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Brutale Bilder
Die Gewalt ist keine Metapher

Gewalt ist omnipräsent und zugleich unsichtbar. In den sozialen Medien, im Theater oder in Büchern werden Gewaltdarstellungen mit Trigger-Warnungen versehen. Wie kann man von Gewalt erzählen?

Von Ronya Othmann | 02.04.2023
Ein Palästinenser hält am 05.02.2015 in Bethlehem eine Kerze und ein Portrait von dem vom IS ermordeten jordanischen Piloten Muath al-Kasasbeh in den Händen.
Im Januar 2015 wurde der jordanische Pilot Muath al-Kasasbeh brutal vom IS ermordet (Imago / ZUMA Wire )
Terroristen verbreiten Gewaltbilder, die zugleich wieder gelöscht werden. In Diktaturen dokumentieren Demonstranten mit ihren Smartphones das brutale Vorgehen von Militär und Polizei auf den Straßen. Wie lässt sich Gewalt erzählen? Oder kann Gewalt überhaupt erzählt werden?
Ronya Othmann hielt diesen Vortrag beim Kölner Kongress 2023 im Deutschlandfunk.

Ronya Othmann

Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren und lebt in Berlin. Seit 2021 schreibt sie für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ die Kolumne „Import Export“. Ihr Debütroman „Die Sommer“ erschien 2020, für den sie mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. Für den Gedichtband „die verbrechen“ (2021), erhielt sie den Orphil-Debütpreis und den Horst-Bingel-Preis.

Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor ein paar Jahren einmal am Rande einer Veranstaltung mit der Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation führte. Wir sprachen über den Krieg in Syrien und im Irak und kamen irgendwann auf Gewaltbilder zu sprechen.
Im Frühjahr 2015, erzählte die Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation, war sie gerade mit ihren Kindern zu Besuch bei der Familie ihres Mannes in Jordanien gewesen. In diese Zeit fiel zufällig auch die Ermordung des jordanischen Piloten Muath Al-Kasabeh und die Veröffentlichung des Hinrichtungsvideos durch den IS.
Muath Al-Kasabeh war wenige Wochen zuvor bei einem Kampfeinsatz der Anti-IS-Koalition über Rakka abgestürzt. Er konnte sich zwar mit seinem Schleudersitz und Fallschirm aus dem Flugzeug retten, wurde aber bei seiner Landung sofort von IS-Kämpfern gefangen genommen.
Über einen Monat später haben ihn die IS-Kämpfer dann in einen orangefarbenen Overall gesteckt – die Kleidung der Häftlinge in Guantanamo und Abu Ghuraib –, mit Benzin übergossen und in einem Metallkäfig bei lebendigem Leib verbrannt. Sie haben die Hinrichtung gefilmt und dieses Video dann online gestellt.
Im jordanischen Fernsehen, sagte die Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation, wären diese Bilder den ganzen Tag gezeigt worden. Im Café, im Wohnzimmer, überall lief der Fernseher. Auch ihre Kinder hätten diese Bilder gesehen. Das wäre unvermeidbar gewesen. Sie wäre damals, sagte sie, selbst so erschrocken gewesen, dass sie diese Bilder gezeigt hatten. Es waren wirklich brutale Bilder. Wenn man sie einmal gesehen hatte, konnte man sie nicht wieder vergessen.
Natürlich wurden diese Bilder gezeigt, Muath Al-Kasabeh war ja Jordanier gewesen. Vermutlich wollte man damit auch abschrecken. Al-Kasabeh war nicht nur Jordanier, sondern kam aus einer einflussreichen sunnitischen Familie. Die Bilder als Gegengift, um zu zeigen, wie grausam sie sind; dass dem IS nichts heilig ist. Schließlich hat es auch in Jordanien eine Reihe von islamistischen Anschlägen gegeben, es waren schätzungsweise einige Tausend Jordanier – genaue Zahlen gibt es nicht – nach Syrien und den Irak ausgereist und hatten sich dem IS angeschlossen.
