
Während heute viele Menschen die bloße Existenz staatlicher Eingriffe als „zu viel Staat“ kritisieren, stören sich andere an der Detailfülle von Gesetzen oder an der Art und Weise, wie Verwaltungen Entscheidungen treffen. Dringt man jedoch tief ein in den Dschungel der Paragrafen, erweisen sich Unternehmen wie Siemens oder Volkswagen als kaum weniger bürokratisch als Amtsstuben in Dessau oder Quickborn.
Statt bloß die angebliche Regelungswut des Staates zu geißeln, gilt es zu verstehen, wie Konzerne sich aus eigenem Antrieb in ein Netz aus Wenn-Dann-Vorschriften verstricken – und ihre Mitarbeiter gleich mit. Im Herz der Verwaltung ticken nämlich Wenn-Dann-Vorschriften, sie sind gewissermaßen der Quellcode moderner Verwaltungen.
Und das stellt sicher, dass die als Monster geschmähte Bürokratie eine Atmosphäre von Gerechtigkeit und Berechenbarkeit verbreitet. Ohne ein Mindestmaß an Formalien wären Korruption und Willkür das Gebot der Stunde, und auch Kafkas labyrinthische Visionen endeten nicht in den Fängen unpersönlicher Paragrafen, sondern in einer Klientelwirtschaft jenseits jeder Rechtssicherheit. So bleibt am Ende die Erkenntnis: Bürokratie mag zwar nerven, doch man sehnt sich sehr schnell nach ihr zurück, wo sie fehlt.
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zugleich berät er Unternehmen, Verwaltungen und Ministerien in Fragen der Organisations- und Strategieentwicklung. Zuletzt sind von ihm u.a. die Bücher „Der ganz formale Wahnsinn: 111 Einsichten in die Welt der Organisationen“ (Vahlen Verlag) und „Ganz normale Organisationen – Zur Soziologie des Holocaust“ (Suhrkamp Verlag) erschienen.
Wer Bürokratie kritisiert, kann sich breiter Zustimmung sicher sein. Insofern bestand beim Versuch der von Arbeitgeberverbänden finanzierten Lobbyorganisation „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ kein Risiko, als sie ihre Kritik an den „unglaublichsten Blüten“ staatlicher Regelungswut in einem Bürokratiemuseum zusammenzufassten. Prominente Exponate des Museums waren eine „Behörden‑Mühle“, die sich aus dem Inhalt von 64 Aktenordnern zusammensetzte, die durchschnittlich für die Genehmigung von Windkraftanlagen notwendig sind, ein „Mammutbaum“, der symbolisieren sollte, dass alleine die Bundesregierung in einem Jahr Papier aus dem Holz von 19.150 Bäumen verbraucht, ein „Paragrafen‑Dschungel“, in dem man die „schillerndsten Blüten“ der 1.800 Bundesgesetze und 50.000 Einzelnormen des deutschen „Verordnungsdickicht“ besichtigen konnte, und eine SM-Studie, in der gezeigt wurde, wie „Daddy Staat“ seine sadistische Regelungswut an seinen Bürgern auslebt.
Das Interessanteste an diesem Pop-Up-Museum war nicht die übliche Kritik an gewollter staatlicher Regulierung, sondern die ungewollte Regelungswut der Initiatoren. Um in die Ausstellung zu kommen, musste man sich über einen Code anmelden. Am Empfang mussten sich Besucher in eine Schlange einreihen, um sich mit Namen und E-Mail-Adresse registrieren zu lassen. Gepäck musste vor dem Besuch in Schließfächern versperrt werden, auch wenn vermutlich niemand auf die Idee kommen würde, eines der Exponate zu entwenden. Besucher, die eine Dreiviertelstunde vor Schließung kamen, um nur einmal kurz in die aus wenigen Räumen bestehende Ausstellung hineinzuschauen, wurden von den Zeitarbeitskräften mit der Aussage, dass ein Zugang nur bis eine Stunde vor Ende der Öffnungszeiten möglich sei, brüsk zurückgewiesen. Als Grund diente die aus Behörden bekannte Aussage, dass dieses Vorgehen eben eine Anweisung von oben sei. Was man auf den ersten Blick für eine raffinierte Form von ironischer Kritik an Bürokratie halten konnte, war leider nichts anderes als eine unbeabsichtigte Selbstbürokratisierung der Initiatoren.
