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Larysa Denysenko: "Alle meine Freunde"
Echte Liebe macht keinen Unterschied

In der Ukraine bekam die Autorin und Menschenrechtsaktivistin Larysa Denysenko einigen Gegenwind für ihr Kinderbuch "Alle meine Freunde". Gerade ist es auf Deutsch erschienen und erzählt von vielen verschiedene Familienmodellen.

Von Maria Riederer | 15.10.2022
Larysa Denysenko, Masha Foya (Ill.): "Alle meine Freunde"
Zu sehen ist das Buchcover und eine Illustration aus dem Buch, die die Hauptfigur mit ihrer Oma beim Videostreamen mit den Eltern zeigt
Larysa Denysenko und Masha Foya erzählen von verschiedenen Lebenswirklichkeiten ukrainischer Kinder (Buchcover: Rowohlt Verlag / Illustration: Masha Foya - Larysa Denysenko Alle meine Freunde)
"Ich heiße Maja. Ich gehe in die vierte Klasse. Wir sind 17 Kinder in meiner Klasse. Meistens verstehen wir uns super. Aber manchmal streiten wir uns auch. Und zanken. Dann machen wir wieder Witze, oder wir motzen und schmollen."
Maja ist die Ich-Erzählerin, und um „alle ihre Freunde“, so wie es der Titel ankündigt, geht es in dem Buch. Ihre Freunde haben klingende Namen wie Aksana, Danylo, Solomia, Tymko oder Nazar. Jedes dieser Kinder hat ein ganz besonderes Elternhaus, deshalb bekommt jedes Kind ein eigenes Kapitel.
"Nastja und Nazar sind zusammen in die erste Klasse gekommen. Seit ihrer Geburt sind sie schon befreundet. Sie sind Cousins ersten Grades, und sie wohnen im selben Haus, mit ihrer Oma, Nastjas Mutter und Nazars Mutter. Die beiden Mütter sind Schwestern. Nastja und Nazar sehen sich aber gar nicht ähnlich. Sie haben das Aussehen ihrer Väter geerbt. Ihre Mütter und ihre Oma erzählen aber nie etwas über ihre Väter."

Ein lesbisches Elternpaar

Die Autorin und Menschenrechtsaktivistin Larysa Denysenko erzählt von der Vielfalt an Umständen und Möglichkeiten, in denen Kinder aufwachsen. Die Verlegerin Lilija Omelianenko hat die Aussagen der Autorin für uns ins Englische übersetzt:
"Ich arbeite in Kiew als Anwältin für Kinderrechte und gegen Diskriminierung. Deshalb ist das Buch eine Einladung zum Dialog, aber nicht nur in der Sprache der Menschenrechtler, sondern in der Sprache der Kinder."
„Maja und ihre Mütter“ – der aus dem Ukrainischen übersetzte Originaltitel – vermittelt den Eindruck, dass es in Larysa Denysenkos Buch in erster Linie um ein Mädchen mit einem lesbischen Elternpaar geht. Maja hat zwei Mütter, das ist richtig, und einen anonymen biologischen Vater. Bevor sie aber - ganz hinten im Buch, in einem überraschend kurzen Kapitel – ihre kleine Familie vorstellt, erzählt sie sechzehn andere Geschichten.

Vielfalt der Lebensweisen

Da gibt es Sofia, deren Vater im Krieg verschleppt wurde und verschwunden blieb. Andere Kinder mit alleinerziehenden Elternteilen sind Halbwaisen oder Scheidungskinder. Eltern arbeiten im Ausland, so dass Kinder von den Großeltern versorgt werden. Ein Kind wächst in einer Pflegefamilie auf, ein anderes wurde adoptiert. Und so weiter. Die fantasievollen Bilder von Masha Foya illustrieren die Vielfarbigkeit der Lebensweisen. Ein schönes Buch über alles, was es eben gibt. Ohne Propaganda für homosexuelle Elternschaft, wie Larysa Denysenko betont.
"Das Buch wurde in Kiew wunderbar angenommen. Aber in Lwiw, vor der Präsentation des Buches im Buchforum, behauptete plötzlich eine radikale Gruppe in einem offenen Brief, das Buch verführe die Kinder zur Homosexualität. Es gab aggressive Kampagnen gegen mich, den Verlag und das Buchforum."