In den deutschsprachigen Medien hingegen hat man die Bilder so kaum gezeigt, auch nicht in den Niederlanden, wo die Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation lebt. Die großen Tages- und Wochenzeitungen wählten für die Bebilderung ihrer Onlineartikel mehrheitlich Fotos der Demonstrationen und Trauerkundgebungen, zeigten Menschen mit Kerzen in der Hand, die Fotos von Al-Kasabeh in Uniform in den Händen hielten.
Bilder aus dem IS-Video hingegen, herausgelöst als Standbilder – Nahaufnahmen, in denen Al-Kasabeh den Kopf gesenkt hält oder verängstigt in die Kamera sieht, den Käfig von oben, den Moment, als das Feuer dem Käfig näherkommt, zeigten nur die Boulevardmedien. Wie das Feuer das Innere des Käfigs, die Schuhe Al-Kasabehs erreicht, wie seine Beine in Flammen stehen, zeigte nur eine von ihnen, die "Kronen Zeitung".
Damals in den Jahren 2014 bis 2016, als der IS regelmäßig Hinrichtungsvideos wie das des jordanischen Piloten veröffentlichte, hat es wieder eine größere Debatte zu Terrorbildern gegeben. Es war nicht die erste, wenn wir uns nur an die Diskussion um die Bilder von dem Anschlag vom 11. September erinnern.
Es war vor allem eine medienethische Debatte. Sie drehte sich um die Frage, welche Bilder darf man zeigen und welche nicht? Leidende, sterbende Tote? Die man nie gefragt und auch nicht mehr nach ihrem Einverständnis fragen kann. Gerät man durch das Zeigen solcher Bilder nicht in Gefahr, einen gewissen Voyeurismus zu bedienen? Eine Lust am Leid anderer? Ist das nicht Gewalt-, Terror-, Kriegspornografie? Was ist mit den Persönlichkeitsrechten der Opfer? Mit ihrer Würde?
Susan Sontag schreibt in ihrem 2003 erschienenen Essay "Das Leiden anderer betrachten":
„Je weiter entfernt oder exotischer der Schauplatz, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Toten und Sterbenden unverhüllt und von vorn zu sehen bekommen. Von all diesen Bildern geht eine doppelte Botschaft aus. Sie zeigen ein Leiden, das empörend und ungerecht ist und gegen das etwas unternommen werden sollte. Und sie bekräftigen, dass solche Dinge in dieser Weltgegend eben geschehen. Die Allgegenwart dieser Fotos und dieser Schrecken nährt wie von selbst die Überzeugung, solche Tragödien seien in den rückständigen – das heißt, armen – Teilen der Welt eben unvermeidlich.“
Nun kommt bei den Bildern des IS noch etwas anderes hinzu: Es sind keine Aufnahmen unabhängiger Journalisten, Kriegsfotografen, die die Verbrechen mit ihrer Kamera dokumentieren. Keine Handyaufnahmen zufällig anwesender Zeugen, Passanten vielleicht oder Zuschauer, Schaulustige, sensationshungrig, so bitter es klingt, aber auch die gab es. Auch waren es nicht Aufnahmen sogenannter Bürgerreporter, Blogger, Aktivisten, heimlich und unter Lebensgefahr gefilmt. Nein, die Aufnahmen stammen von den Mördern selbst. Sie sind das, was der Filmemacher Usama Muhammed in seinem Dokumentarfilm „Silvered Water“ – „das Kino der Mörder“ nennt – dort bezogen auf die filmenden Folterknechte des Assad-Regimes.
Der IS geht mit seinen Videos aber noch einen Schritt weiter. Seine Videos sind für die Außenwelt bestimmt. Der IS mordet, um zu filmen. Oder wie es die Kunsthistorikern Charlotte Klonk in ihrem Buch "Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden" formuliert:
„Die Bilder sind hier nicht Ausdrucksmittel, sondern Zweck der Tötung. Das Opfer musste sterben, damit die Aufnahmen entstehen konnten. Sein Tod ist die Bedingung für ihre Existenz.“
Der IS dokumentierte seine Hinrichtungen nicht, er inszenierte sie. Er folgte dabei einem Drehbuch. Die Videos waren aufwendig produziert. Das Setting, die Requisiten, mehrere Kameras, die von verschiedenen Blickwinkeln aufnahmen, dann bearbeitet mit Special Effects, Sound, Cross-Editing.