Das verweist auf das interessante Phänomen, dass die Mitglieder der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie, die diese Entbürokratisierungskampagnen der Initiative finanzieren, selbst hochgradig bürokratisierte Gebilde sind. Wer jemals die Verregelung bei Unternehmen wie Siemens in München, Volkswagen in Wolfsburg oder der Commerzbank in Frankfurt aus der Nähe miterlebt hat, kann das Umweltbundesamt in Dessau, das Jobcenter in Bielefeld oder die Stadtverwaltung in Quickborn fast schon für agile Vorreiterorganisationen halten. Die Bürokratisierung der Unternehmen ist in den meisten Fälle dabei nicht das Resultat staatlicher Vorgaben, sondern erwächst aus den Vereinheitlichungs- und Kontrollbedürfnissen der Unternehmen selbst. Wenn Personen über ihre traumatischste Bürokratieerfahrung berichten sollen, wird deswegen häufig nicht die Schwierigkeit bei der Beantragung eines neuen Personalausweises genannt, sondern das Verrecken in der Service-Hotline eines profitorientierten Telekommunikationskonzerns.
Was steckt hinter der so populären Kritik an Bürokratie? Was unterscheidet die Bürokratie in Unternehmen von der in Verwaltungen? Und warum hat sich die Kritik an Bürokratie immer stärker auf staatliche Organisationen fokussiert?
Den ersten Kontakt mit einer ausgearbeiteten Bürokratiekritik haben Kinder in der Regel bei der Lektüre von Asterix als Legionär, dem organisationstheoretisch sicherlich interessantesten Band des französischen Autoren-Duos René Goscinny und Albert Uderzo. In dem Band stoßen Asterix und Obelix im Hauptquartier der römischen Legion auf erhebliche bürokratische Schwierigkeiten, als sie erfahren wollen, in welche Einheit der Verlobte von Dorfschönheit Falbala zwangsweise eingezogen wurde. Sie werden von der Auskunft an das Personalbüro verwiesen, das die Zuständigkeit bei der Zahlmeisterei sieht, die sie wiederum zur Auskunft schickt. Die Information erhält Asterix erst in dem Moment, in dem er das Behördendickicht mit dem vermutlich allerersten – wenn auch fiktiven – Amoklauf in einer Verwaltung lichtet und einen Mitarbeiter dazu bringt, das Kopieren der Listen von „Freiwilligen“ für alle zwölf Abteilungen des Hauptquartiers zu unterbrechen, um die entsprechende Information erteilen zu können.
Schon während seiner Entstehung war „Bürokratie“ ein Kampfbegriff, um gegen staatliche Übergriffe aufzubegehren. Vincent de Gournay, ein französischer Überseekaufmann, führte das Wort ein, um gegen die „Reglementierungssucht der Behörden“ zu protestieren. Dafür kombinierte er das Wort „Büro“ – ein Synonym für Schreibtisch, Arbeitszimmer, Amtsstube – mit dem griechischen Wort für Herrschaft – „kratos“. Damit konnte man Bürokratie – die Herrschaft der Menschen an den Schreibtischen – mit anderen Formen der Herrschaft wie die des Adels – der Aristokratie –, der Eigentümer – der Plutokratie –, der Leistungsträger – der Meritokratie –, der Alten – der Gerontokratie – oder des Volkes – der Demokratie – kontrastieren.
Die Kritik der Bürokratie ist schon früh mit einer Kritik des Beamtentums verbunden worden und hat sich in vielen Ländern mit der Entstehung der modernen Verwaltung ausgebildet. Mit Schimpfwörtern wie „Beamtenaristokratie“, „Beamtenabsolutismus“ oder „Beamtendespotismus“ wird bemängelt, dass sich Beamte nicht als Diener der Politik oder gar der Bürger verstehen würden, sondern als „stille Herrscher“, welche die Geschicke eines Staates lenken würden. Sie seien, so die Kritik, immer mehr zu einer „Kaste“ von Staatsbediensteten verkommen, die an dem Ausbau ihrer eigenen Vorteile interessiert seien.
