beweise zu sichern.

"Was wir heute brauchen, sind schwere Waffen"

Müller: Die russische Seite bestreitet das ja. Aber reden wir über die Waffenlieferungen. Haben die Deutschen mit Blick auf die Waffensysteme, die zugesagt worden sind, ihre Zusagen bislang gehalten?
Melnyk: Es gab ja, ehrlich gesagt, keine großen Zusagen. Es gab einige Einzellieferungen in den letzten 40 Tagen.
Müller: Strela-Flugabwehrraketen beispielsweise wurden zugesagt, 2700.
Melnyk: Ja, das sind aber leichte Waffen wie Panzerfäuste und Ähnliches.
Müller: Sind die gekommen?
Melnyk: Diese Waffen wurden mit einigen Schritten geschickt in die Ukraine, aber das sind die Waffen, die wir noch vor dem Krieg angefragt haben. Was wir heute brauchen sind schwere Waffen, sind Panzer, gepanzerte Wagen, sind Artilleriesysteme, Mehrfach-Raketenwerfer, womit man auch die Gebiete im Süden und Südosten befreien kann. Man kann keine Gegenoffensive starten mit einer Panzerfaust.
Ein Bundeswehrsoldat sitzt am 10.10.2014 in Bergen (Niedersachsen) während der Informationslehrübung "Landoperationen" am MG eines Panzers vom Typ "Marder".
Der ukrainische Botschafter Melnyk forderte die Bundesregierung auf, Marder in die Ukraine zu liefern. (picture alliance / dpa / Peter Steffen)
Müller: Vielleicht können wir das erklären, Herr Melnyk. Tschechische Schützenpanzer aus NVA-Beständen – war ja auch jetzt umstritten -, die sollen kommen, auch zugesagt. Ist das auch Ihre Information? Gehen Sie fest davon aus, dass das geliefert wird?
Melnyk: Es hat leider einige Wochen gedauert, aber jetzt ist die Entscheidung hier gefallen, und ich hoffe, … Es geht nicht um Panzer, sondern um gepanzerte Wagen, BMP sowjetischer Herstellung, die aus Tschechien geliefert werden. Aber was wir jetzt erwarten ist, dass auch aus den Beständen der Bundeswehr ähnliche Technik wie Marder, auch Gepard, aber auch Leopard geliefert werden können. Die Listen sind da, die Bundesregierung weiß Bescheid, aber die Regierung schweigt leider bis heute.

"Das ist in der Macht der Bundeswehr"

Müller: Wir haben das eben von unserem Korrespondenten gehört. Da gibt es unterschiedliche Einschätzungen in der Bundesregierung - das mag vorkommen; in den vergangenen Wochen ist das häufiger der Fall -, inwieweit Marder zur Verfügung gestellt werden können. Viele dieser Marder sind offenbar nicht mehr betriebsfähig, andere wiederum werden für die NATO-Einsätze gebraucht. Ihr Stand der Dinge: 100 Marder – wird sich Deutschland dazu verpflichten, diese zu liefern?
Melnyk: Ich glaube, das ist in der Macht auch der Bundeswehr. Man kann eine Entscheidung finden, indem die Marder, die uns geliefert werden können, auch sofort von der Rüstungsindustrie ersetzt werden. Wir sind in Kontakt mit allen Akteuren. Und glauben Sie mir: Deutschland kann das tun. Das ist auch eine moralische Pflicht für die Bundesrepublik, jetzt nach dem Butscha-Massaker zumindest alles Mögliche zu unternehmen und keine Ausrede mehr zu finden.
Müller: Wir haben nur noch eine halbe Minute. Ich frage hier noch einmal nach. Ist das richtig, dass die deutsche Rüstungsindustrie Ihnen gegenüber signalisiert hat, wir haben genügend Panzer beziehungsweise Marder-Einsatzfahrzeuge zur Verfügung?
Melnyk: Ja, das stimmt, und die Bundesrepublik sollte einerseits zustimmen und auch uns helfen, diese Lieferungen zu finanzieren, und darauf warten wir immer noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.