Die Medienabteilungen des IS hatten große Budgets zur Verfügung und kauften damit die neueste Technik in der Türkei. Die Szenen wurden geprobt, einstudiert, auch mit dem Opfer. Das Hinrichtungsvideo des jordanischen Piloten, las ich, war beispielsweise eine Co-Produktion zwischen dem IS Central Media Office und Al-Furqan, gefilmt mit vier verschiedenen Kameras.
Nun muss man an dieser Stelle doch einmal ein kurzes "ja, aber" einwerfen. Der IS tötete sehr wohl und ebenso barbarisch abseits der Kameras. Er tötete auch Menschen, denen er keinen orangefarbenen Overall überzog und deren Namen später in keiner Zeitung standen.
Und nicht jedes Video, das der IS produzierte, richtete sich auch an ein westliches Publikum, auch wenn das manchmal den Anschein machte. Das Hinrichtungsvideo von Muath Al-Kasabeh wurde beispielsweise nur auf Arabisch und ohne englische Untertitel veröffentlicht. Sein Titel, der auf Deutsch in etwa „Die Brust des Gläubigen heilen“ lautet, sei, wie die irakische Translationswissenschaftlerin Balsam Mustafa schreibt, eine koranische Referenz und richte sich in erster Linie an ein muslimisches Publikum.
Balsam Mustafa vermute, auch das sei ein Grund, weshalb dieses Video im Gegensatz zu anderen weniger in westlichen Medien rezipiert wurde. Obgleich Fox News das Video in voller Länge auf seiner Website veröffentlichte und damit in den USA und Europa wiederum auf große Kritik und Empörung stieß. Wer solche Bilder verbreite, lautete der Vorwurf, würde sich geradezu zum Handlanger der Terroristen machen. Angst und Schrecken zu verbreiten, das sei es, was die Terroristen wollen.
Andere Medien verbreiteten das Video nicht in Gänze, sondern fragmentiert. Sie lösten kürzere Sequenzen oder Standbilder heraus, womit sie, wie Balsam Mustafa schreibt, die Sichtbarkeit und Propaganda des IS eindämmen wollten, aber ironischerweise das Gegenteil davon erreichten. Denn die Standbilder prägten sich erst recht ein und waren nur schwer aus dem Gedächtnis zu löschen. Bebilderten nun verschiedene Nachrichtenwebseiten, Zeitungen, Blogs mit ein und demselben Standbild, wird das Bild schnell ikonisch.
An der Frage, was die Terroristen mit diesen Bildern erreichen wollen und ob man sich, zeigte man sie, nicht zu Propaganda-Gehilfen machen würde, entspann sich eine zweite Diskussion. Hier ging es weniger um Persönlichkeitsrechte und die Würde der Opfer, sondern um das beste Gegengift.
Auch nach dem 11. September wurde schon darüber diskutiert. Damals waren es nicht die Terroristen, die filmten, sondern die Kameraleute der Fernsehsender. Nachdem das erste Flugzeug eingeschlagen war, sendete CNN live. Die Bilder wurden in die ganze Welt übertragen. Auch damals wurden Stimmen laut, die sagten, die Terroristen wollen ja, dass wir diese Bilder sehen. Deswegen sollten wir diese Bilder nicht zeigen. Nicht zeigen, nicht verbreiten, löschen, verbieten, hieß es auch wieder bezogen auf die Terrorbilder des IS. Auch in der Hoffnung, der Terror würde verschwinden, wenn man ihn ignoriert. Und in dem falschen Glauben, der IS würde nur der Bilder wegen morden.