Mit Begriffen wie „Bürokratismus“, „Bürokratisierung“ oder „Überbürokratisierung“ wird suggeriert, dass die staatliche Verwaltung ein immer schädlicheres Ausmaß annehme. Bürokratie würde, so die Kritik, letztlich immer nur noch mehr Bürokratie erzeugen. Wie eine „Krake“ würde die Verwaltung immer mehr Bereiche der Gesellschaft umfassen und die Bürger immer stärker in den Würgegriff nehmen. Bürokratien seien, so die Kritik, zu „Pedantokratien“ geworden, die mit ihrer Regelungswut den Bürgern in ihren Rollen als Unternehmer, Angestellte, Arbeiter, Arbeitslose, Kunden, Verkehrsteilnehmer, Häuserbauer und Patienten kaum noch Luft zum Atmen ließen, und umgekehrt glaubte John Stuart Mill schon Mitte des 19. Jahrhunderts:
„Die Krankheit, die Bürokratien befällt und an der sie zugrunde gehen, ist die Routine.“
Über die Jahrzehnte ist Bürokratie zu einer bequemen „Allround-Formel“ geworden, um eine grundlegende Unzufriedenheit mit dem Staat zum Ausdruck zu bringen. Wenn in den Massenmedien über eine zu hohe Steuerlast geklagt wird, dann wird das auf die Kosten für die Aufrechterhaltung des bürokratischen Apparats zurückgeführt. Wenn die Bürger auf dem Einwohnermeldeamt nicht schnell genug ihre neuen Ausweispapiere erhalten, Unterstützungsleitungen des Staates für Unternehmen nicht schnell ausgezahlt werden, ein neues Shopping Center nicht termingerecht eröffnet werden kann, dann wird das mit den „bürokratischen Mühlen“ erklärt, die viel zu langsam mahlen.
Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass mit einer Kritik der Bürokratie sehr unterschiedliche Phänomene adressiert werden. Eine erste Stoßrichtung der Kritik richtet sich gegen den Umfang staatlichen Engagements. Unter dem Kampfruf „zu viel Staat“ wird darüber geklagt, dass dieser immer mehr Aufgaben wie die Ausbildung von Schülern, die Inklusion von Menschen mit Behinderung, den Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt oder die Subventionierung der Landwirtschaft übernimmt. Man adressiert mit der Kritik die Bürokratie, meint aber eigentlich den Sozialstaat. Eine zweite Stoßrichtung zielt mit einer Klage über „zu viel Regulierung“ auf Tiefe, da der Staat über eine Flut an Gesetzen und Verordnungen in verschiedene gesellschaftliche Felder eingreift: Die Nachweispflichten, dass Produkte ohne Kinderarbeit hergestellt wurden, die Verbote, das eigene Haus zukünftig mit Ölheizungen zu erwärmen, oder die Begrenzung des Rechts der Ausübung eines Handwerks auf Meister. Derlei ist übrigens meist nicht die Schnapsidee eines Bürokraten, sondern wird durch Interessenorganisationen eingebracht. Umfang, Dichte, Genauigkeit und Verständlichkeit staatlicher Regelungen seien, so die Kritik, von Otto Normalverbraucher oder Eva Normalbürgerin kaum noch zu verstehen. Eine dritte Stoßrichtung zielt auf die Form, in der staatliche Bürokratien arbeiten. Die Kritik richtet sich mit dem Schlagwort „zu viel Verwaltung“ auf die Leistungsdefizite der staatlichen Verwaltung aus – fehlende Kundenorientierung, langsame Bearbeitung von Anträgen, unverständliche Verwaltungssprache, unzureichende Transparenz über Entscheidungsprozesse und mangelndes Kostenbewusstsein. Ein Industrieverband kann durch die Forderung nach Subventionierung das Engagement des Staates im Bereich der Wirtschaft einfordern und sich dann durch das Klagen über die Bürokratisierung der Antragsverfahren und Nachweispflichten zum Erhalt öffentlicher Gelder erregen.