Diskussion unter Polizeischutz

Als die Anfeindungen immer bedrohlicher wurden, entschieden Denysenko und die Veranstalter, die Lesung zum Schutz der angemeldeten Kinder abzusagen. Eine Diskussion für Erwachsene wurde unter Polizeischutz abgehalten. Anfeindungen und Gewalt gegen Vertreter der LGBTQ-Community seien in der Ukraine keine Seltenheit, sagt die Autorin. Dabei verbietet dort kein Gesetz, Homosexualität öffentlich zu thematisieren oder zu leben.
„,Maja und ihre Mütter' war 2017 das erste Kinderbuch in der Ukraine, in dem überhaupt erwähnt wird, dass ein Kind auch mit zwei Müttern groß werden kann. Es ist offenbar schwer zu akzeptieren, dass Menschen verschieden sind. In der letzten Zeit haben Umfragen aber ergeben, dass die jungen Ukrainer - besonders Mädchen und Frauen - viel toleranter sind als ihre Eltern."
"Jeva versteht sich sehr gut mit ihrem Stiefvater. Er hat sie sehr lieb. Trotzdem macht sich Jeva Sorgen und fragt sich, ob er sie immer noch so lieb haben wird, wenn ihre Mama ihr neues Baby bekommt. Denn dieses Baby wird dann seine echte Tochter sein. Andererseits hat uns Frau Yuliya gesagt, dass echte Liebe keinen Unterschied zwischen Kindern macht. Das glaube ich auch."

Homosexualität im Kinderbuch erregt Anstoß

Die Verlegerin Lilija Omelianenko lebt und arbeitet zurzeit in Bratislava, um ihre Kinder vor dem Krieg zu schützen. Das Programm des ukrainischen Verlags Vydavnytstvo ist – mit eigenen und vielen Lizenztiteln – mutig und lässt kein schwieriges Thema aus.
„,Maja and her mums' war eines unserer ersten Bücher, und wir waren überrascht über die heftigen Reaktionen. Unsere Bücher zeigen immer mit dem Finger auf schmerzhafte Punkte der ukrainischen – und jeder – Gesellschaft. Wir haben einen Comic über häusliche Gewalt von einem polnischen Künstler bei uns herausgebracht. Darauf haben wir Reaktionen vor allem von Ehemännern bekommen, die sagten, wir bräuchten doch solche Bücher nicht zu veröffentlichen. Oder das Thema Tod im Kinderbuch. Auf dem ukrainischen Kinderbuchmarkt eher eine Seltenheit. Dazu hieß es dann, man solle den Kindern solche traurigen Bücher ersparen und lieber heitere Geschichten erzählen."
Aber der Verlag – so sagt Lilija Omelianenko, habe nicht nur viel Kritik, sondern auch viel Unterstützung erfahren. Deshalb machen sie und ihre Kolleginnen mutig weiter mit kontroversen Themen. Mit „Heartstopper“, dem Buch der Amerikanerin Alice Oseman zur Netflix-Serie über zwei junge, schwule Männer, ist auch das Thema Homosexualität wieder im Programm des Verlages.

Hoffnung auf Veränderungen in der ukrainischen Gesellschaft

"Und dann werden wir ja sehen, wie die ukrainische Gesellschaft sechs Jahre nach dem Erscheinen von ,Maja and her mums' auf diesen Titel reagieren wird."
„Alle meine Freunde“, die jetzt erschienene deutsche Ausgabe von „Maja und ihre Mütter“, hat Aufmerksamkeit verdient. Nicht wegen des Skandals im Ursprungsland, sondern, weil das Buch in künstlerisch hochwertiger Weise von einem friedlichen Zusammenleben zwischen Kindern und Erwachsenen erzählt.
Larysa Denysenko und Masha Foya (Ill.): „Alle meine Freunde“
Aus dem Englischen von Mila Piredda
Verlag Rowohlt Rotfuchs, Hamburg. 72 Seiten, 15 Euro, ab 7 Jahren.