Abgesehen davon, dass es nun mal die Aufgabe von Journalisten ist, zu berichten, und dass man ihnen in einer Demokratie keine Vorschriften dazu machen kann, gab es auch einige, die an der Wirksamkeit dieser „Zensur“ zweifelten. Beispielsweise der französische Philosoph Philippe-Joseph Salazar, der auch den Begriff Zensur verwendet, argumentierte dagegen.
Die Hinrichtungsvideos seien ein Spiel mit dem Tabubruch. Die Islamisten produzierten ihre Videos, obwohl sie natürlich wussten, dass diese nicht in voller Länge gezeigt würden. Dass sie verboten würden, ja sie kalkulierten dieses Verbot sogar ein. Im Grunde ist dann eine herausgelöste Sequenz in einem Nachrichtenbeitrag fast so etwas wie ein Teaser. Besser wäre es, dafür plädierte Salazar, ihre Propaganda zu zeigen, zu analysieren und ihre Manipulationen aufzudecken.
Ich bin mir nicht sicher, sagte ich damals zu der Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation. Das Buch von Salazar hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelesen. Ich wüsste es nicht.
Die deutsche Öffentlichkeit einigte sich damals darauf, diese Videos nicht zu zeigen, jedenfalls nicht in voller Länge. Man wollte die Propaganda der Terroristen nicht verbreiten. Dass sie trotzdem auftauchten, konnte man nicht verhindern. Obwohl die Contentmanager der Social-Media-Kanäle den Auftrag hatten, diese zu löschen, waren die Terroristen mit ihrer Armada aus Bots und Accounts immer schneller, sodass trotz alldem ein Zeitfenster blieb, an dem die Videos kursierten.
Hinzu kam, dass es im sogenannten Kalifat keine unabhängigen Kriegsfotografen oder Journalisten gab, abgesehen von wenigen mutigen Ausnahmen wie „Mosul Eye“ oder „Raqqa is being slaughtered silently“. Die Presse konnte also, wollte sie Bilder zeigen, nur auf die Bilder der Terroristen zurückgreifen, und um es mit Usama Muhammeds Worten zu sagen: „auf das Kino der Mörder“.
Auch so fanden die Bilder des IS ihre Verbreitung: Sie wurden auf die Titelseiten großer Zeitungen gedruckt, als Titelbild über Onlineartikel gesetzt und zierten die Cover zahlreicher Sachbücher. Natürlich nicht die Bilder, die brachialste Gewalt zeigten wie abgeschnittene Köpfe, Blutlachen, eine Massenerschießung. Auch wählte man nicht die offensichtlich mit Photoshop bearbeiteten Bilder, die eine Art Dschihad-Romantik darstellen sollten, IS-Kämpfer, die auf Pferden durch eine staubige Steppe ritten, oder Ähnliches, sondern in Anführungszeichen „neutraler“ wirkende Bilder, Bilder von Siegesparaden, Kolonnen von Pick-ups, auf denen IS-Kämpfer saßen, ihre Fahnen schwenkten und Waffen in die Luft hielten. Heroische Bilder, Bilder von Triumph und Sieg. Propagandabilder also, die als Nachrichtenbilder daherkamen. Als hätte da irgendein Kriegsfotograf mit Schutzweste, Presse-Patch und Kamera am Straßenrand gestanden und nicht ein IS-Terrorist des Al-Hayat-Mediencenter. Bestenfalls erinnerte noch das Kleingedruckte, die Bildunterschrift daran, das kleine, rechts oben im Bildrand eingefügte IS-Logo, insofern es nicht weggeschnitten wurde, wer denn eigentlich Autor dieser Bilder ist und was er diesen Bildern eingeschrieben hat.
Man bekam also Propagandabilder an der Stelle zu sehen, an der gewöhnlich dokumentarisches Material zu finden ist. Die Bilder von Fahrzeugkolonnen, der ausgestreckte Zeigefinger Al-Bagdadis in der Mossuler Moschee wurden zum Symbol der IS-Herrschaft. Ihre Siegestrunkenheit, ihr martialisches Gebaren. Ob es das Ganze nicht noch falscher macht, frage ich mich: den Triumph zu zeigen, aber nicht das Schlachten.