Wenn man „Bürokratie“ nicht nur als einen Kampfbegriff verwenden möchte, mit dem man eine allgemeine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringt und nach „Kettensägen“ oder „Heckenscheren“ ruft, kommt man um eine Begriffsbestimmung nicht herum.
Seine Frustration angesichts der Bürokratie schildert der Liedermacher Reinhard Mey am Beispiel des Versuches, einen „Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftsexemplars, dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt zu Behuf der Verlage beim zuständigen Erteilungsamt“ zu erhalten.
Schimpfenden, singenden und schreibenden Kritikern der Bürokratie fällt es überraschend schwer, zu definieren, was Bürokratie eigentlich genau sein soll. In der Not behelfen sich die Beleseneren unter ihnen mit einer Merkmalsliste, die der Soziologe Max Weber vor über einem Jahrhundert aufgestellt hat, übrigens im Blick auf das Beamtentum. Bürokratien würden, so Weber, durch fixierte Regeln – „Gesetze“ oder „Verwaltungsreglements“ – strukturiert, an die sich die „Amtsträger“ zu halten haben. Damit immer nachgeprüft werden kann, ob Kompetenzen nicht überschritten wurden, dokumentiert eine Bürokratie ihre Entscheidungen in „Akten“. Abgesichert wird dieses Prinzip durch ein „fest geordnetes System von Über- und Unterordnung“, bei dem die „unteren durch die oberen“ beaufsichtigt werden. Die „Amtsträger“ werden dabei durch „Fachschulungen“ auf die Ausübung ihrer Tätigkeiten vorbereitet. Die „amtliche Tätigkeit“ nimmt dabei die „gesamte Arbeitszeit“ des Angestellten in Anspruch.
Diese Webersche Merkmalsliste hat den Vorteil, dass man in einer mehr oder minder freien Assoziation erstmal alles aufzählen kann, was einem zum Thema Bürokratie ein- und auffällt. Der Nachteil solcher Listen ist, dass sie immer nur eine unterkomplexe Ordnung bieten. Man bekommt keinen Eindruck davon, was besonders wichtig ist, was die Ursache des einen für das andere ist, wie alles miteinander zusammenhängt.
Wenn man sich anschaut, was Verfechter und Kritiker als den Kern von Bürokratien verstehen, dann stößt man auf eine sehr eigene Form von Regeln – so genannte „Wenn-Dann-Programme“. Durch diese wird festgelegt, was getan werden muss, wenn ein bestimmter, vorher definierter Impuls registriert wird. Klingt kompliziert, ist prinzipiell ganz einfach. Wenn ein Antrag auf Wohngeld im Sozialamt eingeht, schaut ein Sachbearbeiter nach, ob die Kriterien für eine Zahlungsanweisung erfüllt sind. Wenn eine Ordnungsamtsmitarbeiterin überprüft, ob ein Auto korrekt geparkt ist, sieht sie in der Straßenverkehrsordnung nach, ob sie einen Strafzettel ausstellen muss. Wegen der festen Kopplung zwischen der Bedingung einer Entscheidung – dem „Wenn“ – und ihrer Ausführung– dem „Dann“ – werden diese Regeln in der Organisationstheorie auch als „Konditionalprogramme“ bezeichnet.
Wir sind jeden Tag innerhalb und außerhalb von Organisationen mit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Konditionalprogrammen konfrontiert. Wenn das Kind morgens nicht in die Schule will, dann verweist man darauf, dass es eine verbindliche Schulpflicht gibt und kann damit die Debatte in den Griff bekommen. Wenn man in einem Büro, an einem Fließband oder an einer Supermarktkasse arbeitet, dann muss man sich an die Vorgaben des Organisationshandbuchs halten, das im Detail vorschreibt, was in welchem Fall zu tun ist. Wenn man am Abend nach einem Feierabendbier nach Hause fährt, muss man darauf achten, dass der Alkoholpegel eine bestimmte Grenze nicht überschreitet. Sich in der modernen Gesellschaft zurechtzufinden bedeutet zu einem erheblichen Teil, sich bewusst oder unbewusst an eine Vielzahl von Konditionalprogrammen anzupassen.