Das Schlachten, sagte ich damals zu der Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation, zeigt man hier in Europa ohnehin eher seltener. Nicht nur, wenn es um die Bilder des IS geht, „Das Kino der Mörder“ – so mein Eindruck, sagte ich. Mir wäre das in den Jahren immer wieder aufgefallen. Ich, sagte ich, sei ja in einer kurdisch-êzîdisch-deutschen Familie aufgewachsen. Und der Fernseher lief immer. Immer Nachrichten. Deutsche, kurdische, arabische Nachrichten. Später ging das weiter, auf meiner Facebook-, Twitter- und Instagram-Timeline. Mir scheint, sagte ich, da ich den direkten Vergleich habe, dass ich um einiges mehr Gewaltbilder gesehen habe als viele meiner Alters- und Generationsgenossen. Weil ja, dort, wo ein Teil meiner Familie herkam, und damals dort auch immer noch lebte, so viel Krieg, Diktatur und Gewalt war. Dort, in Kurdistan, in diesem türkisch-syrisch-irakischen Grenzgebiet. Seien es die Anfal-Operation Saddam Husseins, der Giftgasanschlag auf Halabja, der Krieg des türkischen Militärs in den kurdischen Dörfern, die islamistischen Anschläge in den Nullerjahren im Irak, das Massaker des Assad-Regimes in Qamishlo 2004.
Ich kann mich an Bilder jedes dieser Ereignisse erinnern. Nicht nur Bilder, ich bin mit Erzählungen von Gewalt aufgewachsen. Ich wusste, was Folter ist, was eine Diktatur, was Menschen anderen Menschen antun können. Nun, ob das für ein Kind gut ist, darüber können sich Psychologen und Pädagogen streiten – vermutlich sind sie sich darüber sogar sehr einig.
Ich weiß, sagte ich.
Seit dem Gespräch mit der Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation vor ein paar Jahren, so scheint mir, haben sich manche Dinge verändert. Der Umgang mit Bildern von Gewalt, wie man es nennt, als wäre es eine Frage des Umgangs – bloß eine Frage des Umgangs, des richtigen Umgangs. Als gäbe es überhaupt so etwas wie einen Umgang. Zumindest beobachte ich gehäuft, dass sogenannte Trigger-Warnungen oder Content-Notes vor Radiobeiträgen und Theaterstücken ausgesprochen, Romanen oder Blog-Beiträgen vorangestellt werden. Instagram führte 2021 eine Einstellung ein, mit der man „sensible Inhalte“ einschränken kann. Also: „Beiträge, die zwar nicht unbedingt gegen unsere Regeln verstoßen, jedoch für manche Menschen verstörend sein können. Dazu zählen etwa Beiträge, die Gewalt oder sexuell anzügliche Inhalte enthalten.“
Ich muss auch an Gespräche in Bekanntenkreis denken, an Bekenntnisse, keine Nachrichten mehr zu lesen, wegen der belastenden Bilder. Selfcare, Selbstfürsorge, Selbstschutz wurde das dann genannt. An Interviews mit Psychologen zum richtigen Umgang mit Kriegs- und Gewaltbildern.
Es scheint, als hätte in den letzten Jahren eine Verschiebung stattgefunden. Standen bei der Diskussion über Gewaltbilder, der Schutz, die Persönlichkeitsrechte, die Würde der abgebildeten Opfer im Fokus der Diskussion, geht es nun in erster Linie darum, dass die Betrachter geschützt werden müssen.
Wenn man jetzt zynisch wäre, könnte man sagen, die Betrachter sind zu einer Opfergruppe mutiert. Und denen, setzt man sie diesen Bildern aus, man ja im Grunde auch Gewalt antut. Doch so einfach kann man das nicht sagen. Denkt man nur an sogenannte Content-Moderatoren, die für Facebook, Twitter und Instagram täglich Hunderte Gewaltvideos sichten und die Nutzungsrichtlinien der Plattform überprüfen. Ohne psychologische Betreuung und knapp über dem Mindestlohn. Das ist natürlich etwas anderes.
Doch abgesehen davon. Susan Sontag, die diese sehr zeitgeistige Entwicklung der letzten Jahre natürlich nicht mehr mitbekommen hat, schreibt:
„Es gibt inzwischen einen umfangreichen Bestand an Bildern, die es schwieriger machen, in dieser ethischen Mangellage zu verharren. Lassen wir uns also von den grausigen Bildern heimsuchen. Auch wenn sie nur Markierungen sind und den größeren Teil der Realität, auf die sie sich beziehen, gar nicht erfassen können, kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Die Bilder sagen: Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergesst das nicht.“
Die Bilder also auf ihre Wirkung hin betrachtet. Susan Sontag ist nicht naiv. Die Vorstellung, wenn man den Krieg nur genug veranschaulicht, ließe er sich verhindern, weist sie zurück. Und sie weiß auch, dass man mit ein und denselben Bildern Unterschiedliches bezwecken kann.
Wenn wir zum Beispiel an die Bilder denken, die die Verbrechen des Assad-Regimes dokumentieren. Dann sind es dieselben Bilder, mit denen säkulare Aktivisten gegen das Regime protestierten und die Islamisten wiederum zum Dschihad aufpeitschten. Es macht aber sehr wohl einen Unterschied. Die einen haben ein Ende des Mordens im Sinn, sie wollen Gerechtigkeit für die Opfer, die anderen instrumentalisieren die Opfer, um weiter zu morden.
Bilder, die wir in den sozialen Medien sehen, werden von Menschen hochgeladen, aber von Algorithmen ausgewählt. Die Algorithmen wiederum werden von Menschen programmiert. Aber Algorithmen folgen anderen Prinzipien als Bildredaktionen, die auswählen, prüfen, verifizieren. In den sozialen Medien fehlt diese Kontrollinstanz weitestgehend. Bilder des einen Krieges werden fälschlicherweise als die eines anderen ausgegeben.
Ein Foto, das ein abgeschossenes russisches Flugzeug zeigen soll, aber eigentlich von einem Unglück bei einer Flugshow 1993 stammt. Das Foto eines halb verschütteten, vermutlich toten Mädchens in einem zerbombten Haus, das unter dem Hashtag #Gaza geteilt wird, aber in Aleppo aufgenommen wurde.
Das Foto, das 2017 vom Twitter-Account des russischen Verteidigungsministeriums geteilt wurde, und das angeblich „unwiderlegbare Beweise dafür liefert, dass die USA tatsächlich ISIS-Kampfeinheiten decken (…) und sie zur Förderung amerikanischer Interessen im Nahen Osten einsetzen“ zeigt: eine krisselige schwarz-weiße Luftaufnahme von Fahrzeugen auf einer Straße. Doch die Aufnahme stammt nicht etwa von einer Kameradrohne oder einem Satelliten, sondern ist ein Screenshot von einem Handyspiel.
Und natürlich sind nicht alle Bilder, die in der digitalen Welt kursieren, Manipulationen, Propaganda-Fakes, Desinformation. Natürlich gibt es immer auch Berichte, aufgezeichnet, verschriftlicht, niedergeschrieben. Doch es liegt an dem Beweischarakter von Fotos, den man ihnen zumindest zuschreibt. Die Aura der „Echtheit“, die sie umgibt. Etwas ist geschehen, wenn es Bilder davon gibt.
Was für einen Unterschied es doch macht, wenn man nur von einem Verbrechen weiß oder wenn auch noch Fotos auftauchen, die es belegen. Und sie nicht mehr weg zu ignorieren sind, man nicht mehr wegsehen kann. Die geleakten Polizeibilder aus den chinesischen Internierungslagern zum Beispiel, in denen schätzungsweise Hunderttausende bis Millionen Uiguren und andere Minderheiten gefangen gehalten werden. Das Verbrechen bekommt ein Gesicht.