Zentral für die Bestimmung von Bürokratien ist, dass sich diese Wenn-Dann-Regeln nicht wie in den meisten Stammesgesellschaften oder auch in manchen Feudalgesellschaften mit der Zeit eingeschlichen haben, sondern durch Entscheidungen mit verbindlicher Wirkung fixiert wurden. Wie diese Entscheidungen über Wenn-Dann-Regeln zustande kommen, kann sehr unterschiedlich sein – sie können von einem Diktator bestimmt, von Parlamenten durch Gesetze vorgeschrieben, durch Verwaltungen als Verordnungen erlassen, zwischen Kooperationspartnern über Verträge festgelegt oder in Organisationen als Mitgliedschaftsbedingungen fixiert werden. Auf der Ebene des Staates werden solche Formen der Festlegung von Wenn-Dann-Programmen als Legalität bezeichnet, auf der Ebene von Organisationen als Formalität.
Die Folgebereitschaft der Mitglieder von Bürokratien wird zuallererst dadurch sichergestellt, dass ein Verbleib in der Organisation von der Befolgung der vorgegebenen Regeln abhängig gemacht wird. Die Wahrscheinlichkeit zur Befolgung der Regeln wird aber erhöht, wenn Personen aufgrund ihrer Fähigkeiten und nicht aufgrund ihrer Kontakte eingestellt werden, wenn sie für ihre Tätigkeit so entlohnt werden, dass sie davon leben können und sie ihr Handwerkszeug nicht selbst zur Arbeit mitbringen müssen. Dass Verwaltungen ihre Mitarbeiter nach Leistungen einstellen, sie ausreichend bezahlen und ihnen die nötigen Hilfsmittel zur Verfügung stellen, erscheint uns – jedenfalls in den meisten europäischen Staaten – so selbstverständlich, dass man fast überrascht ist, wenn dies erwähnt wird. Sie stellt aber einen fundmentalen Unterschied von bürokratisch organisierten Staaten zu Formen politischer Herrschaft im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit dar.
Lange Zeit wurde in der Organisationsforschung nach dem „typischen Bürokraten“ gesucht. Es wurde vermutet, dass Beamte an einem hohen Maß an Pflichtbewusstsein, einer starken Konformitätsorientierung und einer ausgeprägten Folgebereitschaft zu erkennen seien. Die für Beamte typische kontrollfixierte, risikoaverse und dogmatische Vorgehensweise führe, so der Soziologe Robert Merton, dazu, dass die Einhaltung der vielfältigen Wenn-Dann-Regeln für Beamte wichtiger sei als die Ziele der Organisation. Bürokratien, so die Vorstellung, würden letztlich eine Persönlichkeit hervorbringen, die ihre Tendenz zu Obrigkeitshörigkeit, Konformismus und Pedanterie nicht nur in der Behörde auslebt, sondern auch im Sportverein, im Freundeskreis oder der Familie.
Die Adelung durch das Adjektiv „kafkaesk“ ist ein deutliches Indiz dafür, dass es keinem anderen Autor gelungen ist, das Leiden der Menschen in den Fängen der Bürokratie so prägnant fiktional zu verarbeiten wie Franz Kafka. Seine eigene, als stumpfsinnig empfundene Arbeit als Sekretär bei der halbstaatlichen Arbeiter‑Unfall‑Versichungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag war dabei eine Inspiration für die Verzweiflung des Landvermessers in seinem Roman Das Schloss. Dieser versucht, einen Ansprechpartner zu finden, der es ihm ermöglicht, seine Arbeit auch ausführen zu können. Die Frustration besteht für den Landvermesser darin, dass er gerne arbeiten will, es ihm aber nicht gelingt herausbekommen, an wen er sich wenden muss, um die ihm schriftlich zugesagte Arbeit auch ausführen zu dürfen. Die bürokratischen Mühlen im „Schloss“ scheinen nach ihren ganz eigenen Regeln zu mahlen, die sich weder für den Landvermesser noch für die Bewohner des Dorfers auch nur ansatzweise erschließen.