Oder die Zehntausenden Bilder, die der Militärfotograf Caesar aus den syrischen Gefängnissen schmuggelte. Fotos von Leichen, deren Körper Spuren von schwerster Folter aufweisen, ausgemergelte Körper von Menschen, die man zu Tode gehungert hatte, und Schusswunden, die auf Hinrichtungen verweisen. Caesar hatte sie in den Jahren 2011 bis 2013 im Auftrag des Assad-Regimes fotografiert. Er hat Akten angelegt, Formulare ausgefüllt, die Fotos in die Akten geheftet und sie gleichzeitig heimlich auf einen USB-Stick kopiert. Nach seiner Flucht aus Syrien 2013 wurden diese Fotos dann von der französischen Journalistin Garance Le Caisne veröffentlicht und im UN-Hauptquartier in New York ausgestellt. Sie lösten einen Schock aus. Fotos der Ausstellung zeigen nicht die Bilder selbst, sondern Menschen, die auf sie blicken. Man kann die Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern sehen. Sie stehen starr, halten sich die Hand oder einen Schal vor dem Mund.
Was schon seit Jahren bekannt war, aus den Berichten ehemaliger Insassen, Überlebender dieser Gefängnisse, was man schon in Mustafa Khalifas 2008 erschienenen Roman "Das Schneckenhaus" hatte lesen können, wurde nun im wahrsten Sinne des Wortes verbildlicht.
2020 trat in den USA ein nach Caesar benanntes Gesetz in Kraft, das Sanktionen gegen Personen androht, die mit dem syrischen Regime zusammenarbeiten, der Caesar Syria Civilian Protection Act. Im selben Jahr wurden diese Fotos erstmals als Beweisfotos vor Gericht verwendet, beim Al-Khatib-Prozess wegen Staatsfolter in Syrien im Oberlandesgericht Koblenz.
Die Caesar-Fotos sind im Auftrag des syrischen Regimes entstanden. Sie waren nie für die Außenwelt bestimmt, dienten allein dem bürokratischen Apparat des Regimes als Beleg, dass ein Auftrag ausgeführt wurde, als Absicherung gegenüber dem Vorgesetzten, dass alles seine Rechtmäßigkeit hatte. Anfangs, wie Caesar beschrieb, gab es für jeden Toten ein Formular, und es wurden ihre Namen vermerkt, später gab es nur noch ein Formular für mehrere Tote und aus den Namen wurden Nummern.
Diese Bilder waren Teil der verbrecherischen Praxis der Diktatur. Sie sind nicht entstanden, um anzuklagen, anzuprangern. Ihnen ist eine grausame Logik eingeschrieben. Die Logik der Zerstörung von Menschen für den eigenen Machterhalt.
Die moralische Frage, die oft aufgeworfen wird, wenn es um das Bildmaterial der Mörder geht, ist nicht so leicht zu beantworten. Zeigt man die Bilder und schreibt man damit ihre grausame Logik fort oder unterläuft man sie?
Ich muss auch an die Bilder des IS denken. Nicht nur sie, die Mörder haben diese Bilder verbreitet, sondern auch die Opfer. Bilder, die die Verbrennung der 19 êzîdischen Frauen und Mädchen 2016 in Mossul zeigen, Aufnahmen aus einer Schule, in der êzîdische Frauen von ihren Familien getrennt werden. Auch diesen Bildern ist die grausame Logik der Mörder eingeschrieben. Der IS verübte an den Êzîden einen Genozid. Doch schließ- und endlich sind diese Bilder auch ein Beleg, ein Beweis, ein Hinweis, dass diese Verbrechen stattgefunden haben. Êzîden verbreiteten und verbreiten diese Bilder als Hilfeschrei, als Anklage: Seht her, das ist ihr wahres Gesicht, sie quälen und töten und sie brüsten sich noch damit! Vergesst nicht, wie grausam sie sind!
Im Film gibt es die Praxis des Found Footage: Fremdes, vorgefundenes Filmmaterial wird aus seinem Kontext gelöst, angeeignet und in etwas Drittes überführt.
„Silvered Water. Syria Self-Portrait“ ist solch ein Film, der mit Found Footage arbeitet. Usama Muhammed, der im Pariser Exil lebt, hat ihn gemeinsam mit seiner kurdischen Kollegin Wiam Simav Bedirxan gedreht, die damals im belagerten Homs als Grundschullehrerin arbeitete. Sie als emanzipierte Frau bekam es dort übrigens nicht nur mit den Bomben und Scharfschützen des Assad-Regimes zu tun, sondern auch mit den Islamisten. Als sich Bedirxan weigerte, ein Kopftuch zu tragen, schlossen sie die Schule.
Irgendwann, so wird es im Film erzählt, fragt Bedirxan Muhammed im Chat, was er denn filmen würde, wäre er vor Ort. Muhammed in Paris antwortet „Film alles“. Und Bedirxan filmt, den Blick aus ihrem Fenster, auf die Tauben, die auf dem Balkongeländer sitzen. Sie filmt, wenn sie durch von Schutt übersäte Straßen geht, rennt, um nicht in das Visier der Scharfschützen zu geraten. Das erste Mal zeigt sie ihr Gesicht, als man ihr eine Kugel aus dem Bein entfernt.
Doch es ist nicht nur Bedirxan, die filmt. „Silvered Water“ heißt es, sei von 1001 Syrern gedreht worden und ist auch eine Collage aus Handyaufnahmen. Verwackelte, verpixelte, grobkörnige Bilder von euphorischen Protesten, die in einem Blutbad enden: rohe, ungefilterte Gewalt - „Das Kino der Opfer“.
„In Syrien filmen und sterben jeden Tag YouTuber; andere filmen und töten weiter“, sagt Muhammed und setzt neben das „Kino der Opfer“ ein „Kino der Mörder“. Aufnahmen von Paraden des Assad-Regimes, Soldaten, die junge, nackte Männer verprügeln, ein Mann, der gezwungen wird, die Schuhe eines Soldaten zu küssen. Doch in dem sie neben die Aufnahmen der Opfer gesetzt werden, bleiben sie nicht unkommentiert. Die totalitäre Logik des „Kinos der Mörder“ wird durchkreuzt. Die Perspektiven der Opfer sind dort nämlich nicht vorgesehen.
„Das Kino der Opfer“ ist anders, es ist immer auch ein widerständiges Kino. Es dokumentiert, was nicht dokumentiert werden darf, es klagt an und beklagt. Es erzählt in verwackelten, unscharfen Bildern. „Silvered Water“ erzählt die Gewalt und die Gewalt ist keine Metapher. Es ist trotz alledem oder deswegen ein poetischer Film. Das Bild kippt in das Blau des Himmels, geht über in einen anderen Himmel, schwenkt zurück auf die Straße. Es zeigt eine weite Landschaft, den Balkon vor dem Fenster, die Dächer der Stadt, die Detonation einer Bombe, auffliegende Tauben. „Was ist Kino? Was ist Schönheit?“, heißt es ganz am Ende des Films.
Ich bleibe bei den Bildern und die Bilder bleiben.
In der Frage nach dem richtigen Umgang mit Gewaltbildern störe ich mich schon an dem Wort ‚Umgang‘. Als ob es einen Umgang gäbe, als ob man damit umgehen könnte.
Ich weiß es nicht, sagte ich damals zu der Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation zum wiederholten Mal. Und dass ich hoffte, die IS-Videos würden eines Tages vor Gericht als Beweismaterial verwendet werden. Sie mögen noch so aufwendig produziert sein, noch so sehr Anleihen nehmen an der Ästhetik von Videospielen, Blockbustern und Dokumentarfilmen, dass man sie fast für Fiktion halten könnte. Doch am Ende zeigen sie echte Gewalt, die echten Menschen angetan wird, töten sie die Menschen in echt.
Wenn man diese Bilder also aus ihrem Kontext herauslösen, in den Raum des Gerichtssaals überführen würde, sagte ich. Wenn die Opfer in diesem Gerichtssaal aussagten, als Zeugen. Wenn das jemand filmte und es dieses Bild wäre, das bleibt.