Das Leiden von „Erika Mustermann“ und „Otto Normalverbraucher“ an der Bürokratie wird in der Forschung als „administrative Belastung“ – „administrative burden“ – bezeichnet. Die „Kosten“ der Bürokratie entständen für die Bürger in verschiedener Form. Sie müssten großen Aufwand für Informationsgewinnung betreiben, um überhaupt zu begreifen, ob man durch eine bürokratische Regel betroffen ist, wie der Zugang zu staatlichen Leistungen erfolgen kann und welche Bedingungen man erfüllen muss. Dazu käme der Aufwand für die Befolgung der Regeln durch das Ausfüllen von Formularen, die Erbringung von Nachweisen, die Wartezeiten in den Ämtern und das Bezahlen von Verwaltungsgebühren. Häufig übersehen würden die psychologischen Kosten in Form von Frustration, Stigmatisierung und Entwürdigung, die mit der Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen verbunden sind.
Weil Bürokratie offensichtlich zum „Sündenbock der verwalteten Welt“ geworden ist, wird, so schon der Philosoph und Soziologe Theodor Adorno, häufig übersehen, welche Vorzüge die Bürokratie am Ende auch für die Bürger hat.
Die Vorteile werden durch konsequente Durchprogrammierung der Organisation mit Wenn-Dann-Regeln erzielt. Wenn vorgeschrieben ist, wie genau in einer spezifischen Situation zu handeln ist, dann zögert eine Verwaltungssachbearbeiterin, ein Vertriebsmitarbeiter oder eine Polizistin nicht lange, sondern handelt sofort entsprechend der vorgegebenen Regeln. Die Regeleinhaltung lässt sich einfach durch Vorgesetze kontrollieren und die Vorgehensweise gut in Akten dokumentieren. Wenn die Wenn-Dann-Programme präzise bestimmt sind und sich nicht widersprechen, erspart sich die Organisation Reibungsverluste. Ein „voll entwickelter bürokratischer Mechanismus“, so das bekannte Diktum Max Webers, sei durch ihre „Präzision“, „Schnelligkeit“, „Aktenkundigkeit“, „Einheitlichkeit“, „straffe Unterordnung“ und „Ersparnis an Reibungen“ allen anderen Formen von Organisation weit überlegen.
Eine bürokratische Organisation funktioniere wie eine gut geölte Maschine. Wie diese könne auch eine Organisation aus präzise definierten Einzelteilen zusammengesetzt werden, die genau festgelegte Zwecke erfüllen. Wie bei einer Maschine greife in der Organisation ein Rad ins andere. Die Arbeit des Maschinenführers – man könnte auch sagen des „Managers“ – bestehe darin, das Räderwerk einzurichten, in Gang zu setzen und zu regulieren. Als weitere Vorteile erwähnt Max Weber die „Kontinuierlichkeit“ und die „Diskretion“ von Bürokratien.
Das ist ein Grund, weswegen das Hauptmerkmal von Bürokratien – die Entscheidung anhand von Wenn-Dann-Programmen – nicht nur als „Erfolgsrezept“ für Verwaltungen, sondern gerade auch für Unternehmen empfohlen wird. Die Vorteile von Sachlichkeit, Unpersönlichkeit und Berechenbarkeit könnten sich nicht nur „Behörden“, sondern auch „Betriebe“ zu Nutzen machen. Die ganz großen Unternehmen seien, so Weber, selbst „normalerweise unerreichte Muster“ bürokratischer Organisationen. Wer sich die Effizienzvorteile bürokratischer Regeln vor Augen führen will, muss sich nur die fast ausschließlich über Wenn‑Dann‑Programme geregelte Fertigung und Montage eines Autos anschauen.
Die Vorteile von Bürokratien finden ihren Ausdruck nicht nur in Bezug auf Präzision, Effizienz und Schnelligkeit in der Leistungserbringung von Organisationen, sondern bringen auch für die Bürger eines Staates Vorteile mit sich. Man kann mit guten Gründen davon ausgehen, dass es eine freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft nicht ohne eine funktionierende Bürokratie gibt. Die Möglichkeit, nachts ohne Angst durch die Straßen zu laufen, setzt eine gut funktionierende Polizei voraus. Die Option, Parteien zu wählen, basiert auf einer korrekten Registrierung der Wahlberechtigten, einer rechtzeitigen Verschickung von Wahlunterlagen und funktionierenden Mechanismen zur Verhinderung von Wahlbetrug. Nur durch die Bürokratie kann die Gleichbehandlung vor einer Verwaltung, einem Gericht oder der Polizei nach allgemein gültigen Regeln sichergestellt werden.
Vermutlich stimmt die Wahrnehmung, dass sich viele Verwaltungen mehr bürokratische Regeln geben als vergleichbar große Unternehmen. Das hängt aber nicht mit der Regelungswut von Beamten zusammen, sondern damit, dass sie als staatliche Instanzen anderen Rechtfertigungszwängen unterliegen. Wenn Gleichheit vor dem Gesetz hergestellt werden muss, die ordnungsgemäße Verwendung von Steuergeldern gesichert werden soll und Karrieren nicht von persönlichen Beziehungen abhängig gemacht werden können, bedeutet dies zwangsläufig mehr bürokratische Regeln als in einem Familienunternehmen, in dem die Gründerin deutlich weniger Rechenschaftspflichten hat. Man muss Bürokratie also immer in Kauf nehmen, wenn man in einem Rechtsstaat leben will, der die Gleichbehandlung seiner Bürger garantiert.
Die Gegenbegriffe zu einer konsequenten Anwendung von bürokratischen Regeln sind Nepotismus, Vetternwirtschaft und Korruption. Was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben, in der persönliche Beziehungen entscheidend sind, kann man in Nigeria, Kuba oder Russland erleben. Zwar existieren auch in diesen Ländern bürokratische Regeln, weil die Bürokratie zwangsläufig zu einem modernen Staat dazugehört, aber die Bürokratie stellt keinen Schutz der Bürger dar, sondern dient Mitarbeitern in der Verwaltung, der Polizei oder Armee dazu, sich persönliche Vorteile zu verschaffen.
Deswegen ist die Lesart von Kafkas Roman als eine Kritik an der Bürokratie viel zu simpel. Bei Kafka steht nicht die für Bürokratien typische unpersönliche Behandlung im Mittelpunkt, sondern gerade die persönliche Beziehung. Der dystopische Charakter in Kafkas Roman entsteht erst dadurch, dass die Beziehung zwischen Beamten und Antragsstellern nicht auf bürokratischen Regeln wie Rechtmäßigkeit, Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit basiert, sondern man erst durch Beziehungen, Netzwerke und Bestechung Chancen hat, irgendwie weiterzukommen.
Wenn die alltägliche Frustration über die Bürokratie zu groß wird, hilft es, sich Staaten vor Augen zu führen, in denen versucht wurde oder wird, ihre bürokratische Verwaltung zu zerlegen. Die Stoßrichtung der Bürokratiekritiker ist dabei immer die gleiche. Die Regierungsspitze regiert nicht über Gesetze, sondern setzt seine Maßnahmen durch eine Exekutivorder nach der anderen durch. Der Sturm aus einer Vielzahl von Entscheidungen lässt kaum die Möglichkeit für öffentliche Kritik und richterlicher Überprüfung. Um die Möglichkeiten der Verfassungs- und Verwaltungsgerichte zu blockieren, werden die Richterstellen nicht mehr primär nach Qualifikationen, sondern nach politischer Angepasstheit besetzt.
Regierungsangestellte werden nach willkürlichen Kriterien entlassen und Behörden mit kritischen Beamten ganz geschlossen, um durch eine Atmosphäre der Angst die Anpassungsbereitschaft an die neuen Verhältnisse sicherzustellen. Um Widerstände aus den Regionalregierungen oder Kommunalbehörden zu verhindern, werden diese schrittweise entmachtet und Entscheidungskompetenzen in der Zentralregierung gebündelt. Statt eines an Recht und Ordnung orientierten Staates dominiert in der politischen Entscheidungsfindung immer mehr ein improvisierender, erratischer, fast schon anarchistischer Entscheidungsstil. Der Prototyp einer solchen Gleichschaltung der Verwaltung ist der NS-Staat, an dessen Beispiel man die Aushöhlung zentraler bürokratischer Prinzipien wie durch ein Brennglas studieren kann.
Das Resultat dieser politisch gewollten Erosion bürokratischer Prinzipien ist ein hohes Maß der Verunsicherung, das bei den Mitarbeitern in der Verwaltung vorherrscht. Statt sich bei Verwaltungshandlungen an Gesetzen zu orientieren, wird der politische Wille der politischen Führung antizipiert und immer mehr zum Maßstab des praktischen Verwaltungshandelns erhoben. Weil durch die Aushöhlung bürokratischer Prinzipien, die Schließung und Gründung von Behörden und die zunehmende Politisierung der verbleibenden Verwaltung kaum noch klare Zuständigkeiten existieren, konkurrieren unterschiedliche Regierungsstellen zunehmend miteinander. Aus einer Bürokratie mit klaren Kompetenzzuteilungen entsteht eine Herrschaft der Vielen – eine Polykratie –, in der zentrale Verwaltungseinheiten, mächtige Wirtschaftsunternehmen, neu geschaffene Sonderbeauftragte und Parteigliederungen versuchen, ihren Einflussbereich auf Kosten der anderen auszuweiten. Diese Dynamik führt zu politischen Radikalisierungseffekten, weil alle versuchen, sich bei einem starken Führer mit besonders extremen Maßnahmen zu profilieren.
Auf den ersten Blick kann diese politisch gewollte Erosion bürokratischer Prinzipien als Prozess zu einem agileren, handlungsfähigeren Staat verstanden werden. Die Befreiung von hemmenden Zuständigkeitsbegrenzungen kann gerade an der Spitze von Organisationen enorme Initiativkraft freisetzen. Das Erreichen der vorgegebenen politischen Ziele ist wichtiger als die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Für die Erreichung ambitionierter Ziele können einschränkende bürokratische Regeln ignoriert und aufwendige Prüfverfahren ausgesetzt werden. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass die Effizienz des Staates dadurch aber erstaunlicherweise schrittweise nachlässt. Statt sich auf für alle verbindliche Wenn-Dann-Programme zu verlassen, muss die Vorgehensweise immer mehr improvisiert werden. Wenn die Mitarbeiter im Unklaren über die Zielrichtung sind, ist die Hierarchie immer mehr gefordert, situativ zu entscheiden. Die klare Auflösung der Zuständigkeiten führt dazu, dass immer mehr Energie für Abgrenzungskämpfe, Reviersicherungen und Expansionsbestrebungen verbraucht wird.
Besonders hoch sind jedoch die Kosten bei den Adressaten der Verwaltungsentscheidungen. Zwar können sich einzelne Personen durch wohlgefälliges Verhalten, eine übertriebene Darstellung politischer Unterstützung oder Geldzahlungen an einflussreiche Politiker Privilegien sichern, der große Teil der Bürger muss aber in Kauf nehmen, dass die Entscheidungen der Verwaltungen unberechenbar geworden sind. Nur Bürokratien können garantieren, dass staatliche Entscheidungen ohne partikularistische Bevorzugung einzelner Personen getroffen werden können. Wer die Idee eines Rechtsstaates, in der alle die gleichen Rechte und Pflichten haben, befürwortet, muss – so schwer es fallen mag – deswegen zwangsläufig auch „ja“ zur Bürokratie sagen.